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Später Lohn für lebenslanges Forschen
ОглавлениеNein, das ist nicht der Ort, den er für eine Feierlichkeit zu seinen Ehren ausgewählt hätte. Dieser Bau aus Glas und Beton ist ihm fremd. Der ganze weitläufig auf den Milchbuck gepflanzte Campus der Universität Irchel ist es. Auch wenn grosse Blumenbouquets das Rednerpult und die Orchesterbühne im grossen Hörsaal schmücken, richtig wohlfühlen kann Jakob Zollinger sich hier nicht. Er ist inmitten der Honoratioren der Philosophischen Fakultät in den vollen Saal einmarschiert, streng gemäss dem Protokoll der Universität Zürich – es ist ihr 170. Dies academicus. Er sitzt jetzt in der ersten Reihe seitlich des Rednerpults neben dem Dekan und den weiteren Personen, die von der Philosophischen Fakultät geehrt werden.
«Auf in den Kampf», hat er am Morgen zu Hause in der Chindismüli in Ottikon-Gossau scherzhaft zu seiner Frau Elisabeth – seinem Bethli – gesagt. Sie sitzt auf einem reservierten Platz etwas weiter hinten, die beiden Töchter Eva und Lisa, der Sohn Röbi und weitere Familienangehörige und Freunde irgendwo in den steil aufsteigenden Reihen des Auditorium maximum. Elisabeth hat sich für den besonderen Tag ein neues, dunkelrotes Kleid gekauft. Jetzt stellt die Bauerntochter aus Schlatt am Schauenberg erschrocken fest, dass die geladenen Damen an diesem Ehrentag der Universität Zürich eigentlich nur Schwarz tragen, und sie fühlt sich ein bisschen deplatziert. Das Akademische Orchester spielt einen Satz aus einer Schumann-Sinfonie. Professor Udo Fries hält eine Vorlesung zur Corpuslinguistik als Werkzeug zur Beschreibung von Sprachvarianten. Sprache, das ist ein Medium, das Jakob Zollinger ein Leben lang geliebt, gepflegt und genutzt hat: Neben wissenschaftlichen Aufsätzen und Büchern hat er Abertausende von Tagebuchseiten und Zeitungsartikeln damit gestaltet, immer um eine präzise und anschauliche Ausdrucksweise bemüht.
Jetzt hält Rektor Hans Weder das Mikrofon in der Hand. Er hebt zu einer zehnminütigen Eloge auf Ernst Buschor an, den abtretenden Bildungsdirektor des Kantons Zürich. Jakob Zollinger spürt ein Würgen im Hals. Das ist schwere Kost am Tag, an dem er in wenigen Minuten den Ehrendoktortitel der Universität Zürich erhalten wird: Ausgerechnet Ernst Buschor, der Künder von moderner Schule und New Public Management, der ihm die letzten Jahre in seinem Lehrerberuf so vergällt hat, wird da geehrt. Von Autonomie, Flexibilität, flacher Hierarchie spricht der Rektor, von einer etablierten neuen Diskussionskultur. «Er [Buschor] hat uns auf die Finger und zu uns geschaut», sagt Weder. Den ersten Teil des Satzes würde Ex-Primarlehrer Zollinger unterschreiben, den zweiten eher nicht. Eigentlich hat Jakob Zollinger den Erziehungsdirektor Buschor nicht mehr als aktiver Lehrer erlebt. Zollinger quittierte den Schuldienst 1993, Ernst Buschor wurde erst 1995 Erziehungsdirektor. Aber der Professor aus der St. Galler Wirtschaftsschmiede hatte schon als Finanzdirektor seine politische Wirkung entfaltet. Doch dann ist es überstanden: Ernst Buschor ist jetzt ständiger Ehrengast der Universität Zürich, Jakob Zollinger dagegen nur Gast an diesem einen Tag. Ihre Wege werden sich also wohl kaum so bald wieder kreuzen.
