Читать книгу Der verschwundene Engel - Heinz Janisch - Страница 7

Оглавление

Herr Jaromir schüttelte zweifelnd den Kopf. „Die Diamanten scheinen das einzig Wertvolle zu sein, das gestohlen wurde.“

„Ich fürchte, da muss ich widersprechen“, sagte Lord Huber. „Sie ahnen sicher, weshalb ich einen Zusammenhang vermute bei diesen drei Fällen?“ „Wegen der Schwimmreifen?“

„Sie sagen es. Wegen der Schwimmreifen. Das ist ja auch der Grund dafür, dass die Journalisten die Diebstähle überhaupt erwähnen.“

Herr Jaromir seufzte. „Schwimmreifen an einem Tatort! Komische Sache! In allen drei Fällen wurde etwas gestohlen – und jedes Mal wurde ein Schwimmreifen zurückgelassen. An der Wand im Palazzo, im Museum in Rom – und im Swimmingpool des Gartens, in dem ein Engel einen Flügel verlor. Welcher Dieb macht sich die Mühe, mit einem Schwimmreifen zum Tatort zu kommen? Und das sogar drei Mal? Kann das nicht auch nur ein kleiner Spaß sein, a little joke?“ „Vielleicht. Aber ich nehme ihn sehr ernst, diesen Scherz. Jemand spielt mit den Ermittlern, und ich – für meinen Teil –, ich spiele gerne! Diese drei Schwimmreifen haben eine Bedeutung, da bin ich mir sicher! Damit hat uns jemand ein Zeichen geschickt.“

„Ein durch und durch ungewöhnliches auf alle Fälle“, sagte Herr Jaromir.

Lord Huber sah aus dem Fenster. „Es wird Zeit!

Wir sollten uns bereit zum Aussteigen machen.

Wir sind gleich in Venedig.“

Als sie ein paar Minuten später aus der Ankunftshalle des Bahnhofs Santa Lucia in Venedig traten, blieben sie überwältigt stehen.

„Venedig“, sagte Lord Huber ergriffen.

„Stadt der Kanäle und Brücken“, sagte Herr Jaromir leise. „Und der tausend Treppen, wie ich sehe.“ „Treppen und Touristen – davon gibt es in Venedig mehr als genug“, sagte Lord Huber. Er hob Herrn Jaromir vorsichtig in die Höhe.

„Trotzdem ist Venedig eine der schönsten Städte der Welt. Ein verzauberter Platz. Und wir werden es besser haben als andere. Wir werden mit dem Motorboot abgeholt und zum Lido gebracht. Sie müssen also nicht durch enge Gassen laufen und über tausend Treppen steigen. Wir werden auf dem Lido wohnen, dieser herrlichen kleinen Insel, die so nahe bei der Stadt liegt. Da gibt es einen wunderbaren Strand, freien Blick aufs Meer – und viel Platz zum Durchatmen.“

Lord Huber hob seinen schwarzen Gehstock und drückte auf einen winzigen Knopf seitlich am silbernen Griff. Dann sprach er ein paar Worte und hielt den Stock kurz ans Ohr.

Herr Jaromir hörte ein Knistern und eine ferne, leise Stimme.

„Wunderbar“, sagte Lord Huber und marschierte los, mit Herrn Jaromir in der einen und seinem Stock in der anderen Hand.

Herr Jaromir wusste längst, dass im Stock von Lord Huber ein Telefon, ein Funkgerät, eine Überwachungskamera, eine Lupe und andere Überraschungen verborgen waren. Freunde von Scotland Yard hatten Lord Huber den Stock vor vielen Jahren geschenkt, nachdem er einige komplizierte Fälle in geheimer Mission lösen konnte. Seitdem war der Stock überaus hilfreich gewesen.

Herr Jaromir erinnerte sich gut an ihren ersten gemeinsamen Fall. Da hatte Lord Huber mit Hilfe des eingebauten Mikrofons in seinem Stock einen raffinierten Juwelen-Diebstahl in einem hoch in den Alpen gelegenen Kurhotel aufklären können. (* Herr Jaromir und die gestohlenen Juwelen). Auf dem Rücken trug Lord Huber einen kleinen grünen Rucksack. Darin war ihr ganzes Gepäck für die Reise.

„Zwei Tage in Venedig, drei Tage in Rom – dann sollte der Fall gelöst sein“, hatte Lord Huber bei der Abfahrt in Wien gesagt. Dort konnten sie ihren zweiten gemeinsamen Fall lösen. (* Herr Jaromir und der Meisterdieb).

Nun hatte sie ihr drittes gemeinsames Abenteuer nach Italien geführt.

