Читать книгу Der verschwundene Engel - Heinz Janisch - Страница 8

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Zweites Kapitel

in dem Engel vorbeifliegen, ein Alarm nicht ausgelöst wird und Herr Jaromir allein zurückgelassen wird …

Ferdinand steuerte das Motorboot auf ein schmales Haus zu, von dem ein Steg direkt ins Wasser führte. Ein älterer, braungebrannter Mann mit weißen Haaren stand barfuß auf dem Holzsteg und winkte ihnen zu. Er trug Jeans und ein rotes T-Shirt, auf dem Herr Jaromir einige kleine, blaue Farbspritzer sah.

Das Boot legte an. Ferdinand warf dem weißhaarigen Mann ein dickes Seil zu. Er fing es geschickt auf und begann das Boot an einem rostigen Eisenring festzubinden.

Lord Huber – mit Herrn Jaromir unterm Arm – ging vorsichtig von Bord, dann folgte Ferdinand. Sie stiegen direkt vom Boot auf den Steg.


Der weißhaarige Mann begrüßte die beiden Männer mit einem festen Händedruck und nickte Herrn Jaromir kurz zu.

„Ihr berühmter Assistent, nehme ich an“, sagte er zu Lord Huber. „Ich habe von Ihnen beiden in der Zeitung gelesen!“

„Sie haben recht. Das ist Herr Jaromir“, sagte Lord Huber.

Er kniete nieder und setzte Herrn Jaromir auf den Boden.

„Bitte schauen Sie sich später gut im Haus um! Jedes Detail ist wichtig!“, flüsterte er ihm ins Ohr, dann richtete er sich wieder auf.

„Woher kommen Ihre perfekten Deutschkenntnisse, Mister Gordon?“, fragte er den Mann vor ihm auf dem Steg freundlich.

„Oh, ich habe Geschäftspartner und Firmen in aller Welt“, sagte der Mann. „Englisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch, Chinesisch, Russisch – ich habe mich bemüht, die Sprachen meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu lernen. Eine schöne, aber auch schwierige Übung.“

„Und man braucht viel Zeit dafür“, sagte Lord Huber. „Darf ich fragen, was Sie beruflich machen, Mister Gordon?“

„Aber natürlich. Ich bin Amerikaner, wie Sie bestimmt wissen. Ich habe von meinem Vater eine Autofirma geerbt. Wir haben uns auf alte Modelle für Sammler spezialisiert. Inzwischen haben wir Filialen in vielen Ländern. Die Leute lieben das Außergewöhnliche.“

„So wie Sie“, sagte Ferdinand. Er deutete auf das Motorboot und das Haus mit dem Steg und der lang gestreckten Terrasse direkt am Wasser.

„Kommen Sie doch herein und genießen Sie den Ausblick. Wir sehen von der Terrasse aus direkt auf die Schönste aller Schönen, auf die herrliche Märchenstadt Venedig.“ Mister Gordon führte seine Gäste ins Haus.

„Alles, was ich hier sehe, ist beeindruckend“, sagte Lord Huber. „Die Bilder an der Wand, die Skulpturen, das Haus mit seinen hellen, luftigen Räumen – und dann erst der Ausblick! Sie müssen ein glücklicher Mann sein, Mister Gordon.“ „Oh, danke! Ja, das bin ich! Kein Zweifel, das bin ich! Was darf ich Ihnen anbieten? Was wollen Sie trinken?“

„Kühles Wasser genügt“, sagte Lord Huber. Ferdinand nickte. „Auch für Herrn Jaromir, wenn das möglich ist. Wir haben eine lange Zugfahrt hinter uns.“

„Selbstverständlich“, sagte Mister Gordon. „Das Wasser kommt sofort. Nehmen Sie doch inzwischen Platz!“

Ferdinand und Lord Huber setzten sich in die Liegestühle, die auf der Terrasse bereitstanden. Herr Jaromir suchte sich einen Platz nahe der offe nen Glastür. Noch einen Schluck Wasser, und dann war er bereit für einen Erkundungsgang durch das Haus …

„Bitte schön“, sagte Mister Gordon und balancierte auf einem Tablett Gläser und einen großen Krug.

Dann brachte er eine silberne Schüssel, die randvoll mit Wasser gefüllt war. Herr Jaromir genoss die kühle Erfrischung.

