Читать книгу Der große Aschinger - Heinz-Joachim Simon - Страница 12
Kapitel 7
Оглавление»Willkommen im Fürstenhof!«, stotterte der Geschäftsführer aufgeregt.
Kaum hatten sie das Hotel betreten, war er ihnen von der Rezeption kommend mit wehenden Rockschößen entgegengeeilt. Ungewöhnlich war nicht, dass Aschinger den Fürstenhof besuchte, ungewöhnlich war der Zeitpunkt. Am Abend konnten alle Aschinger-Hotels eigentlich sicher sein, dass ihr Inhaber nicht einen seiner gefürchteten Inspektionsbesuche durchführte.
»Kann ich irgendetwas für Sie tun? Möchten Sie sich von der Auslastung überzeugen? Soll ich Ihnen das Gästebuch zeigen?«
Teichmann hat ihm wohl ganz schön Druck gemacht, dachte Sebastian.
»Nein, Feininger, heute bin ich privat hier. Wir wollen nur jemanden abholen.«
»Möchten Sie noch einen kleinen Imbiss nehmen?«
Fritz Aschinger schüttelte gereizt den Kopf, und der Geschäftsführer war intelligent genug, dies zu bemerken, und schwirrte nach einer tiefen Verbeugung ab.
»Na, wie gefällt dir unser Aushängeschild?«, fragte Aschinger und sah mit selbstgefälligem Lächeln in die Runde, als sähe er es selbst zum ersten Mal.
Es war in der Tat ein beeindruckender Anblick. Auch wenn der Fürstenhof nicht mit dem Ruf des Adlon mithalten konnte, so ließ seine Prachtentfaltung an Neuschwanstein und Linderhof denken. Nirgendwo in Berlin wurden Reichtum und Exklusivität so unverhüllt gezeigt. Die Möbel waren Kopien aus französischen Schlössern, von den besten Werkstätten Frankreichs. Es gab Säulen wie in einem korinthischen Tempel, und die obligatorische Wendeltreppe wies ein vergoldetes Geländer auf. Die Blumenarrangements hätten selbst in jedem Harem mehr als üppig ausgesehen und verbreiteten einen verführerischen Duft. Das Personal war liebenswürdig und gutaussehend.
»Die Menschen haben nun einmal lieber gutaussehende Apollos und Aphroditen um sich als Alberichs und Macbeths Hexen«, erwiderte Aschinger auf Sebastians Beobachtung. »Es hat leider nur den Nachteil, dass die Heiratsrate besonders hoch ist und wir durch Schwangerschaft viel Personal verlieren. Aber nun wollen wir doch der Baroness von Weinberg unsere Aufwartung machen. Lass dich von dem Adelstitel nicht beeindrucken! So etwas kauft man sich heute.«
Sie gingen zur Rezeption. Der Empfangschef wandte sich ihnen, ängstlich beobachtet vom Geschäftsführer, sofort zu.
»Was kann ich für Sie tun, Herr Aschinger?«
»Melden Sie der Baroness von Weinberg, dass wir hier sind.«
»Sehr wohl. Selbstverständlich.« Mit einer servilen Verbeugung griff er zum Telephon und stotterte in den Hörer, dass Herr Generaldirektor Aschinger eingetroffen sei. Mit betroffener Miene legte er den Hörer auf und sagte verlegen: »Die Baroness bittet Sie, doch hoch in ihre Suite zu kommen. Sie wäre in ein paar Minuten so weit.«
»Welches Zimmer?«, fragte Sebastian erstaunt, der es auch noch nicht erlebt hatte, dass man einen Aschinger warten ließ.
»Die Präsidentensuite im dritten Stock.«
»Zieh nicht so ein Gesicht, Johnny!«, sagte Aschinger gelassen. »Es ist das Vorrecht der Frauen, uns warten zu lassen.«
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl hoch. Sebastian bemerkte, dass die Hände des Liftboys zitterten. Mit schreckensgroßen Augen starrte der Aschinger an.
Der Salon der Suite war ein halber Tanzsaal und im Stil der französischen Ludwige eingerichtet. An der Tafel hätte eine Abordnung des Völkerbundes Platz gehabt.
»Die Baroness ist gleich so weit«, sagte die Zofe, die ihnen geöffnet hatte, und huschte dann in ein angrenzendes Zimmer.
»Das richtige Ambiente für den Geldadel, nicht wahr, Sebastian?«, sagte Aschinger schmunzelnd. »Geht alles auf Kosten des Hauses. Ich muss mir schließlich die Frankfurter gewogen halten.«
Dann rauschte sie herein. In einem rosafarbenen Kleid nach neuestem Pariser Chic, mit ondulierten Haaren und einer Miene, wie man sie bei Königinnen sah, wenn sie ihr Volk empfingen. Hochmütige graue Augen unter geschwungenen, sorgsam nachgezogenen Augenbrauen sahen sie herablassend an.
»Ich freue mich, Herr Aschinger!«, wandte sich Sieglinde von Weinberg an Sebastian und reichte ihm die Hand zum Handkuss. Dieser riss erschrocken die Augen auf und schüttelte den Kopf. Die Baroness lächelte entschuldigend und wandte sich Aschinger zu. »Es tut mir leid, Herr Aschinger. Wir haben uns noch nie gesehen, oder?« Aschinger deutete formvollendet einen Handkuss an. Sebastian konnte sich nicht dazu entschließen, murmelte seinen Namen und schüttelte ihr die Hand. Sie musterte ihn kurz und kam zu dem Entschluss, dass er einstweilen ihrer Beachtung nicht wert war. Sebastian war überzeugt, dass sie die anfängliche Verwechslung inszeniert hatte. Schließlich war er viel zu jung, um ein Fritz Aschinger zu sein.