Acht neue Ehrendoktoren ernennen die verschiedenen Fakultäten an diesem Samstagmorgen Ende April 2003. Jakob Zollinger kommt als Letzter an die Reihe, nach der Galeristin und Kunstsammlerin Angela Rosengart aus Luzern und dem Musikforscher Ludwig Finscher aus Wolfenbüttel. Ernst und ruhig hört er sich die ehrenden Worte von Dekan Franz Zelger an:
«Die Philosophische Fakultät der Universität Zürich verleiht eine Ehrenpromotion an Herrn Jakob Zollinger. Herr Zollinger, Primarlehrer im Ruhestand, hat als Erforscher und Vermittler der Regionalkultur des Zürcher Oberlandes nicht nur in der Öffentlichkeit allgemein, sondern auch wissenschaftlich vielseitige Anerkennung und hohe Wertschätzung gefunden. Einen Schwerpunkt seiner bis heute weitergeführten Forschungstätigkeit bildet das Bauernhaus. Der kürzlich erschienene Band Die Bauernhäuser des Kantons Zürich: Das Zürcher Oberland wäre ohne seine jahrzehntelange Erhebungsund Deutungsarbeit nicht möglich gewesen. Verschiedene historisch bedeutsame Bauten im Zürcher Oberland sind auf Jakob Zollingers Initiative hin vor dem Abbruch bewahrt worden. Einen zweiten Bereich in Herrn Zollingers Wirken bilden seine Untersuchungen der Hochmoore im Zürcher Oberland, vor allem im Hinblick auf die Geschichte ihrer Nutzung und ihrer Integration in den Siedlungsund Wirtschaftsraum. Das Buch Zürcher Oberländer Urlandschaft – eine Natur- und Kulturgeschichte enthält auch bemerkenswerte Beiträge zur Erforschung der Orts- und Flurnamen. Die Verbindung verschiedener akademischer Disziplinen ergibt sich für Jakob Zollinger aus der Wahl seiner regionalen Themen. So öffnet sein Buch über Leben und Werk von Jakob Stutz auch den Zugang zur Erzählforschung. Herrn Zollingers Arbeiten sind wesentlich mitgeprägt durch seine gestalterischen Fähigkeiten. Hunderte von Zeichnungen ergänzen in minutiöser Darstellungstechnik seine Dokumentationen, und viele davon illustrieren seine Bücher und Zeitungsartikel in genauer Abstimmung von Bild und Text. Jakob Zollingers Wirken als Lehrer und Forscher kann schliesslich sowohl als fruchtbare Verbindung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft als auch als exemplarischer Beitrag zum Dialog zwischen Universität und Region gewürdigt werden.»
Zwei Ehrendoktorinnen und sechs Ehrendoktoren ernennt die Universität Zürich 2003. Rektor Hans Weder steht in der Mitte, Jakob Zollinger in der ersten Reihe ganz rechts.
Erst beim Händedruck lächelt er und geniesst den tosenden Applaus des Publikums. Dann geht Jakob Zollinger – die grosse Rolle mit der Urkunde unter dem Arm – an seinen Platz zurück. Dvořáks «Slawischer Tanz», interpretiert vom Pianisten Oliver Schnyder, beendet den formellen Teil des Anlasses. Jetzt wechselt die Gesellschaft in den grossen Lichthof zum Bankett für gut 500 Gäste. Die frisch dekorierten Ehrendoktoren haben sich schon vor dem Festakt im Irchelpark mit Rektor Weder für die Presse ablichten lassen. Beim Bankett folgt auf marinierte Antipasti mit Spargelspitzen, grünem Olivenöl und Rosenessig ein Schweinskarreebraten mit Bärlauchfüllung, neuen Kartoffeln und Frühlingsgemüse. Pannacotta mit Löwenzahnhonig und Erdbeeren beschliesst das Festessen. Wäre es nach dem Ehrendoktor aus dem Zürcher Oberland gegangen, hätte ein Schüblig mit Kartoffelsalat vollauf genügt. Den Räuschling und den Klevner vom Stäfner Lattenberg aber geniesst er uneingeschränkt.
