Читать книгу Der Picassomörder. Huntinger und das Geheimnis des Bösen - Heinz-Joachim Simon - Страница 10

4. Eine ganz normale Kleinstadt.

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Die Blaskapelle spielte das Kufsteinlied. Das Festzelt war bis auf den letzten Platz gefüllt. Huntinger, Mäusel und Schneckenberger saßen hinter den Honoratioren. Der bayerische Kollege wurde von überall her herzlich gegrüßt. Ein geachteter Mann. Die großen Maßkrüge auf den Tischen hatten dafür gesorgt, dass die Stimmung ausgelassen war. Das Bier hatte die Firma Pelzinger gespendet. Das Fest war seit dem frühen Morgen in Gange. Der Lärm nahm solche Formen an, dass man manchmal sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Trunkene Laute und immer wieder die Nationalhymne der Gemütlichkeit: Eins – zwei – gsuffa. Am Ausgang kam es zu kleinen Rangeleien. Die muskelbepackten Ordner klärten dies schnell. So etwas regte hier niemanden auf. Deutsches Schlagergut wurde gespielt: Marmor, Stein und Eisen bricht, … Natürlich hatte der Bayerische Defiliermarsch nicht gefehlt, als der Bürgermeister das Zelt betrat. Es gab die üblichen Festtagsreden über Tradition, bayerisches Brauchtum, Familie, Eintracht und christliche Lebensart. Einige wetterten gegen die Obrigkeit in Berlin. Auch Brüssel wurde nicht verschont.

Nachdem dies die Stimmung vorgeheizt hatte, trat Bürgermeister Pelzinger ans Mikrofon. Auch er bediente zuerst das ‚gesunde Volksempfinden‘. Steuern runter. Weg mit dem Sozialismus. Hartz IV gehört abgeschafft. Danach wurde es interessanter. Man würde ein neues Altenheim bauen. Die Straße nach Dachau würde erneuert werden. Die deutschen Bauern brauchen mehr Subventionen.

Alles klatschte wie wild. Er konnte gut reden, der Herr Bürgermeister. Ein Gesicht wie ein Bauer. Rotwangig, großköpfig, stiernackig. Natürlich im grünen Janker. Spannte ein wenig. Listig funkelnde Augen. Mäusel flüsterte Huntinger zu, dass er wie eine Mettwurst aussah.

„Das ist die eine Seite der Medaille in Steinberg“, sagte Schneckenberger.

Die Rede des Bürgermeisters endete zünftig mit „Ein Prosit auf unsere schöne Stadt!“ Danach Tusch und das übliche „Ein Prosit der Gemütlichkeit!“.

Die Mäusel machte ein Gesicht, als habe sie auf einen Kirschkern gebissen. Was war hier gemütlich, schien sie sich zu fragen.

„Die beiden jungen Männer in der ersten Reihe sind die Söhne des Bürgermeisters. Der Ältere mit dem finsteren Gesicht hat ständig Krach mit seinem Vater. Ist stadtbekannt. Der jüngere Bruder mimt den Playboy von Steinberg. Völlig harmlos. Angebertyp. Die Platinblonde hinter ihm ist die Frau Pelzinger, die in Sachen Mode hier in Steinberg die ungekrönte Königin ist.“

Der ältere Sohn des Pelzinger hatte ein angenehmes Gesicht, fein geschnittene Gesichtszüge und blonde Haare. Auch er trug einen grünen Janker, aber sein Gesicht verriet, dass er hier nur ungern saß. Der Jüngere zeigte zwar auch eine gelangweilte Miene, aber sein Kopf war ständig in Bewegung. Er taxierte unaufhörlich die weiblichen Gäste.

„Was macht der Ältere?“, fragte Huntinger und zog an seiner Pfeife. Er war froh, dass man bei Volksfesten das Rauchverbot aufgehoben hatte. Bayerische Politiker wussten, wie weit sie gehen durften.