»Mein Vater hat mir so viel von Ihnen erzählt, Herr Aschinger, und er hat mir ans Herz gelegt, mir von Ihnen unbedingt die Stadt zeigen zu lassen. Außerdem soll ich Sie ganz herzlich von ihm grüßen.«
»Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen die Wunder Berlins zu zeigen!«, erwiderte Aschinger mit einer Verbeugung. Er war sichtlich beeindruckt von der hessischen Baroness.
Die Zofe kam mit einem Tablett herein und reichte Champagner.
»Auf einen schönen Abend!«, sagte Aschinger und wiederholte linkisch seine Verbeugung.
Wenn Sebastian auch noch keine Weltläufigkeit eigen war, so merkte er doch, dass sein Chef kräftig Feuer gefangen hatte und sich deswegen ein wenig unbeholfen benahm. Dies war nicht der König von Berlin, sondern nur ein dicklicher, nicht sehr attraktiver Mann, der lediglich von der Weinberg empfangen wurde, weil er reich und – mehr noch – eine der besten Partien Deutschlands war. Ein Goldfisch, der noch nicht angebissen hatte und längst als überfällig galt.
»Auf einen schönen Abend!«, stimmte die Baroness zu und musterte nun Sebastian.
Sie war eine der Frauen, denen man schon in der Kindheit dauernd gesagt hatte, wie unvergleichlich schön sie seien, und die es als selbstverständlich ansahen, dass ihnen die Herzen zuflogen. Sie mochte kaum älter als zwanzig sein und hatte sich die Frische und den Schmelz bewahrt, die auf Jungfräulichkeit schließen ließen. Aber ihre Augen verrieten anderes. Sie war sprunghaft und gab sich einen Augenblick kindlich und im anderen wie eine Gesellschaftslöwin. Nach dem ersten Eindruck war Sebastian von ihr nicht gerade angetan, entschloss sich aber, mit seinem Urteil abzuwarten, da seine Erfahrungen mit Frauen doch sehr begrenzt waren.
»Und wer ist der junge Mann hier, der so ernst dreinblickt?«, fragte die Baroness und trank ihr Glas leer.
»Herr Lorenz ist mein Sekretär. Wenn er Sie stört, schicke ich ihn …« Aschinger brach ab und blickte verlegen zu Sebastian hinüber.
Der bekam einen roten Kopf und wäre am liebsten vor Scham im Erdboden versunken. So hatte ihn Fritz Aschinger noch nie behandelt. Bisher kannte er ihn nur als wohlmeinenden Mentor, der ihn förderte und in alle Geheimnisse seines Konzerns einweihte. Jetzt war er also nur ein Sekretär, ein Niemand, den man wegschicken konnte. Es war demütigend, so behandelt zu werden.
»Aber nein, lassen Sie nur!«, erwiderte die Baroness hell lachend.
»Herr Lorenz ist ein hübscher Kerl, und vielleicht ist er, wenn er den Mund aufbekommt, doch noch ganz amüsant.«
Aschinger warf Sebastian einen ärgerlichen Blick zu und bereute sichtlich, seinen Sekretär mitgenommen zu haben. »Ich dachte, wir gehen in den Wintergarten. Es ist Berlins bestes Varieté, das wird Ihnen gefallen. Dort treten nur internationale Künstler auf.«
»Ich dachte schon, dass Sie mich zu irgendeiner langweiligen Oper ausführen. Den meisten Männern fällt ja doch nichts anderes ein. Ich habe vom Wintergarten gehört. Waren Sie schon einmal dort?«, wandte sie sich an Sebastian.
»Nein«, sagte Sebastian gepresst. Sie sah ihn weiter herausfordernd an, aber er schwieg.
»Er ist noch nicht lange in Berlin«, erklärte Aschinger. »Bevor er bei mir anfing, war er ein Bauernjunge im Neuruppiner Land.« Er lachte, als hätte er einen Witz gemacht.
»Interessant! Und doch haben Sie ihn zu Ihrem Sekretär gemacht. Dann muss er ja bemerkenswert sein.«
»Er macht sich ganz gut«, sagte Aschinger kurz.
»Wie schön für Sie!«, erwiderte die Baroness und ließ sich von ihrer Zofe die Stola geben. »Stürzen wir uns ins Vergnügen!«
Ehe Fritz Aschinger ihr die Tür öffnen konnte, war sie bereits auf dem Flur. Als sie im Mercedes saßen, griff Aschinger hinter sich und reichte ihr ein kleines Päckchen. »Ein Willkommensgruß in Berlin«, sagte er mit belegter Stimme.
Er ist verknallt, dachte Sebastian. Er hatte sich ohnehin gewundert, dass Aschinger noch nicht verheiratet war, und bisher auch nicht bemerkt, dass sein Chef sich für Frauen interessierte. Aber die Weinberg schien es ihm angetan zu haben.
