Читать книгу Der verschwundene Engel - Heinz Janisch - Страница 9

Оглавление

Drittes Kapitel

in dem Herr Jaromir eine Entdeckung macht, ein geschlossenes Fenster für Verwirrung sorgt und Lord Huber sich vor einem großen Namen verbeugt

Herr Jaromir wartete, bis das Motorboot mit den drei Männern weit genug vom Haus entfernt war. Dann lief er neugierig in das geräumige Wohnzimmer. Er schaute sich lange das Ölbild mit dem Engel im Schwimmbad an, dann betrachtete er eine Engelskulptur aus hellem Holz, die in einer Ecke des Raumes stand.

„Engel sind jedenfalls genug da“, sagte Herr Jaromir leise zu sich selbst.

Im Wohnzimmer gab es ein Sofa mit einem schwarzen Lederüberzug, einen langen Glastisch und einige Stühle aus gebogenem Metall, die mehr nach Kunstwerken aussahen als nach Sitzmöbeln. „Ein nüchterner Ort. Ob sich die Engel hier zu Hause fühlen?“, fragte Herr Jaromir halblaut in die Stille hinein. Er lief durch die modern eingerichtete Küche, dann kam er in ein Zimmer mit einem breiten, wuchtigen Schreibtisch aus Holz, der mit hohen Papierstößen bedeckt war. Auf einem Regal an der Wand sah man zahlreiche Aktenordner und einige Bücher. In einem Zimmer stand ein breites Doppelbett. An der Wand über dem Bett hing ein Ölbild, das an das Bild im Wohnzimmer erinnerte. Herr Jaromir las den Schriftzug LEON am linken unteren Bildrand. Wieder sah man einen Engel im Schwimmbad, dieses Mal saß er zusammengekauert am Beckenrand. An einer Seite des Zimmers stand ein gewaltiger Kleiderschrank mit einer Spiegeltür. Herr Jaromir lief zurück zur offenen Terrassentür. Hatte er nicht vom Steg aus einen Weg gesehen, der in den Garten geführt hatte?

Er hatte recht gehabt. Ein schmaler – mit bunten Steinen ausgelegter – Weg brachte ihn in einen kühlen schattigen Garten mit hohen Bäumen. Herr Jaromir blickte sich um. Ein Holztisch, Stühle, eine Hängematte. Im Garten sah es gemütlicher aus als im Haus …

„Hier kann man es aushalten“, sagte Herr Jaromir zu einer Möwe aus Draht, die vor ihm im Gras saß. Dann machte er eine Entdeckung. Blaue Farbspritzer im Gras führten zu einer Eisentür an der Rückseite des Hauses. Die Eisentür sah massiv und schwer aus – und verschlossen.

„Das muss ich Lord Huber zeigen. That’s interest– ing! Wir kommen wieder“, sagte Herr Jaromir zur Eisentür und machte es sich im Garten – unter der Hängematte – gemütlich.

Lord Huber und Ferdinand sahen zu, wie Mister Gordon sein Motorboot geschickt durch die Kanäle von Venedig steuerte.

Mister Gordon trug jetzt rote Turnschuhe. Seine weißen Haare flatterten im Fahrtwind. Er schien den kleinen Ausflug mit seinen beiden Gästen durchaus zu genießen. Lord Huber und Ferdinand saßen auf einer Bank und hatten eine herrliche Aussicht auf das Treiben ringsum. „Kindheitserinnerungen sind kostbarer als Diamanten“, sagte Ferdinand. „Da hat Mister Gordon wohl recht. Ein schöner Gedanke. Ich bin gespannt, wo der goldene Engel geblieben ist.“ „Flügel aus Gold fliegen nicht weit“, sagte Lord Huber. „Sie sind viel zu schwer. Ich glaube, unser Engel ist ganz in der Nähe.“

Ferdinand sah Lord Huber verblüfft an. „Der Engel … ist in der Nähe?“

Lord Huber nickte. „Wollen wir es hoffen. Es kommt wohl auf das geschlossene Fenster an.“ „Ich verstehe nicht ganz … Ein Engel, der durch ein geschlossenes Fenster fliegt?“, fragte Ferdinand erstaunt.

„Klingt sonderbar, ich weiß. Aber dennoch – so ähnlich stelle ich mir das vor. Lassen wir uns überraschen!“

Mister Gordon steuerte das Boot langsam durch einen schmalen Kanal. Er drosselte das Tempo und glitt mit dem Boot zu einem Steg neben einer Brücke.