„Hat in München Fotografie studiert. Arbeitet bei einer Filmgesellschaft. Ich nehme an, dass ihn der Alte trotzdem eines Tages in die Firma zurückholen wird. Er ist schließlich der Erbe. Der Jüngere taugt nicht zur Firmenführung.“

„Ist über den Älteren etwas bekannt?“

„Sie meinen, ob er straffällig geworden ist? Nein. Hermann ist ein intelligenter Junge. Ich kenne ihn ganz gut. Bin im Steinberger Gemeinderat und deswegen öfter in der Pelzingervilla.“

„Ich dachte, Sie sind aus Dachau.“

„Ja. Natürlich. Aber ich wohne hier. Ich kenne den Ort wie meine Westentasche. Es lebt sich gut hier.“

„Ein schönes Städtchen“, stimmte Huntinger zu.

Vorher hatte er mit Schneckenberger den Ort abgefahren. Hier war die Bausubstanz aus der Zeit vor den Weltkriegen erhalten geblieben. Schöne alte Bürgerhäuser aus den Tagen, als man noch dem bayerischen König zujubelte. Nicht dem Kaiser. Das hier war Bayernland. Hier geisterte der Ludwig, der Neuschwanstein bauen ließ, immer noch auf seinem Schlitten durch die Winternächte. Natürlich hatte auch der Schriftsteller Ludwig Thoma kurzzeitig in Steinberg gelebt. Es gab etliche Braustuben und eine prächtige Zwiebelturmkirche. Über dem Ort thronte ein Barockschloss, das von der Stadtverwaltung genutzt wurde. Vor dem rot gestrichenen Rathaus stand ein Denkmal für die Toten der Weltkriege. Zweimal in der Woche gab es Markt, und die Bauern aus der Umgebung boten frisches Gemüse an. Da kamen selbst Lidl und Edeka nicht mit, wie Schneckenberger betonte.

„Jetzt kommt die Gegenpartei“, flüsterte nun der Kollege.

Gruber betrat die Tribüne und griff selbstbewusst zum Mikrofon. Ein ganz anderer Typ. Hochgewachsen, mit grauen Schläfen, energischen Gesichtszügen, scharfer spitzer Nase. Natürlich auch er in grüner Kluft. Er wiederholte die Litanei von der heilen Welt: Tradition, Brauchtum, Heimat und Familie und dann … Arbeitsplätze, sprach vom Erfolg deutscher Wertarbeit und sicherte zu, dass er zwanzig neue Arbeitsplätze schaffen würde. Beifall folgte. Dann steigerte er sich, schimpfte auf die Regierung‚ die Deutschland dem Sozialismus ausliefern würde. Er steigerte die Tonlage und ‚gab dem Affen Zucker’.

„Wir wollen in Steinberg keine Leute, die nicht richtig deutsch sprechen. Wir wollen keine Fremden, die sich nicht integrieren, die sich auf unsere Kosten vollfressen. Wir wollen kein Multikulti. Wir wollen keine Veränderung. Wir sind und bleiben Bayern! Himmelherrgottsakrament nochmal!“

So ging es weiter, und die Menge im Zelt stimmte ihm johlend zu. Kellnerinnen im feschen Dirndl erschienen und stellten Haxen und Hähnchen auf die Tische. Das war sein Beitrag zum Heimatfest. Wirkungsvolles Sponsoring. Man rief „Hoch soll er leben!“. Gruber hatte die Festgemeinde im Griff. Nun erzählte er von der Gewalt in den Großstädten, von den veränderten Stadtbildern.

„Wenn ich durch München gehe, erkenne ich meine Heimat nicht mehr wieder. Ich bin kein Rassist, natürlich nicht, aber ich sehe dunkle, fremdartige Gesichter, höre allen möglichen Kauderwelsch, aber kein Deutsch. Es läuft etwas schief in Deutschland. Aber wir in Steinberg lassen uns unsere Heimat nicht kaputt machen! Steinberg wird niemals Antalya. Wir reden bayerisch und nicht wie die Kümmeltürken! Himmelherrgottsakrament nochmal!“

Er spielte also den Scharfmacher, und jedes Mal, wenn er auf die Fremden, auf die Ausländer schimpfte, honorierte die Kapelle dies mit einem Tusch.