Die Aufregung in der Ottiker Chindismüli war gross, als man bei der Rückkehr aus den Skiferien am Heinzenberg Anfang März in der Post den kurzen Brief des Rektorats entdeckte. Ehrendoktor der Universität Zürich sollte Jakob Zollinger werden, er möge sich den Samstag, 26.April, dafür freihalten. Rasch war ein Kärtchen aus eigener Produktion mit einem Winteraquarell von der Höchhand hervorgeholt und das überraschende Geschenk aus Zürich verdankt:
«Sehr geehrter Herr Professor Weder,
eben heimgekehrt aus den Ferien, erreichte mich Ihre Post … Zuerst sprachlos, ungläubig, fast erschlagen. Nie hätte ich es gewagt, mir diese Ehrung nur zu erträumen, obschon ich aus dem Kreise meiner hiesigen Mitbürger immer wieder zu hören bekam: ‹Du chunsch emol de Tokter über für dini Aarbet …›
Niemals habe ich diese Ehre, wie sie meinen lieben Freunden Peter Ziegler, Heinrich Krebser und Heinrich Hedinger aus ähnlichen Gründen zukam, erwartet. Umso beglückter bin ich über Ihre Mitteilung, die meine Frau – bis der Brief vor mir lag – getreulich verschwiegen hatte. Zu viel der Ehre! Bin ich doch «nur» aus lauterer Freude und innerem Antrieb, seit meiner Jugendzeit, meinem Forschungsdrang auf historisch-volkskundlichem und naturwissenschaftlichem Gebiet gefolgt. Immer noch sprachlos, danke ich Ihnen für diese grosse Anerkennung, die mir neuen Antrieb für weitere Tätigkeiten gibt.
Ihr Jakob Zollinger»
Tochter Eva Zollinger weiss: «Der Dr. h. c. bedeutete unserem Vater viel. Spät bekam er jetzt auch noch Anerkennung von Fachgremien.» Und Sohn Röbi erinnert sich, dass der Ehrendoktor wochenlang das dominierende Thema in Ottikon war. Die Ehrung habe seinem Vater eine grosse Genugtuung verschafft. Zurückhaltender hat sich Fritz Zollinger zur Auszeichnung seines Bruder geäussert: «Der späte Ehrendoktor dürfte für ihn stille Genugtuung gewesen sein, mehr nicht. Da hat die Erziehung des Vaters nachgewirkt: Man verhält sich zurückhaltend und bescheiden.» Bestätigung findet die Sicht des Bruders in den Tagebüchern Jakob Zollingers. Er hat davon über Jahrzehnte zwei parallel geführt. In einem kleinformatigen Kalender notierte er das Tagesgeschehen. In den etwas grösseren Büchern schwelgte er in Text und Zeichnungen oder Aquarellen in Erinnerungen an die ihm so wichtigen Naturerlebnisse – Stimmungsbilder nannte er sie. In beiden Tagebüchern wird der Ehrendoktor mit nur je einem knappen Satz erwähnt.
Das Ehepaar Zollinger rätselt monatelang, wie es zu dieser Doktorwürde gekommen ist. Wer nur hat das eingefädelt? Denn von selbst geschieht so etwas nicht, sind sich die beiden einig. Bekannt ist, dass der Volkskundler Arno Niederer ein grosser Bewunderer von Zollingers Arbeiten gewesen ist. Ihm hat Heinz Lippuner, Wetziker Kantonsschullehrer aus dem Grüt und Privatdozent an der Universität, Ende der 1990er-Jahre erstmals die Idee eines Ehrendoktors Zollinger gesteckt. Doch dann verstirbt Niederer, und Lippuner verlässt altersbedingt die Universität. Er erzählt seinem Nachfolger in der Vereinigung der Privatdozenten, Ruedi Schwarzenbach, dem Rektor der Wetziker Kantonsschule, jedoch von dieser Idee. Die Privatdozenten schlagen am Ende die Promotion vor, und die zuständige Prüfungskommission kommt zu einem positiven Ergebnis. Jakob Zollinger hat diese Geschichte nicht mehr erfahren.
Aber ist er von der späten Ehrung tatsächlich so sehr überrascht worden, wie er in seinem Dankesbrief an Professor Weder schreibt? Da sind doch Zweifel angebracht. Einerseits verweist er auf wiederholte Anspielungen in seinem Bekanntenkreis. Das Thema muss also immer wieder einmal aufgegriffen worden sein. Und dann ist er in seinem kurzen Brief an Rektor Weder auch nicht um die Nennung von Ehrendoktor-Kollegen unter den Lokalhistorikern verlegen: Heinrich Hedinger aus dem Zürcher Unterland, Heinrich Krebser aus Wald und der Wädenswiler Peter Ziegler. In diese Reihe passt der Name Jakob Zollinger fraglos ausgezeichnet, das muss auch ihm klar gewesen sein.