„Hier müssen wir aussteigen!“, rief er Lord Huber und Ferdinand zu. „Der Kanal ist da vorne gesperrt, zwei Brücken werden renoviert. Wir müssen zu Fuß weiter. In ein paar Minuten sind wir da.“

Mister Gordon sprang – mit einem Seil in der Hand – vom Boot auf den Steg und befestigte das Seil mit geübten Griffen an einem Eisenring an der Kanalmauer. Ein junger Mann mit dunklen Haaren kam aus einem Haus neben der Brücke und winkte Mister Gordon zu. Er musste auf ihre Ankunft gewartet haben.

„Roberto, fa’ attenzione! Ritorno subito“, rief Mister Gordon und steckte ihm ein paar Münzen zu.

„Roberto wird auf unser Boot aufpassen. Ich habe ihm gesagt, dass wir bald wieder zurück sein werden“, sagte Mister Gordon.

Der Weg führte durch einige schmale, dunkle Gassen und über mehrere Brücken. Immer wieder mussten sie Touristenströmen ausweichen, die mit Blick auf ihren Reiseführer an ihnen vorbeistolperten. Ab und zu blieb jemand von einer Gruppe stehen, um ein Foto zu machen.

„Da sind wir“, sagte Mister Gordon und zeigte auf ein hohes Haus mit einer kunstvoll verzierten Tür. „Museo degli Angeli“ stand auf einer kleinen goldenen Plakette. Daneben war ein kleiner Engel mit ausgebreiteten Flügeln abgebildet.

„Aperto solo Giovedi, ore 10.00–18.00“, las Lord Huber laut vor.

Mister Gordon steckte einen Schlüssel ins Schloss. „Wie gesagt: Unser Engelmuseum ist nur am Donnerstag geöffnet, von zehn bis achtzehn Uhr.“ Er öffnete die Tür, die sich nur schwer bewegen ließ.

„Hier stehen noch viele Räume leer. Das Museum befindet sich derzeit im zweiten Stock. Eines Tages soll hier Platz für viel mehr Kunstwerke sein. Dieses Museum wird in einigen Jahren weltberühmt sein. Das ist erst der Anfang.“ „Ich sehe, Sie haben große Ziele“, sagte Lord Huber und folgte Mister Gordon und Ferdinand, die eine breite Steintreppe hinaufstiegen. Lord Huber spielte beim Treppensteigen gedankenverloren mit seinem Stock. Überall sah er große beeindruckende Räume, die vollkommen leer zu sein schienen. Es roch nach frischer Farbe. Prunkvolle Verzierungen an den Wänden zeigten, dass es sich um ein altes Haus mit einer traditionsreichen Geschichte handeln musste.

„Hier hat einmal eine russische Gräfin gelebt“, sagte Mister Gordon, der kurz stehen geblieben war. „Sie hat viele Künstler gefördert. Man sagt, dass sogar der große Leonardo da Vinci, der größte Künstler der Welt, einmal für einen Monat in diesem Palazzo gelebt haben soll.“ „Der berühmte Leonardo da Vinci! Der Schöpfer der Mona Lisa und vieler anderer Meisterwerke! Er war hier? In diesem Haus? Ich verbeuge mich vor diesem großen Namen“, sagte Lord Huber. „Auch ich verehre ihn sehr! Leonardo! Er ist der Größte!“, rief Mister Gordon. Seine Augen strahlten.

„Aber, nun ja. Wer weiß, ob er wirklich hier war“, fügte er leise hinzu. „Die Leute erzählen viele Geschichten!“

„Das tun sie, in der Tat“, sagte Lord Huber. Sie stiegen noch einige Treppen weiter hinauf. „Hier sind wir!“, sagte Mister Gordon. Er holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und sperrte damit eine schmale Tür auf, die mit roter und goldener Farbe bemalt war. Im Übergang zwischen dem Rot und dem Gold sah Lord Huber viele kleine Engelfiguren, die jemand mit Bleistift auf die Tür gemalt hatte. Ihre Flügel waren kaum zu sehen.

Mister Gordon bemerkte Lord Hubers aufmerksamen Blick.

„Von den unsichtbaren Flügeln zu den sichtbaren“, sagte er mit einem Lächeln. „Darf ich bitten?“

Der verschwundene Engel

Подняться наверх