„Was der redet, klingt ziemlich weit rechts!“, entrüstete sich die Mäusel.

„Ach, man darf das alles nicht so ernst nehmen. Er redet nur so, weil er glaubt, dass die Leute ihn so reden hören wollen. Er will halt wieder Bürgermeister werden.“

„Populist! Widerlich!“, zischte die Mäusel.

„Beim Bier sind die Leute bei uns alle Maulhelden. Aber die NPD hat hier keine Chance.“

„Ist mir schon klar!“, fauchte die Kommissarin. „Mehr rechts könnten die auch nicht sein!“

„Allerdings spielen auch die Sozis keine Rolle“, fuhr der bayerische Kollege ungerührt fort. „Die Linken gibt es bei uns nicht. Ich weiß, dass sich dies für Sie aus der Großstadt alles ein bisschen … provinziell anhört. Aber wir sind hier auf dem Land. Da ändert sich so schnell nichts und in einer Volkspartei gibt es eben sone und solche.“

„Und wer ist die elegante Frau mit den beiden jungen Männern und dem hübschen Mädchen, die Gruber so begeistert zujubeln?“

„Seine Frau und seine Kinder. Auch zwei Buben, mit denen der Vater nicht so glücklich zu sein scheint. Oliver, der Blonde dort, arbeitet in einer Werbeagentur in München. Hat scheinbar noch keine Lust ins Geschäft einzusteigen. Nun ja, der Vater ist ja noch rüstig. Torsten, der jüngere Gruber, hat gerade mit seinem Studium angefangen.“

„Und das hübsche Mädchen?“

„Unsere Stadtschönheit. Das Nesthäkchen der Familie Gruber. Lebt die meiste Zeit in München.“

„Verlobt? Verheiratet?“

„Nein. Obwohl sich halb München um sie reißt, von Steinberg ganz zu schweigen. Sie studiert Kunstgeschichte und Archäologie. Was Mädchen aus reichem Hause halt so studieren.“

Pelzinger und Gruber, das also waren die Herren dieser gemütlichen kleinen Stadt, ohne die nichts lief, die sich lustvoll bekämpften, aber letztendlich wohl am gleichen Strang zogen. Huntinger stopfte seine Pfeife neu. Man stellte ihm ungefragt eine neue Maß auf den Tisch.

„Wir haben also zwei mächtige Familien, die je zwei Söhne haben, die im weitesten Sinne im künstlerischen Bereich tätig sind, wenn man Werbegrafik und Film als Kunst bezeichnen will“, fasste Mäusel das Gehörte zusammen.

Schneckenberger bekam große Augen. Fast erschrocken fragte er: „Um Gottes willen, Sie sehen eine Verbindung zu den Picassomorden? Nein, da sind Sie auf der falschen Fährte. Es sind ehrbare Familien. Die Jungen sind nirgendwo irgendwie aufgefallen. Jedenfalls ist mir nichts bekannt. Was sie natürlich in München treiben, entzieht sich meiner Kenntnis.“

„Auch keine Jugendstreiche?“, fragte Huntinger stirnrunzelnd und zog an seiner Haggis.

„Ja, da war mal was. Aber harmlos. Und schon lange her. Hermann Pelzinger hat mal so etwas wie die Hell’s Angels in Steinberg aufziehen wollen. Sind mit Harley Davidsons durch den Ort geknattert. Hat ihm der Vater aber bald ausgetrieben.“

„Das ist doch sicher nicht alles?“, stieß Huntinger nach und stocherte spitzbübisch lächelnd in seiner Pfeife. Schneckenberger wand sich ein wenig und räusperte sich.