Die Baroness wickelte das Geschenk aus und klappte eine kleine blaue Schatulle auf, in der ein Ring funkelte, der gut so viel wert sein mochte wie der Mercedes, in dem sie fuhren. »Wie aufmerksam!«, sagte die Weinberg. »Ein Diamantring. Wunderschön.« Sie zog die Handschuhe aus, steckte ihn an den Finger und hielt ihnen den Ring vor das Gesicht.
»Er passt sogar! Sie sind ein großzügiger Mensch, Herr Aschinger. Eigentlich kann ich so ein Geschenk nicht annehmen. Aber bei einem so guten Geschäftsfreund meines Vaters darf ich wohl nicht nein sagen …«
Elly Proske, die Leiterin des Sekretariats, hatte Sebastian bereits erzählt, dass Fritz Aschinger als freigiebig galt und fast jeden, dem er sich verpflichtet fühlte oder dem er seine Wertschätzung ausdrücken wollte, mit Geschenken überhäufte. Aber der Wert dieses kostbaren Geschenkes dürfte vor allem mit dem geschäftlichen Hintergrund zu tun haben.
Der Chauffeur hielt vor der Ecke Friedrichstraße, Dorotheenstraße. Sie stiegen aus und nahmen die Baroness in die Mitte, und sie hakte sich bei den beiden Männern ein. Der Portier riss die Tür auf, als er Aschinger sah, und sie gingen an der Kasse mit der Menschenschlange vorbei durch einen langen Flur mit Bildern der Künstler, die hier auftraten. Der Kartenabreißer erstarrte und riss mit einer Verbeugung die zweite Tür auf.
»Bezahlen brauchen Sie in diesem Laden nicht?«, fragte die Baroness.
»Nein, mir gehört der … Laden«, sagte Fritz Aschinger etwas pikiert.
Der Geschäftsführer, durch irgendwelche Signale alarmiert, tauchte auf und schlug, als wäre er über den Besuch höchst erfreut, die Hände zusammen. »Sie hier im Wintergarten, Herr Aschinger? Wie lange habe ich mir das schon gewünscht! Es ist uns eine große Ehre.«
»Sind wir gut besucht?«
»Wir sind bis auf den letzten Platz ausverkauft. Aber natürlich werde ich dafür sorgen, dass Sie den besten Platz gleich an der Bühne bekommen.«
»Aber bitte keinen Platz, wo uns gleich die ganze Mischpoke von Pressefritzen sieht. Sonst sehen wir uns morgen alle in den Berliner Tageszeitungen wieder.«
»Wir haben gleich neben der Bühne eine kleine Grotte, die schwer einzusehen ist, von der man aber einen guten Blick auf die Bühne hat. Wir nennen sie unsere Kaiserloge.«
»Sehr schön. Wie ist das Programm?«
»Exzellent! Wir haben einen Entfesslungskünstler der allerersten Kategorie und den berühmten Clown Grock, eine weltbekannte Trapeznummer, die Diseuse Claire Waldoff und eine berühmte Chansonsängerin aus Paris, die so großartig wie die Mistinguette ist. Sie werden zufrieden sein. Unser Haus ist seit Monaten ausverkauft.«
»Na schön, dann zeigen Sie uns mal die Grotte in unserem Moulin Rouge!« Aschinger lachte künstlich.
Mit vielen Bücklingen und großen Gesten führte sie der Geschäftsführer in eine Ecke, die mit glitzernden Steinen, die an Eiskristalle erinnerten, ausgeschmückt war. Zwei Ober eilten herbei und reichten die Karten. Aschinger bestellte Jahrgangschampagner und nach kurzer Verständigung mit der Baroness als Hauptgericht Hummer. Sebastian wurde nicht gefragt. Ihm war das nur recht so, er fühlte sich ohnehin wie das fünfte Rad am Wagen.
Fräulein Weinberg erzählte Aschinger von Paris und London und dass dies die einzigen Städte seien, in denen man leben könne – nicht besonders taktvoll gegenüber jemandem, der im Volksmund »Der König von Berlin« genannt wurde. Fritz Aschinger schien dies aber nichts auszumachen, er starrte sie an, als wäre sie die Inkarnation aller Frauen, als habe er endlich, nach langem Suchen, eine Frau entdeckt, die seinen hohen Ansprüchen genügen konnte – eine Königin: teuer, kapriziös, schön und aus gutem Hause. Doch ob sie für Aschinger die richtige Frau war, da hatte Sebastian doch große Zweifel. Sie sprang von einem Thema zum anderen und erzählte vom Segeln vor Kiel, von Strandwanderungen auf Sylt, vom Osterfest in Rom und von Mondscheinfahrten vor Capri. Das Leben schien für sie ein einziges Fest zu sein. Mit ihrem hohen, melodischen Tonfall erinnerte sie Sebastian an einen Singvogel, der munter flötete und sein Gefieder spreizte, um das Männchen anzulocken – und Fritz Aschinger tat ihr den Gefallen zu reagieren.
»Nun erzählen Sie doch einmal, was Sie das ganze Jahr so anstellen!
In Berlin ist doch sicher auch eine Menge los«, sagte sie nach ihrem Redefluss über das aufregende Leben der oberen Zehntausend.