Wie dem auch sei – es finden sich zahlreiche Personen, die diese späte Ehrung Jakob Zollingers für sein lebenslanges Forschen gutheissen. Für Ruedi Schwarzenbach ist Zollinger ein beispielhafter Forscher auf dem Land, der aus persönlichem Interesse und ohne akademischen Hintergrund wichtige Forschungsarbeiten betrieben hat. Heinz Lippuner sagt, für seine tiefschürfenden Forschungen habe Zollinger den Ehrendoktor mehr als verdient. Ein schönes Beispiel für das grosse Echo, das die Ernennung ausgelöst hat, ist der Gratulationsbrief, den ihm der Grütner Hausarzt Christoph Meili im Sommer 2003 geschrieben hat:
«Lieber Jakob
Die Würdigung Deines Lebenswerkes mit dem Ehrendoktortitel freut uns ausserordentlich. Deshalb vor allem, weil er die Anerkennung einer Leistung bedeutet, die nicht dem Ehrgeiz des Karrieredenkens entsprungen ist. Es ist ein beseeltes Werk, so auch eine Gnade, es schaffen zu müssen und zu können. Wir glauben deshalb in Deinem Sinne zu denken, wenn wir meinen, dass für Dich die grösste Genugtuung darin besteht, dass die «Gesellschaft» den kulturschaffenden und -erhaltenden Wert deiner Arbeit beachtet und damit Zeugnis ablegt von einem immanenten Verantwortungsgefühl.
Wir wünschen Dir noch für lange Zeit die Kraft, auf Deinem Weg weiterzugehen.
Mit herzlicher Gratulation und lieben Grüssen Ch. und Ch. Meili»
Jakob Zollinger bezeichnet in seiner Antwort das Glückwunschschreiben des Ehepaars Meili als die «treffendste und zugleich gehaltvollste und tiefsinnigste von all den vielen Gratulationen», die er habe entgegennehmen dürfen.
In einer Ecke des Estrichs ihres Müllerhauses in der Ottiker Chindismüli findet Elisabeth Zollinger-Anliker 15 Jahre nach dem Ehrentag an der Universität Zürich nach einigem Stöbern eine prall gefüllte Schuhschachtel voller Glückwunschschreiben zum Ehrendoktor. Gut 200 sind es, allesamt in zollingerschem Sammeleifer aufbewahrt. Viele von ihnen hat Jakob Zollinger schriftlich verdankt und beantwortet. Seminarkollegen, Jugendfreunde, Lehrerinnen und Lehrer, einzelne Schüler, Nachbarn und viele mehr drücken ihre Freude aus über den wohlverdienten Ehrentitel. Manche freut besonders, dass ein Nichtakademiker zum Zuge gekommen ist. Peter Surbeck, Ustermer Sekundarlehrer und Historiker, drückt es treffend aus: «Die Würde eines Dr. h. c. war meines Erachtens lange Zeit in dem Sinne zweifelhaft, als nur bereits gekrönten Häuptern eine weitere Krone aufgesetzt wurde. […] Dabei war dieser Ehrentitel in der Vergangenheit sicher für Nichtakademiker gedacht, die aus bescheidenen Anfängen heraus Grosses geschaffen haben. Und das ist bei dir der Fall!» In manchem Schreiben kommt der Stolz zum Ausdruck, dass ein Oberländer aus einfachen Verhältnissen berücksichtigt worden ist – und in der Ehrung des Kollegen, des Mitbürgers, des Vereinsmitglieds sonnt man sich auch gern ein wenig. Das betonen Glückwunschschreiben des Stadtrats von Uster, des Gemeinderats Gossau, der Antiquarischen Gesellschaft Wetzikon, der Sektion Bachtel des Schweizerischen Alpen-Clubs. Ja, selbst aus Kalifornien liegt ein Glückwunschschreiben vor. Der Swiss Athletic Club in San Francisco gratuliert – stellvertretend – Jakob Zollingers Bruder Emil, genannt Migg, zur Ehrendoktorwürde seines Bruders in der fernen Heimat. Auch ein ehemaliger Schüler Zollingers möchte sich vom Ruhm eine kleine Scheibe abschneiden. Auf seiner Gratulationskarte bemerkt er trocken, wenn ihn künftig jemand frage, wo in Herschmettlen er denn aufgewachsen sei, dann werde er nicht mehr sagen, im Flarz Zollinger/Girschweiler gegenüber der Weinschenke, sondern ganz einfach: «Im Tokterhuus.»