„Nun ja. Schon. Es wurde eine Frau überfahren. Gott sei dank nichts Ernstes. Fahrerflucht. Sie gab an, dass es jemand auf so einem ulkigen Motorrad gewesen war. Man hatte natürlich sofort die Harley-Davidson-Fahrer in Verdacht. Haben sich immer beim Easy Rider getroffen, einer kleinen Motorradhandlung im Ort. Ein Alt-Achtundsechziger. Aber harmlos. Motorradfreak. Die Untersuchung hat man bald eingestellt. Sie hatten zur Tatzeit alle ein Alibi.“

„Hat der Herr Bürgermeister …?“

„Nein. Pelzinger hat nicht nachgeholfen. Ich habe die Untersuchung zwar nicht geführt, kenne aber den Kollegen. Nein. Da ist nichts. Streichen Sie den Jungen, wenn Sie ihn auf Ihrer Liste haben. Hermann ist in Ordnung. Übrigens, heute Abend gibt es einen kleinen Empfang im Rathaus. Alte Tradition am Ende des Heimatabends. Es treffen sich dort alle, die bei uns wichtig sind. Die Apotheker, die drei Ärzte, die Anwälte, der Kaplan, die Brauhausbesitzer, die Restaurantbesitzer und Ladeninhaber. Auch die Grubers werden da sein. Einfach alle, die in Steinberg wichtig sind. Ich nehme Sie gern mit. Sie können sich dann vielleicht ein noch besseres Bild machen. Die Veranstaltung im Zelt ist um zweiundzwanzig Uhr zu Ende. Dann trifft sich alles noch einmal zu einem kleinen Nachtmahl im Rathaus.“

„Aus welchem Grund? Sie sitzen doch hier schon den ganzen Tag zusammen?“, wunderte sich Mäusel.

„Ach, das gehört zum Gesellschaftsleben in einer Kleinstadt. Da sind wir, sagen wir mal so, unter uns.“

„Die High Society von Steinberg!“, höhnte Mäusel. „Der hier herrschende Klüngel. Arbeiter und Verkäuferinnen sind sicher nicht dabei.“

„Ist schon gut, Maus“, mahnte Huntinger.

„Wir leben hier nach den alten Maßstäben. Bei uns gibt es noch oben und unten. Bei uns ist der Polizist noch kein Bulle, sondern wird geachtet. Außerdem bin ich im Gemeinderat“, verteidigte sich Schneckenberger etwas beleidigt.

„Können Sie uns denn so einfach mitbringen?“, fragte Mäusel mit funkelnden Augen. „Ich gehöre doch auch zu denen da unten.“

„Ich stelle Sie als das vor, was Sie sind. Man wird Sie mit großer Achtung empfangen. Bei uns gilt die Obrigkeit noch etwas. Es ist eine andere Welt als euer Berlin.“

„Wir in Berlin sind alle furchtbar dekadent. Bei uns herrschen spätrömische Zustände. Alles wird infrage gestellt. Familie, Kirche, Staat“, übertrieb die Kommissarin lustvoll und bekam dafür einen erschrockenen Blick von Schneckenberger.

„Wir kommen gern mit“, beendete Huntinger den Disput. „Das Bier ist übrigens wirklich ausgezeichnet.“

Schneckenbergers Miene lockerte sich, und er wollte sofort eine weitere Maß für Huntinger bestellen.

„Nein, lieber Kollege, lassen Sie es gut sein. Wir Preußen sind an so viel Bier nicht gewöhnt.“

Huntingers Handy summte. Er nahm es aus der Jackentasche und sah auf das Display. „Berlin“, sagte er lapidar.

„Pressel?“, fragte Mäusel.

Huntinger nickte und nahm ab.

„Nein, nichts Neues. Wir kommen erst morgen zurück“, sagte er zu seinem Gesprächsteilnehmer. „Der Tatort geht mir nicht aus dem Kopf. Es muss etwas zu bedeuten haben, dass der Mord vor dem Konzentrationslager geschah. Wir klopfen hier noch ein wenig das Umfeld ab. Ja, tschüss. Bis dann.“

Später, im Rathaus, war bereits die Hautevolee versammelt. Die Stimmung war auch hier heiter, aber lange nicht so trunken und ungezügelt wie im Festzelt. Man stand in einem schönen Saal, mit Fresken aus großbayerischer Zeit, plaudernd zusammen. Es gab Schnittchen mit Lachs, Krabben und allen möglichen Wurstsorten, und wer wollte, konnte eine kräftige Gulaschsuppe essen.