„Verzeihen Sie meine Neugier“, sagte Lord Huber, „aber leben Sie allein hier in diesem wunderbaren Haus?“

„Nun ja, meine Frau ist derzeit in Frankreich. Wir haben eine alte Mühle in Südfrankreich gekauft, und sie möchte am liebsten gar nicht mehr weg von dort. Meine frühere Haushälterin ist vor einigen Wochen in Pension gegangen, und ich hatte noch keine Zeit, mich um neues Personal zu kümmern. Aber ich muss gestehen – man könnte sich an das Alleinsein gewöhnen.“

„Ich könnte es mir sofort vorstellen“, sagte Ferdinand und hob sein Glas. „Danke für das Motorboot! Sie haben gesagt, wir dürfen es noch für ein, zwei Tage behalten?“

„So lange Sie wollen“, sagte Mister Gordon und nippte an seinem Glas. „Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie diesen Diebstahl aufklären wollen.“

„Würden Sie mir und meinen Freunden noch einmal erzählen, was genau geschehen ist?“, fragte Lord Huber. „Der Diebstahl muss Sie sehr treffen.

Immerhin sind kostbare Diamanten verschwunden.“

Herr Jaromir sah Lord Huber irritiert hat. Hatte er nicht im Zug gesagt, es würde nicht um die Diamanten gehen?

„Ach, die Diamanten“, sagte Mister Gordon. „Natürlich. Diamanten will jeder zurückhaben. Aber noch wichtiger ist mir die Statue selbst.“ „Ist sie so wertvoll?“ Lord Huber spielte mit seinem Stock.

Herr Jaromir wusste, was das zu bedeuten hatte.

Lord Huber war dabei, das Gespräch mit dem eingebauten Tonband im Stock aufzunehmen. „Diese Statue ist ein Einzelstück. Ein alter italienischer Meister hat sie gemacht. Sie ist ein Erbstück von meinem Vater. Die Engelstatue hat jahrelang neben meinem Bett gestanden, als ich noch klein war. Das ist es, was diesen Engel so wertvoll macht.“

„Und wie wurde dieser wertvolle Schutzengel nun gestohlen? Würden Sie mir den genauen Tathergang schildern? Und wären Sie bereit, uns danach den Tatort zu zeigen?“

„Selbstverständlich!“ Mister Gordon ging nervös auf und ab. „Ich habe vor Jahren einen alten Palazzo mitten in Venedig gekauft. Ich habe viel Geld in seine Renovierung gesteckt und achte auch jetzt darauf, dass er wie ein Schmuckstück aussieht. Er ist ganz in der Nähe der Rialtobrücke, mitten im Gewirr der kleinen Gassen, ein kleiner Kanal führt direkt vorbei. Ich lebe hier, aber ich habe dort, in diesem Palazzo, ein kleines Museum eingerichtet, das jeden Donnerstag geöffnet hat.“ „Warum nur am Donnerstag?“

„Ich bin an einem Donnerstag geboren. Aber – was soll ich sagen? Ich will mit dem Museum kein Geld verdienen, ich will nur meine Freude an schönen Kunstwerken mit anderen teilen.“

„Und was zeigen Sie in Ihrem Museum?“

„Stücke aus meiner Sammlung, die ich im Lauf der Jahre zusammengetragen habe. Erbstücke aus meinem Elternhaus, Kunstwerke, die ich auf Reisen entdeckt habe … Ein Schwerpunkt der Sammlung sind Engeldarstellungen: alte Gemälde und Zeichnungen, aber auch Skulpturen.“

Lord Huber fuhr mit seinem Stock durch die Luft. „Sie lieben Engel … Das wird wohl der Grund sein, weshalb so viele Engel durch dieses Haus fliegen, nicht wahr?“

Er deutete auf die kleinen Engelstatuen aus Bronze, die auf dem Tisch im Wohnzimmer standen, und auf ein großes Bild an der Wand, das einen Engel zeigte, der in einem Schwimmbad auf einem Zehnmeterbrett stand, mit ausgebreiteten Flügeln. „Das sind Arbeiten von Gegenwartskünstlern“, sagte Mister Gordon.

„Das Bild an der Wand ist von einem Jungstar der internationalen Kunstszene. Ich bin ein Sammler seiner Arbeiten seit der ersten Stunde.“

„Ich habe den Namen des Künstlers auf dem Bild gesehen“, sagte Lord Huber.