Fritz Aschinger warf Sebastian einen hilflosen Blick zu. »Ich arbeite.«
»Sie können doch nicht jeden Tag arbeiten!«
»Nein … doch, ich habe eben so viel zu tun.«
»Machen Sie keinen Urlaub? Sagen Sie bloß, Sie waren noch nicht in Monte Carlo oder in Nizza oder Cannes!«
»Nein, das war ich nicht«, stammelte er.
»Herr Aschinger hat ja nicht nur ein Hotel, sondern viele, außerdem Konditoreien und Bäckereien sowie fast dreißig Bierquellen. Das verlangt seine ständige Anwesenheit«, kam Sebastian ihm zu Hilfe.
»So? Dafür gibt es doch Leute wie … Sie! Jawohl, habe ich nicht recht, Herr Aschinger? Dafür hat man doch seine Leute! Sie müssen doch auch mal ausspannen. Und gute Hotels gibt es auch an der Côte d’Azur. Das Negresco in Nizza ist ein Traum von einem Hotel! Der Fürstenhof ist ja ganz nett, aber gegen das Negresco fehlt doch dieser französische Esprit, wenn Sie wissen, was ich meine. Nichts für ungut! Ah, jetzt kommt der Entfesslungskünstler!«
Der Artist wurde in Ketten gelegt und obendrein in einen Käfig gesperrt, der danach mit einem Tuch verhüllt wurde. Es gab einen Tusch, und Rauchwolken stiegen auf und verdeckten den Käfig. Nun stand der Mann ohne Ketten neben dem Käfig. Sebastian langweilte die Nummer, aber die Baroness schien sich köstlich zu amüsieren. Danach kam der Clown Grock auf die Bühne, ein Höhepunkt des Abends. Auch Fritz Aschinger ließ sich von ihrer Begeisterung anstecken, und bald warfen er und die Baroness sich übermütig Papierschlangen zu. Sebastian sah immer wieder auf die Uhr und fluchte innerlich, dass die Zeit so langsam verging.
»Und was machen Sie den lieben langen Tag?«, wandte sich Sieglinde von Weinberg in einer Pause an Sebastian.
Der Hummer war serviert worden. Sebastian wusste nicht, wie man mit dem Besteck die Schale knackte, und war gerade dabei, sich von Aschinger abzugucken, wie man dem Hummer das Fleisch entlockte. »Ich … arbeite.«
»Und was machen Sie in den Ferien?«, fragte sie unzufrieden.
»Keine Ahnung, ich hatte noch nie welche.«
»Er ist gar nicht lustig, Herr Aschinger!«
»Er ist frisch aus der Provinz«, sagte Aschinger gönnerhaft, »aber er lernt schnell. Er wird, wenn er in dem bisherigen Tempo weitermacht, schon bald auch wissen, wie man sich amüsiert.«
Sebastian hätte am liebsten geantwortet: Als ob du das wüsstest, großer Chef! Aber natürlich verkniff er sich die Bemerkung.
»Er hat ganz ernste Augen«, sagte sie nachdenklich, aber so distanziert, als spräche sie von einem Pferd oder Hund. »Ich mag ernste Menschen – manchmal jedenfalls. Oh, jetzt kommt die Französin!« Sie klatschte in die Hände.
Die zierliche Frau mit einem grell geschminkten Mund sang Paris, je t’aime d’amour. Das Publikum raste vor Begeisterung.
»Ach, ich würde jetzt am liebsten gleich nach Paris fahren!«, rief sie enthusiastisch, steckte zwei Finger in den Mund und pfiff wie ein Gassenjunge.
Fritz Aschinger schien sich über ihr exaltiertes Benehmen köstlich zu amüsieren. Mittlerweile war man bei der zweiten Flasche Champagner angelangt. Als die Baroness zum Nasepudern verschwunden war, fragte Aschinger seinen Sekretär: »Was hältst du von ihr?«
»Sie ist sehr … kapriziös, so nennt man das wohl. Ich habe aber keine Ahnung von Frauen.«
»Sie ist so erfrischend! So ganz anders als die Damen hier in Berlin. Sie lebt und reißt einen mit, nicht wahr, Johnny?«
»Na ja, wenn man sich mitreißen lassen will.«
»Sie gefällt dir nicht?«, fragte er enttäuscht.
»Sie ist schön, verwöhnt und sehr … anstrengend.«
»Sie ist eben nicht so schwerblütig wie die Norddeutschen. Sie ist so anregend wie Champagner.«
Es scheint ihn schwer erwischt zu haben, dachte Sebastian. Nun, ihre körperlichen Vorzüge waren unübersehbar. Aber passte diese mondäne Frankfurterin zu einem so schwerblütigen Menschen wie Aschinger?
Nun trat eine Musikgruppe mit schwarz angemalten Gesichtern auf und spielte einen Charleston. Die Baroness kam zurück und griff nach Aschingers Hand.
»Charleston, meine Lieblingsmusik! Ich möchte tanzen!« Aschinger folgte ihr zögernd wie ein Hammel auf dem Weg zur Schlachtbank. Während sie ekstatisch die Füße schmiss und dabei mit den Händen wedelte, tappte er wie ein Tanzbär linkisch um sie herum. Es war offensichtlich, dass Tanzen nicht zu seinen Stärken gehörte. Schließlich kamen sie an den Tisch zurück, Aschinger schweißnass und sich das Gesicht wischend. Erschöpft warf er sich auf den Stuhl. Die Kapelle spielte nun einen Tango.