„Ich stelle Sie dem Herrn Bürgermeister vor“, sagte Schneckenberger eifrig.

„Maus, Sie nehmen sich mal die Grubers vor, die beiden jungen Männer. Ich werde den Pelzingers auf den Zahn fühlen.“

„Sie glauben immer noch, dass die jungen Leute etwas mit unserem Fall zu tun haben könnten?“, fragte Schneckenberger bestürzt.

„Kollege, Sie wissen doch … reine Routine. Wir möchten nur ausschließen, dass … Und im Übrigen, der einzige Anhaltspunkt, den wir haben, ist doch, dass unsere Galeriebesitzerin einen jungen Freund hatte.“

„Natürlich. Verstehe“, erwiderte der Kollege mit rotem Kopf.

Er nahm Huntinger beim Arm und bugsierte ihn durch die Menge zu einer Gruppe, in der Pelzinger das große Wort führte.

„Wir haben gute Aussichten, dass die Wellness-Group ein Hotel mit Golfplatz in Steinberg baut. Das würde uns noch mehr Touristen bringen und zusätzliche Arbeitsplätze. Wir müssen uns aus dem Schatten Dachaus lösen.“

Er sprach weiter über die Möglichkeiten, die dadurch für den Ort entstehen würden, was einige bestritten, da sich diese Gäste doch hauptsächlich auf dem Golfplatz und im Hotel aufhalten würden.

„Auf jeden Fall bedeutet es Arbeitsplätze, und das erhöht die Kaufkraft bei uns!“, entgegnete Pelzinger ärgerlich. Widerspruch schien er schlecht zu vertragen.

Es ging noch eine Weile hin und her. Als das Gespräch versandete, stellte Schneckenberger den Kollegen aus Berlin vor.

„So, so? Sie sind aus der Hauptstadt? Und was machen Sie in unserem schönen Steinberg?“, fragte Pelzinger, auf den Zehenspitzen auf- und abwippend.

„Herr Huntinger sieht eine Verbindung zwischen einem Mord in Berlin und einer alten Sache in Dachau.“

„Ach so? Ich erinnere mich. Dieser seltsame Mord vor dem ehemaligen Konzentrationslager. Verstehe. Und was machen Sie bei uns?“, setzte er misstrauisch hinzu.

„Die Tote hatte doch bei uns im Ziegelbräu übernachtet“, sagte Hermann, der ältere Sohn.

„Soll eine scharfe Puppe gewesen sein. Vielleicht hatte sie hier ein Date“, warf der kleine Möchtegernplayboy grinsend ein.

„Aber bei uns ist doch nichts passiert“, widersprach Pelzinger mit ärgerlichem Blick auf seinen Jüngsten.

„Nein, das nicht. Aber warum hat sie nicht in Dachau übernachtet, sondern hier in Steinberg? Das versuchen wir herauszubekommen“, erklärte Huntinger ruhig.

„Na ja, was sein muss, muss sein. Schnecki, halte mich auf dem Laufenden. Hermann, du kümmerst dich um unseren Gast aus Berlin. Ich muss mich jetzt noch mit dem Gruber Georg über den Hotelkomplex unterhalten.“

Er zog Schneckenberger mit, führte ihn beiseite und redete energisch auf ihn ein.

„Sie sind in der Filmwirtschaft tätig?“, fragte Huntinger an Hermann gewandt, dabei aber Schneckenberger im Auge behaltend.

„Ja. Ich bin Regieassistent bei der Bavaria-Film.“

„Sie drehen gerade?“

„Ja. Einen Kriminalfilm mit Esther Clausen.“

„Ach ja“, sagte Huntinger mit unbewegter Miene.

„Nichts dolles. Fürs Fernsehen“, fügte der junge Pelzinger hinzu. Er war mit seinem offenen, gut geschnittenen Gesicht und den wachen Augen so recht das Bild eines jungen Mannes, den sich jede Frau als Schwiegersohn wünscht. Er war der Robert Redford-Typ, strahlte Selbstsicherheit und Sportlichkeit aus. Wahrscheinlich würde er sein ganzes Leben lang jugendlich wirken.