„Dort steht unser Taxi“, sagte Lord Huber und deutete mit dem Stock auf ein elegantes Motorboot, das ein wenig abseits stand.

Ein Mann – ganz in Weiß gekleidet und mit einer blauen Kapitänsmütze auf dem Kopf – sprang aus dem Boot und begrüßte sie freundlich.

„Buongiorno, signori!“, rief er vergnügt. „Good morning!“

Herr Jaromir kam der Klang der Stimme bekannt vor. Er schaute neugierig auf das Gesicht des Mannes, das halb unter der Mütze verborgen war. „Ferdinand!“, rief er überrascht. „Wie kommen Sie nach Venedig! Sie waren doch … eben … noch in Wien!“

„So wie Sie, lieber Herr Jaromir“, sagte Ferdinand.

„Sie haben den Nachtzug genommen. Ich bin schon gestern mit dem Flugzeug gekommen, um alles vorzubereiten. Mister Gordon war so freundlich, mir dieses Boot zur Verfügung zu stellen.“

„Vielen Dank fürs Abholen, alter Freund“, sagte Lord Huber. „Das erinnert mich an schöne, gemeinsame Tage bei Scotland Yard. Kannst du dich noch an den Kunstdieb von Venedig erinnern, der mit seinen Schätzen seelenruhig in der Gondel spazieren fuhr?“

„Wie könnte ich ihn vergessen!“, sagte Ferdinand und half den beiden an Bord.

„Ich werde Sie ein wenig festhalten“, sagte Lord

Huber zu Herrn Jaromir. „Ferdinand ist ein rasanter Fahrer.“

Kaum hatte er den Satz gesagt, hob es das Motorboot auch schon kurz in die Höhe. Dann raste es mit großer Geschwindigkeit übers Wasser, immer wieder schlug es hart auf den Wellen auf. „Hilfe! Ich werde seekrank“, rief Herr Jaromir, in dessen Kopf sich plötzlich alles drehte. Lord Huber klopfte Ferdinand mit seinem Stock auf die Schulter und zeigte auf Herrn Jaromir. Sofort verlangsamte Ferdinand das Tempo. Das Boot lag jetzt ruhig auf dem Wasser und glitt langsam dahin.

„Danke“, sagte Herr Jaromir. „Ich fühle mich schon besser. Also, wie war das mit den Kunstschätzen in der Gondel?“

Er schaute auf die schwarzen Gondeln, die nahe an den kleinen und großen Touristen- und Frachtbooten vorbeiglitten.

„Die fahren doch viel zu langsam“, überlegte Herr Jaromir. „Und sie sind viel zu auffällig.“ „Nicht, wenn man Gondoliere ist“, sagte Lord Huber. „Der Mann schaukelte den ganzen Tag mit seiner geschmückten Gondel in Venedig herum. Jeder kannte ihn. Niemand wusste, dass sich in einer Wand seiner Gondel ein raffiniertes Versteck befand. Jemand warf ihm die gestohlenen Sachen aus einem Fenster zu. Er versteckte sie in der Gondel und fuhr damit auf dem Canale Grande auf und ab, bis er die Beute in Ruhe weitergeben oder verkaufen konnte.“

„Und wie wurde er geschnappt?“

„Ferdinand war – mit Genehmigung der Polizei – eine Woche lang als Gondoliere verkleidet unterwegs, bis er ihn auf frischer Tat ertappte, beim Fangen einer wertvollen Halskette. Ich fand dann das Versteck in der Gondel.“

Herr Jaromir sah dem Treiben auf den Kanälen zu. „Könnte das bei unserem Engel mit den Diamanten auch so gewesen sein? Ein Wurf aus dem Fenster, zu einem Komplizen in einem Boot?“ „Leider nicht“, sagte Lord Huber. „Ich habe mich sofort danach erkundigt. An dem Tag, an dem der Diebstahl bemerkt wurde, war die Kanalzufahrt zu jenem Palazzo, in dem der Diebstahl erfolgte, gesperrt – und zwar von beiden Seiten. Zwei kleine Brücken drohten einzustürzen und mussten saniert werden. Da gab es kein Durchkommen für Boote.“

„Und Taucher? Jemand wirft etwas ins Wasser, und ein Taucher holt es heraus?“

„Der Kanal ist stark verschmutzt und dunkel. Das wäre sehr riskant. Es muss eine andere Lösung geben.“

„Gibt es schon einen Verdacht? Wie ist der Diebstahl genau passiert?“

„Das werden wir bald erfahren“, sagte Lord Huber. „Sehen Sie das Haus dort, direkt am Wasser? Und den Mann, der uns winkt? Das ist Mister Gordon. Er erwartet uns.“

Der verschwundene Engel

Подняться наверх