Worin aber liegt die besondere Leistung Jakob Zollingers als Forscher? Die Laudatio an der Universität Irchel deutet einiges an: Er hat ein Leben lang seine Umgebung in der historischen Dimension erforscht: Das Entstehen der Drumlinlandschaft fasziniert schon den Knaben in Herschmettlen, ebenso wach ist sein Interesse für die Pflanzen und Tiere seiner Umgebung. Sein besonderes Augenmerk gilt den alten Wirtschaftsweisen, den Flurnamen, den Bauernhäusern und dem Leben darin. Jahrelang hat er Häuser besichtigt, aufgenommen, gezeichnet, dokumentiert und katalogisiert, zum Teil nebenberuflich, drei Mal auch während halb- oder ganzjähriger Urlaubsphasen vom Lehrerberuf. Als es dann aber gilt, sein Buch über das Zürcher Oberland abzuschliessen, gewähren ihm die Schulbehörden keinen weiteren Urlaub mehr, und andere müssen das Werk vollenden, das er von langer Hand und mit reichem Material vorbereitet hat.
Ein ganz und gar ungewöhnliches Kleinod ist seine Herschmettler Chronik. Darin hat er zwischen 1949 und 1964 – also im Alter von 18 bis 33 Jahren – die Entwicklung seines Heimatdorfes zuoberst im Glatttal in 19 handgeschriebenen, kleinformatigen Heften dokumentiert. Sie sind mit vielen Skizzen, Tabellen und Zeichnungen illustriert – wahrscheinlich ist Herschmettlen die besterforschte Kleinsiedlung weit und breit. Die Chronik enthält Informationen zur Geologie und Bodennutzung, zu Einwohnern, zur Wasserversorgung, zum Schulwesen und zu Kirchlichem. Neben Anekdoten aus dem Dorf wird darin auch der Dorfbrand von 1870 und seine Folgen geschildert. Jakob Zollinger hat seine Herschmettler Chronik mannigfach ausgewertet. So bezieht eine ganze Anzahl seiner gesamthaft 75 umfangreichen Beiträge im Heimatspiegel, der historisch-kulturellen Monatsbeilage des Zürcher Oberländers, ihren Stoff aus der Chronik. Die Vielfalt der Themen lässt sich an einigen der Titel ablesen: «Mannhafte Wächter im Blumengarten der Töchter – die Geschichte des Nachtheuelvereins Herschmettlen», «Ein Haus erzählt – zum Grossbrand vom 20.Juli 1996», «Kein Platz für Tante Emma – zur Schliessung des Dorfladens in Herschmettlen», «Grenzstreit am Gerbel – Sonnen- und Schattenseiten eines Oberländer Hügels», «Eine Oberländer Kleinsennerei – als es noch Fuchsrütlerkäse gab».
Eine eigene Qualität erhalten Zollingers Publikationen durch seine Illustrationen. Mit Recht wird in der Laudatio der Universität ihr besonderer Charme hervorgehoben, den sie dadurch erhalten, dass der Autor auch ihr Illustrator ist und sie so eigentliche Gesamtkunstwerke darstellen. Ob mit dem Bleistift, mit Farbstiften, Tuschefeder, Ölkreide oder Wasserfarben – Zollingers zeichnerisches Talent ist offensichtlich, seine Gabe des genauen Hinsehens ebenso. Und dann sind da seine berühmten Fragen. Schon im Jünglingsalter hat er einen Fragebogen mit 65 Fragen entwickelt, den er dann mit Dutzenden vorwiegend älteren Frauen und Männern aus seiner Umgebung systematisch durchgeht. Später wechselt er zu Tonbandinterviews mit betagten Gewährsleuten. Der Volkskundler Richard Weiss hat sich schon beim ersten Kontakt erstaunt über die innovative Forschungsmethode Zollingers gezeigt. Er sei ein früher Repräsentant des Forschungsgrundsatzes «Grabe, wo du stehst» und der Oral History, der Geschichte, die aus mündlichen Erzählungen geschrieben wird. «Zollinger betrieb Feldforschung, als die Studierten an der Uni noch mehrheitlich in Büchern blätterten» stand in einem Zollinger-Porträt im Tages-Anzeiger.
Stoff und Themen gibt es also genug, um in den folgenden Kapiteln den Werdegang Jakob Zollingers nachzuzeichnen. Zumal da auch noch vom Kleinbauernbub aus einer religiösen Familie, vom erfolgreichen und vom leidenden Schüler, vom Lehrer, vom Erzähler, vom politischen Kämpfer ganz eigener Art, vom Ehemann, vom Vater und vom Lebemann, der er zeitweise auch war, zu berichten ist.