„Und was sagt Ihr Vater dazu?“

„Bingo. Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Der war überhaupt nicht begeistert“, prustete der jüngere der Brüder. Es schien ihn mächtig zu amüsieren. „Hermann ist nun mal kein business man.“

Sein Bruder stöhnte. „Hör auf, Siggi, du etwa?“

„Nö. Mit Zahlen hab ich es auch nicht so.“

„Ich habe mich schon immer für Kunst interessiert“, fuhr Hermann Pelzinger ernst fort. „Da ich sonst keine künstlerischen Fähigkeiten habe, boten sich Fotografie und Film an. Die Firma kann später auch ein angestellter Manager führen. Es hat natürlich gedauert, bis mein Vater dies akzeptierte. Eigentlich hofft er immer noch, dass ich … Für ihn ist die Wurstfabrik natürlich sein Leben, abgesehen vom Bürgermeisteramt.“

„Und, planen Sie auch mal bei einem eigenen Film Regie zu führen?“

„Oh ja!“, erwiderte der junge Mann begeistert und offensichtlich froh, von seinen Plänen erzählen zu können. „Ich habe da eine Idee, für die ich einen Mitproduzenten suche. Dann könnte ich endlich meine Vorstellungen von einem guten Film verwirklichen.“

„Was ist das für eine Idee?“

„Kennen Sie Cocteaus La Belle et la Bête?“

„Nein.“

„Ein Scheißfilm!“, fiel der jüngere Bruder ein. „Stinklangweilig. Null Action!“

„Rede nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst!“, fuhr Hermann seinen Bruder an. „Es ist ein interessanter Film, wie alle Arbeiten von Cocteau. Ich stelle mir eine moderne, nicht so mit Mythologie überfrachtete Version vor. Ein Mädchen kommt in ein großbürgerliches Haus zu Besuch. Sie erfährt, dass vor Jahren hier ein Mord passiert ist, der nie aufgeklärt wurde. Auf einer Abendgesellschaft ihr zu Ehren lernt sie den Sohn des Hauses kennen und verliebt sich sofort in ihn. Seine guten Manieren und sein Charme verzaubern sie. Doch bald muss sie erkennen, dass er eine gespaltene Persönlichkeit hat. In einer Nacht, als sie durch ein Geräusch aufwacht, erkennt sie in ihm das Biest, ein katzenhaftes Wesen, das rastlos durch das Haus wandert. Ihre Liebe besänftigt das Biest, und es gesteht ihr unglücklich den Jahre zurückliegenden Mord. Hinter der Maske des schönen Jünglings verbirgt sich also ein fremdes Wesen, die Schattenseite seines Charakters. Er ist gut und böse zugleich. Als sie erkennt, dass das Biest wieder zu töten bereit ist, schwankt sie, ob sie den Jüngling anzeigen soll. Es bleibt offen, ob sie ihn der Polizei verrät. – Das ist die Grundidee. Sie muss natürlich noch ausgebaut werden. Ich habe da einen jungen, interessanten Drehbuchschreiber an der Hand, der diese Idee weiterentwickeln wird.“

„Haben Sie schon einmal so einen Schwachsinn gehört?“, prustete Siegfried Pelzinger.

„Ich finde die Idee interessant. Ich habe gerade in München Die Schöne und das Biest gesehen. Irgendwie ähnelt das Ihrer Grundidee.“

„Ach das. Nein“, erwiderte der junge Pelzinger leidenschaftlich. „Das Musical beruht auf einem französischen Roman aus dem 19. Jahrhundert. Mein Biest ist ein moderner Mensch, der das Gute will, doch immer wieder dem Bösen verfällt. Haben wir nicht alle mehr oder weniger das Biest in uns? Es soll ein Film werden, wie ihn auch Chabrol machen würde. Eine Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. Er soll an die Untiefen erinnern, die unter der Firnis der Wohlanständigkeit liegen.“

„Mögen Sie die bürgerliche Gesellschaft nicht?“

„Mögen? Sehen Sie sich doch die Leute an, die hier sind. Kann man diese Leute mögen?“, fragte er mit geringschätzigem Lachen.