Sieglinde von Weinberg sah Sebastian herausfordernd an. »Ich liebe Tango! Tanzen Sie mit mir, Johnny!«
»Ich kann nicht tanzen.«
»Ich zeige es Ihnen, es geht ganz leicht.«
»Los, tanze mit Baroness Weinberg!«, forderte ihn Aschinger auf.
»Ich kann nicht, Herr Aschinger, ich habe noch nie Tango getanzt.«
»Na los, man schlägt einer Dame nichts ab!«, sagte er mit böse blickenden Augen.
Sebastian seufzte. Sieglinde von Weinberg nahm ihn bei der Hand und zog ihn auf die Tanzfläche. Was ist denn nur mit Fritz Aschinger los?, fragte er sich. So kannte er ihn gar nicht. Nun würde er sicher genauso dumm aussehen wie der Chef. Die Baroness ergriff seine Hand, drückte sich an ihn und schwenkte ihn mit ruckartigen Bewegungen herum. Nachdem er sich eine Zeitlang von ihr führen ließ und von den anderen Tänzern einiges abgeguckt hatte, klappte es ganz gut.
»Es geht doch!«, sagte sie triumphierend mit spöttisch funkelnden Augen.
»Na ja, gleich werden Ihnen die Füße weh tun.«
»Dann werden Sie sie mir massieren müssen.«
Er hatte Mühe, im Takt zu bleiben. Der Druck ihrer Schenkel auf sein Zentrum tat ein Übriges, ihn zu verwirren. Sie schien sich über seine Verlegenheit köstlich zu amüsieren.
»Wie alt sind Sie eigentlich, Herr Lorenz?«
»Ich werde 21.«
»Wann?«
»In zwei Tagen.«
»Dann werden Sie wohl mit Ihrer Freundin tüchtig feiern?«
»Ich habe keine Freundin.«
»So ein hübscher Junge und hat keine Freundin? Dann sind Sie wohl noch ein unbeschriebenes Blatt?«
Sebastian bekam einen roten Kopf. Er war froh, dass in diesem Moment die Kapelle aufhörte zu spielen. Sie gingen in die Grotte zurück. Die Baroness griff zum Champagnerglas und leerte es in einem einzigen Zug, streifte dann ihre Schuhe ab und legte die Füße in Aschingers Schoß.
»Massieren Sie bitte! Sie tun mir so weh.«
Aschinger war erst verblüfft und tat es dann mit beseeltem Blick. Er sah dabei aus wie ein alter Kater, der gerade eine Maus verschluckt hat. Wann nimmt dieser Abend endlich ein Ende?, dachte Sebastian. Er hasste sich und seine Rolle und Fritz Aschinger, der ihm diese aufbürdete.
»Ah, das tut gut!«, zwitscherte die Baroness, sich dabei gemütlich räkelnd. »Sie sollten Ihrem Sekretär ruhig mal ein bisschen Freizeit gönnen. Er hat noch nicht einmal eine kleine Freundin«, forderte sie Aschinger auf, der gutmütig grinste.
»Wenn er sich in alles richtig eingefuchst hat, wird er auch bald mehr Freizeit haben.«
»Das ist wichtig, man braucht das«, sagte sie ernsthaft, um dann wieder abzuschweifen. »Ah, was würde ich jetzt darum geben, durch die Rue Saint-Honoré zu schlendern, abends ins Moulin Rouge zu gehen und danach im Coupole zu tanzen! Wäre das nicht toll? Lasst uns doch alle nach Paris fahren!«
»Die Arbeit, die Arbeit …«, murmelte Aschinger, dabei bedauernd den Kopf schüttelnd.
»Ach, ihr Berliner seid langweilig! Die Arbeit kann auch mal warten, sonst verpasst man das Leben.« Sie rückte dicht an Aschinger heran, legte ihren Kopf an seine Schulter und spielte mit dem Finger an seiner Unterlippe. »Ist dieser Mund denn nur zum Befehlen da? Kann er nicht auch anderes?«
Sebastian gähnte.
Aschinger legte den Arm um die Baroness. »Ich sehe, Johnny, du bist müde. Morgen wartet ein anstrengender Tag auf uns. Wenn du willst, kannst du gehen. Der Chauffeur soll dich nach Hause fahren und dann wiederkommen.«
Sebastian stand erleichtert auf. »Dann wünsche ich noch einen schönen Abend.«
»Warte«, duzte ihn die Baroness, »so ein schöner Junge darf doch nicht ungeküsst nach Hause gehen!« Sie zog Sebastian an sich und gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. »Nun kannst du gehen!«, sagte sie und lachte ausgelassen.
Fritz Aschinger stimmte ein. Wie ein begossener Pudel zog Sebastian ab. Als er vor dem Wintergarten stand, schüttelte er sich. Er war wie ein Lakai, ein Nichts behandelt worden, und Aschinger hatte mitgemacht. So sind die Reichen, dachte er verbittert. Frivol, gedankenlos und ohne Mitgefühl. Aber war er nicht ein Nichts? Hatte sie nicht recht, ihn wie ein Möbelstück zu behandeln? Er ging zu dem schwarzen Automobil, in dem der Chauffeur wartete.
»Kommt der Chef noch nicht?«, fragte Toni, der, wie Sebastian wusste, schon seit Jahren Fritz Aschinger chauffierte.