„Dieser LEON scheint hoch im Kurs zu sein. Seine Bilder tauchen auf allen wichtigen Kunstmessen auf. Und dennoch weiß man nichts über den Künstler. Stimmt das Gerücht, dass es sich dabei um eine Frau handeln soll?“

„Das kann gut möglich sein. Ich beziehe die Bilder über einen Galeristen in Paris. Ich habe zwei Bilder von LEON erworben. Sie haben stolze Preise.“

„Das Bild passt perfekt zu Ihrem Haus“, sagte Lord Huber. „Als wäre es für diesen Raum gemacht.“

„So empfinde ich es auch. Sie sehen, hier im Haus wohnen die Engel von heute. Die alten Engel sind im Museum.“

„Und Ihren Schutzengel? Den wollten Sie gar nicht bei sich haben?“

„Oh doch“, sagte Mister Gordon. „Er war lange hier im Haus. Dann habe ich ihn vor Kurzem in den Palazzo gebracht. Und jetzt ist er weg.“

„Haben Sie oft Besuch, hier im Haus?“

„Nun ja, das kommt schon vor. Ich habe gerne Gäste.“

„Dann könnte jemand hier im Haus Ihren Schutzengel mit den Diamanten gesehen haben?“ „Das ist gut möglich.“

„Und wie ist nun der Diebstahl im Museum vor sich gegangen?“

Mister Gordon seufzte.

„Der Engel stand in einem elektronisch gesicherten Glasbehälter. Es waren an diesem Nachmittag einige Gruppen da, Reisegruppen aus verschiedenen Ländern. Wir haben ein Abkommen mit einem Reiseveranstalter. Sie bekommen ermäßigte Gruppenpreise. Es war den ganzen Nachmittag über viel los, ein Kommen und Gehen. Der Wärter hat erst am Abend – beim Zusperren – bemerkt, dass die Vitrine leer war und dass der Engel nicht mehr da war.“

„Es gibt nur einen Wärter? Im ganzen Museum? Und der Alarm ist nicht losgegangen?“ „Er wurde nicht ausgelöst. Und ja, es gibt nur einen Wärter. Das Museum besteht derzeit nur aus einem Raum. Es ist also nicht sehr groß. Eine kleine Sammlung für Kunstfreunde. Die anderen Räume im Palazzo stehen noch leer. Der Wärter im Museum, Tommaso, ist übrigens ein verlässlicher Mann, den ich schon lange kenne.“ „War ein Fenster im Raum offen?“

„Alle Fenster waren geschlossen. Ich bin nach dem Anruf meines Wärters sofort mit dem Boot zum Palazzo gefahren und habe den Raum genau untersucht. Noch vor der Polizei. Alle Fenster waren zu.“

„Sie waren vor der Polizei am Tatort?“

„Ja, mein Wärter hat zuerst mich angerufen. Wir haben gemeinsam alles abgesucht, dann haben wir die Polizei verständigt.“

„Sie haben den Engel mit den Diamanten nicht gefunden, aber dafür etwas anderes?“ „So ist es. Zu meinem großen Erstaunen hing hinter einem alten Paravent – er ist kunstvoll mit Engeln bestickt – etwas Gestreiftes an der Wand. Es war ein Schwimmreifen, ein ganz gewöhnlicher Schwimmreifen, so wie ihn viele Kinder zum Baden mitnehmen.“

„Wo ist dieser Schwimmreifen jetzt?“

„Die Polizei hat ihn genau untersucht und mitgenommen. Sie haben nichts Bemerkenswertes gefunden, auch keine Fingerabdrücke. Es war ein billiger Plastik-Schwimmreifen. So wie man ihn hier in jedem zweiten Geschäft kaufen kann.“ „Haben Sie eine Ahnung, was dieser Schwimmreifen bedeuten soll?“

„Ich hoffe, dass Sie mir da weiterhelfen können! Ich vertraue ganz auf Ihren Spürsinn! Ich weiß nicht, weshalb jemand nur meinen Schutzengel stiehlt und sonst nichts aus dem Museum anrührt. Und ich weiß noch weniger, weshalb ich ausgerechnet einen Schwimmreifen dafür bekommen habe! Tausche Diamanten gegen einen Schwimmreifen! Für mich war das kein guter Tausch.“

„Aber vielleicht ein wohl überlegter“, sagte Lord Huber nachdenklich.

„Wären Sie so nett, mit uns zum Tatort zu fahren?“

„Natürlich! Wir können jederzeit ins Boot steigen!“

Lord Huber erhob sich.

„Dürfte Herr Jaromir hierbleiben? Er wurde bei der Herfahrt ein wenig seekrank. Eine Pause würde ihm guttun. Und ich würde auch meinen Rucksack gerne hier abstellen.“

Mister Gordon zögerte kurz. Dann blickte er Herrn Jaromir an, der mit geschlossenen Augen auf dem Boden lag. Es sah aus, als würde er schlafen.


„Aber natürlich“, sagte Mister Gordon. „Wollen wir fahren? Ich hole nur kurz den Schlüssel fürs Museum!“

Der verschwundene Engel

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