„Er hasst diese Leute“, sagte der Bruder grinsend. „Brüderchen hatte nur zwei Möglichkeiten. Er konnte Kommunist werden oder Künstler. Mit diesen Filmideen kann er seinen Hass abreagieren und braucht nicht die rote Fahne zu schwingen.“

„Du redest Schwachsinn, Siggi. Wie immer. Denk lieber mal darüber nach, ob dich Vater ewig den Kleinstadtplayboy spielen lässt.“

„Ihm wird gar nichts anderes übrig bleiben“, erwiderte dieser kichernd und zog, mit den Händen wedelnd, ab.

„Entschuldigen Sie. Mein Bruder ist ein Kindskopf“, sagte Hermann Pelzinger.

„Haben Sie Ihrem Vater von dieser Filmidee erzählt?“

„Leider. Er hält sie natürlich für spinnert und will mir nicht das Geld für die Verwirklichung geben. Dabei verdienen wir mit der Wurstfabrik wahrlich genug. Selbst bei Harrods in London oder auf der Park Avenue in New York bekommen Sie Wurstwaren unserer Firma. Doch ich werde Vater schon noch weichklopfen. Aber, mich interessiert Ihre Arbeit. Haben Sie denn schon etwas gefunden, was auf den Täter im Dachauer Mordfall schließen lässt?“

„Ach, wir verfolgen da auch so eine Idee!“, übertrieb Huntinger, denn er hatte ja nichts anderes, als dass der Täter ein Serienmörder war und ein junger Mann sein könnte, der von Picassobildern besessen war. „Über den Stand der Ermittlungen darf ich leider nichts sagen. Es ist alles noch sehr vage.“

Hermann zuckte mit den Achseln. „Da kann man nichts machen. Aber Sie haben einen interessanten Beruf.“

„Sehen Sie, und ich finde Ihren Beruf faszinierend.“

Schneckenberger kam zurück und nahm Huntinger, nach einem freundlichen Kopfnicken zu dem jungen Mann, beim Arm.

„Ich möchte Ihnen auf jeden Fall noch Georg Gruber vorstellen.“ Schneckenberger zog den Hauptkommissar weiter, der mit einem Achselzucken zum jungen Pelzinger andeutete, dass es ihm leid täte, das Gespräch nicht weiterführen zu können.

„War der Bürgermeister unzufrieden mit Ihnen?“, fragte Huntinger den Kollegen schmunzelnd.

„Na ja, er ist natürlich nicht gerade glücklich, dass Sie in Steinberg recherchieren. Er wollte nur, dass ich ihn informiere, sobald Sie etwas herausfinden. So läuft das bei uns. Ich würde ihm natürlich keine Dienstgeheimnisse verraten oder gar Ihre Vermutungen weitergeben“, setzte er schnell hinzu.

„Natürlich nicht“, bestätigte Huntinger. Das Zucken um seine Mundwinkel sah Schneckenberger nicht.

Georg Gruber stand breitbeinig neben dem Buffet und wetterte über die politischen Zustände.

„Man stelle sich das vor! Die in Dachau entblöden sich nicht, sogar eine Städtepartnerschaft mit einem israelischen Kaff anzustreben. Ausgerechnet die Dachauer. Kotau vor den Juden. So weit sind wir gekommen.“

„Georg, ereifere dich doch nicht so!“, versuchte ihn seine Frau zu beruhigen. „Ist doch noch gar nicht sicher, dass die Juden mitspielen.“

„Und wie die mitspielen werden, und die Berliner werden ‚Hosianna‘ rufen und Geld hinterherschmeißen. Nicht, dass ich was gegen Juden habe, aber dass wir uns so anbiedern, geht mir gegen die Hutschnur. Es ist peinlich!“

Nachdem er genügend Dampf abgelassen hatte, schob Schneckenberger Huntinger vor.

„Darf ich Ihnen Hauptkommissar Huntinger aus Berlin vorstellen.“ „Ein Hauptkommissar aus Berlin?“, fragte der Inhaber der Landmaschinenfabrik erstaunt.