»Nein, Sie sollen mich nach Hause bringen und dann zum Wintergarten zurückfahren und auf ihn warten.«
»Donnerwetter! Ich habe noch nie erlebt, dass der Chef an solchen Lustbarkeiten Gefallen hat. Na ja, wird wohl eher die Baroness sein, die den Grund dafür liefert. Eine tolle Frau. Es ist ganz gut, dass der Chef sich mal amüsiert. Wie war denn das Programm?«
»Interessant, wenn man so etwas mag.«
»Und Sie mögen so etwas nicht, Johnny?«
»Für mich war das ein Arbeitsabend.«
»Verstehe.«
Toni ließ ihn an der Bleibtreustraße aussteigen. Als er die Treppe zu seinem Dachzimmer hochstieg und an der Tür des Onkels vorbeiging, hörte er aus dem Wohnzimmer das Klavier. Er klopfte, und bald kamen Schritte heran, und die Tür wurde aufgerissen.
»Ach, du bist es, Sebastian! Wo kommst du denn so spät noch her?
Ich habe dich ja seit Tagen nicht mehr gesehen.«
»Es ist so viel zu tun.« Er trat ein und berichtete seinem Onkel, wie er sich bei Aschinger eingelebt hatte und wo er zukünftig wohnen würde.
»Du wirst in dem Aschinger-Palais wohnen? Donnerwetter! Und mit deinen 21 Jahren bekommst du das Gehalt eines Direktors? Ich muss sagen, das nenne ich eine Blitzkarriere! Ich habe noch nie gehört, dass ein junger Mann so viel Geld verdient.«
»Dafür muss ich auch ganz schön kuschen«, klagte Sebastian. »Jetzt muss ich ihm Tag und Nacht zur Verfügung stehen.« Er erzählte, wo er gerade gewesen war und wie herablassend ihn die Baroness und Aschinger behandelt hatten.
»Aber dafür darfst du in einer Welt leben, die uns Sterblichen verschlossen bleibt.«
»Ich bin nur der Zuschauer ihres Lebens und darf ihnen applaudieren, und sie ziehen mich hinein, wenn es ihnen gerade in den Sinn kommt.«
»Verstehe. Sie leben in einer Welt, in der es für sie selbstverständlich ist, reich zu sein, und in der sich alle ihre Wünsche erfüllen.«
»Ja, sie sind wie die Götter der Griechen, launisch, skrupellos und kindisch. Und sie spielen mit uns wie die Kinder mit Bausteinen.«
»Liest du neuerdings Nietzsche?«, fragte der Onkel lachend und spielte ein paar Takte aus Tristan und Isolde.
»Nee, dazu brauche ich den ollen Wanderer im Engadin nicht.«
»Du wirst also das Zimmer hier aufgeben?«
»Nein, ich würde es gern behalten. Die paar Reichsmark für das Zimmer kann ich mir leisten.«
»Ach ja, ich vergaß, dass du jetzt zu den Großverdienern gehörst.«
»Meine Zimmer bei Fritz Aschinger sind wie die in einem Schloss. So unwirklich. Wer weiß, wie lange es dauert, und er ist meiner über. Hier hätte ich ein Refugium, wo ich mich auch mal zurückziehen kann. Und wenn er mich rausschmeißt, habe ich eine Zuflucht.«
»Du traust deinem Aufstieg noch nicht so ganz, stimmt’s?« Der Onkel hörte auf zu klimpern und sah ihn mit seinem gütigen Uhugesicht verständnisvoll an.
»Es ist wie in einem Traum, und alles geht in einem unheimlichen Tempo. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Alle bei Aschinger grüßen mich achtungsvoll. Manche fürchten mich sogar. Ich bin jemand und bin doch nichts. Ich bin nur das Sprachrohr des Fritz Aschinger. Sein Domestik, eine Puppe, die an seinen Strippen tanzt.«
»Nun übertreib mal nicht! Es ist nur natürlich, dass du Angst hast. Vor ein paar Monaten warst du noch in Schönberg, und deine Zukunft sah düster aus, nun aber bist du der persönliche Sekretär des reichsten Mannes von Berlin. Das kann einen schon durcheinanderbringen.«
»Es kann morgen alles zu Ende sein, wenn er es will.«
»Du musst dich Aschinger unentbehrlich machen. Eines Tages wirst du wissen, was du alles kannst, und dich dann von ihm lösen. Du bist ein Rosenstein, und die sind eigentlich nicht dafür geschaffen, Befehle entgegenzunehmen. Du wirst es schaffen, ich bin mir da ganz sicher.«
Am nächsten Morgen meldete sich Sebastian leicht verschlafen, jedoch pünktlich bei Aschinger. Dieser wirkte verknittert, war aber blendender Laune und sprühte vor Energie.
»Wir haben heute einen hektischen Tag vor uns, Johnny. Wir müssen das Pensum für die nächsten drei, vier Tage schaffen, denn heute Abend fahren wir nach Paris.«
Sebastian sah erstaunt den Chef an. Aschinger sah zwar aus, als sei er durch die Heißmangel gedreht worden, aber seine Augen leuchteten glücklich.
»Sieglinde kommt mit«, fügte Aschinger hinzu. »Wir werden mal ein paar Tage ausspannen.«
Es war also passiert. Die Hessin hatte ihm die Freuden der Liebe gezeigt. Das Arbeitstier, das nur an seine Geschäfte dachte, an die Geldvermehrung, an die Verbesserung des Speiseangebotes, vergaß dies alles und folgte dem Ruf der Sirene nach Paris. Er, der jede Frau in Berlin haben konnte und dennoch auf ihre Avancen bisher nie reagierte, ließ sich in einer einzigen Nacht becircen und umkrempeln. Ein notorischer Junggeselle spielte plötzlich den Lebemann.
»Ich habe meinen Schneider ins Kontor bestellt. Er wird mit dir nachher Frack und Anzüge anprobieren. Bei deiner Figur brauchst du ja keine Maßanzüge. Schließlich wollen wir uns unter tout Paris nicht blamieren. Die Franzosen blicken ohnehin auf uns Deutsche ein wenig hochnäsig herab.«
»Ich soll mit nach Paris?«, staunte Sebastian.
»Natürlich, was dachtest du denn? Kannst du ein bisschen Französisch?«
»Nein«, gab Sebastian zu.
»Na, das macht nichts. Wir steigen im Ritz ab, da kommt man auch mit Deutsch und Englisch zurecht.«
Dann wurde es turbulent. Die Post wurde diesmal im Eiltempo durchgegangen, und eine Sitzung jagte die andere. Der übliche Mittagstisch wurde durch ein mit Buletten belegtes Brötchen ersetzt. Am Nachmittag kam Harry Damrow zu ihm.
»Ich habe ein Anliegen«, begann er vorsichtig.
»Es tut mir leid, wir haben heute wenig Zeit.«
»Bitte, wirf nur einen Blick darauf! Ich halte die Idee für knorke, aber Herr Aschinger hat sie im Frühjahr verworfen. Er hielt sie für zu unseriös und albern. Aber sie ist emotional, lustig und kann zu einem Begriff werden.«
Nun war Sebastian doch neugierig geworden. Außerdem mochte er Harry Damrow, der ganz in seinem Beruf aufging und oft gute Einfälle hatte. »Na, dann zeig mal her!«, forderte er ihn auf.
Harry Damrow öffnete die Mappe und legte die Entwürfe auf den Tisch. Sie zeigten eine Straßenbahn ohne Fahrer, ein Fußballtor ohne Torwart, ein Taxi ohne Chauffeur, eine Braut ohne Bräutigam, immer mit der Unterschrift: Wo ist Otto? Unter der mit ein paar Strichen hingeworfenen Zeichnung stand: Er isst bei Aschinger.
Sebastian dachte an das, was er gelernt hatte, an die Maxime der unablässigen Wiederkehr des Gleichen, an das Gesetz der Vertrautheit durch ständige und doch nuancierte Wiederholung, und nickte. »Das ist eine gute Idee«, lobte er. »Die Zeichnungen müssen sich immer ähnlich sehen, und die Leute müssen süchtig darauf warten, wo Otto nun wieder nicht am Platz ist. Ich werde mit Herrn Aschinger reden. Bereite eine große Kampagne vor, und beleg in den nächsten Tagen alle Berliner Zeitungen! Wir trommeln jeden Tag und in der ersten Woche dreimal täglich in jeder Zeitung. Wenn wir die Botschaft in der Bevölkerung durchhaben, reicht eine Anzeige pro Tag. Mach Sie zweispaltig, fünf Zentimeter hoch mit etwas Freiraum drumherum.«
»Knorke, ich wusste doch, dass es dir gefallen wird!«, freute sich Damrow. Besorgt setzte er hinzu: »Aber es wird viel Geld kosten.«
»Das weiß ich doch. Ich berede das mit Herrn Aschinger. Wir fahren heute Abend nach Paris. Lass mir die Entwürfe hier, dann nehme ich sie mit und rufe dich aus Paris an. Ich werde ihm schon klarmachen, dass dies eine großartige Idee ist.«
»Aber er hat es damals kategorisch abgelehnt.«
»Wir kriegen das schon hin. Wie bist du nur darauf gekommen?«
»Ich war im Kranzler, als neben mir ein Mädchen ihre Begleiterin fragte: Wo ist Otto?, worauf diese sagte, der sei sicher noch beim Aschinger und frühstücke. Da habe ich gedacht, das ist es: Wo ist Otto? Er isst bei Aschinger.«
»Die besten Sachen sind immer ganz einfach.« Sebastian schickte einen glücklichen Menschen hinaus. Er musste sich noch einen neuen Koffer besorgen, denn sein alter war gar zu schäbig, und die neuen Anzüge passten nun wirklich nicht zu dem Pappkoffer aus Schönberg. Da er das Kontor nicht verlassen konnte, schilderte er Elly Proske sein Problem. Diese, eine mütterlich aussehende Mittvierzigerin, die ihn wegen seines Eifers, seiner Höflichkeit und zurückhaltenden Art ins Herz geschlossen hatte, nickte nur.
»Da machen Sie sich keine Sorgen! Ich rufe bei Wertheim an. Man wird Ihnen unverzüglich einen guten Koffer bringen. Wenn Sie mit Herrn Aschinger verreisen, sollte es schon ein Lederkoffer sein.«
»Wie dem auch sei, Sie werden schon das Richtige besorgen.«
»Mach ich, Johnny! Übrigens, bei der Gelegenheit, Sie sollten zu meinen Mädchen im Sekretariat strenger sein.«
»Warum?«, fragte er verblüfft.
»Haben Sie nicht bemerkt, dass alle meine Stenotypistinnen bis über beide Ohren in Sie verknallt sind?«
»Nein«, staunte Sebastian, »ich bin doch nur höflich zu ihnen. Ich bin ja auch nur ein Angestellter.«
»Das sind Sie eben nicht nur. Zudem sind Sie jung und sehen gut aus, da fiebern die doch regelrecht nach einem Wort und einem Lächeln von Ihnen. Sie müssen Abstand wahren, das sind Sie Ihrer Position schuldig. Sie sind für die Mädchen ein Chef, und das müssen die spüren, sonst machen sie sich nur Gedanken, wie es ihnen gelingen könnte, einen solchen Goldfisch einzufangen. Das bringt mir die ganze Abteilung durcheinander.«
»Ich werde mich bemühen, etwas griesgrämiger zu sein und nicht mehr mit ihnen zu lachen«, erwiderte Sebastian und lachte doch, und die Proske stimmte mit ein.
»Es ist sicher alles sehr neu für Sie, nicht wahr?«, fragte sie mitfühlend.
»Ja, manchmal ist es sehr verwirrend. Und jetzt fahre ich ins Ausland, dabei kannte ich vor kurzem nicht einmal Berlin.«
»Sie haben einen guten Einfluss auf den Chef. Er ist nicht mehr so nervös, seit Sie hier sind. Machen Sie weiter so!«, sagte die Proske, zwinkerte ihm zu und ging hinaus.
Am Abend stand er mit dem neuen Koffer wie verabredet am Anhalter Bahnhof. Er hatte sich einen der neuen Anzüge angezogen und fühlte sich so vornehm wie die Reisenden, die mit ihm auf dem Bahnsteig standen, und er merkte, dass ihn manch nachdenklicher Blick traf. Fritz Aschinger war noch nicht da, also ging er zum Bahnhofskiosk und kaufte sich eine Zeitung. In großen Lettern verkündete sie die gewaltigen Zugewinne der Nationalsozialisten bei den Herbstwahlen. Wann wird Hitler Reichskanzler?, fragte die Schlagzeile. Es geht nicht mehr ums Ob, sondern nur noch um das Wann, dachte Sebastian entsetzt. Wenn er weiterhin so Stimmen dazugewinnt, wird dieser unselige Mensch tatsächlich noch Reichskanzler. Er sah nun Fritz Aschinger mit einem Gepäckträger und Toni, dem Chauffeur, herankommen. Neben ihnen trippelte Sieglinde von Weinberg und schwenkte ihre Handtasche.
»Gut siehst du aus, Johnny! Was dir fehlt, ist ein Mantel. Man geht nicht ohne Mantel auf Reisen. Wir werden dir in Paris einen kaufen«, rief Aschinger mit unternehmungslustig blitzenden Augen.
»Ich werde ihm ein paar Krawatten aussuchen. Die mit den Blumen sieht gar zu scheußlich aus. Aber sonst sieht er aus wie ein richtiger Herr«, fügte die Baroness hinzu und warf ihm einen koketten Blick zu.
Nun fuhr der Zug ein, und der Geräuschpegel verstärkte sich. Es kam Bewegung in die wartende Menge. Rauchwolken hüllten sie ein. Der Lautsprecher schepperte. Erregt drängte alles zu den Abteilen. Züge hatten Sebastian schon immer fasziniert, und auch er ließ sich von der Aufregung anstecken. Schon bald würde er in Paris sein, das er nur aus den Büchern von Balzac und Zola kannte. Der Gepäckträger und Toni gingen ihnen mit den Koffern voran. Die Proske hatte Schlafwagenabteile für sie gebucht. Aschinger winkte dem Schaffner, gab diesem ein großzügiges Trinkgeld und bat darum, dass sie nicht gestört wurden und ein Tisch im Speisewagen für sie bereitstand. Das Trinkgeld musste sehr reichlich ausgefallen sein, nach den Verbeugungen des Schaffners zu urteilen. Nachdem der Gepäckträger und der Chauffeur die Koffer verstaut hatten, machten sie es sich im Abteil gemütlich.
Aschinger zog sein Jackett aus, was ihn alles andere als attraktiv aussehen ließ, denn mit den Hosenträgern und dem nun sichtbaren Hängebauch wirkte er nicht gerade wie ein Adonis. Sebastian bemerkte den leicht pikierten Blick der Baroness.
»Nun, Sieglindchen, noch eine Nacht, und morgen früh sind wir in Paris. Du hattest ja recht, man muss auch einmal ausspannen. Dafür, dass du mich aus dem Trott gerissen hast, bin ich dir dankbar. Ich werde mich mit einer tollen Idee revanchieren.«
»Was für eine Idee?«, fragte Sieglinde von Weinberg beunruhigt, und ihre Augenbraue hob sich.
»Lass dich überraschen!«
»Ich mag keine Überraschungen!«, schmollte sie.
Der Zug fuhr an, und Sebastian konnte es nicht fassen. Er würde die Stadt von König Heinrich sehen, der den Franzosen versprach, dass sie jeden Sonntag ein Hühnchen im Topf hätten. Er würde die Stadt Rastignacs kennenlernen. Wie schön und wundersam war doch das Leben!