Schneckenberger erzählte ihm den Grund und Gruber nickte bestürzt. „Ich erinnere mich. Eine fürchterliche Geschichte. Es ist eine Schande, dass der Mord noch nicht aufgeklärt ist“, bekam Schneckenberger sofort eine Rüge verpasst. „Ich hoffe, Sie werden den Fall bald lösen“, wandte er sich an Huntinger.

„Wir geben uns Mühe“, antwortete dieser. Er sah zur Mäusel hinüber, die sich angeregt mit den drei jungen Grubers unterhielt.

„Ich glaube nicht, dass es jemand aus unserer Stadt war. Bestimmt irgendein Penner, der den Dachauern eins auswischen wollte!“, sagte Georg Gruber bestimmt. „Wir aus einer Kleinstadt, wo jeder jeden kennt, sind alle ganz normale Leute. Wenn bei uns einer auffällig wäre, wüsste es die ganze Stadt und selbst die Polizei.“

Seine Zähne bleckten den armen Schneckenberger an.

„Da mögen Sie sicher recht haben“, gab Huntinger zu.

„Sie können jedenfalls mit unserer Unterstützung rechnen, nicht wahr, Schnecki? Das wird Ihnen auch sicher unser bombastischer Bürgermeister gesagt haben.“ Er warf einen unwilligen Blick zu dem Konkurrenten und Parteifreund hinüber. „Es ist ja auch eine unheimliche Vorstellung, dass so ein Verrückter noch frei herumläuft.“

Als sie später das Rathaus verließen, lud Huntinger den Kollegen noch zu einem Absacker ins Hotel ein, welches gleich neben dem Rathaus lag. Im Bräustübl, einer gemütliche Gaststube mit Bildern von Ludwig Thoma, Karl Valentin und Liesl Karstadt, bestellte Huntinger nach kurzer Nachfrage drei Dunkelbier.

„Nun, hat es Ihnen etwas gebracht?“, fragte Schneckenberger.

„Sie halten den jungen Hermann Pelzinger für völlig harmlos?“ „Absolut. Ich kenne den Jungen von Kindesbeinen an. Sind Sie etwa zu anderen Erkenntnissen gekommen?“

„Hm“, brummte Huntinger. „Seltsame Ideen hat er schon.“ Er erzählte von Cocteau und dem Filmprojekt, und Schneckenberger lachte.

„Ach das. Mir hat er auch davon erzählt“, winkte Schneckenberger ab. „Die Filmleute sind alle ein bisschen überspannt.“

Huntinger dachte an Esthers großen Regisseur und musste Schneckenberger insgeheim recht geben.

„Wussten Sie, dass Cocteau ein Freund von Picasso war?“, fragte die Mäusel eifrig. „Sie waren ziemlich dicke, wobei es Cocteau war, der Picassos Freundschaft suchte. Während der Nazibesetzung ging die Freundschaft in die Brüche, weil Cocteau wohl etwas zu sehr mit den Nazis geflirtet hat, jedenfalls war er mit Breker dicke. Nach dem Krieg haben sie sich wieder versöhnt. Beide sind oft in Arles und Nîmes zum Stierkampf gegangen.“

„Donnerwetter. Sehr gut, Maus“, lobte Huntinger, und die Mäusel bekam vor Freude einen roten Kopf.

„Nee, geben Sie nichts auf die Cocteaugeschichte. Der Junge ist ein gerader Halm“, verteidigte Schneckenberger den jungen Pelzinger. „Die Filmleute sind doch alle durchgeknallt.“

Huntinger musste schmunzeln. Was würde Esther wohl zu dieser Bemerkung sagen? Er würde sie auf jeden Fall über den Regieassistenten ausfragen. Sie mussten sich ja gut kennen. Nach einer Runde Himbeergeist verabschiedeten sich die Polizisten voneinander.

„Sehe ich Sie morgen wieder?“, fragte Schneckenberger.

„Nein. Wir befragen morgen noch einmal hier das Hotelpersonal. Das war es dann wohl. Sollten wir weiterkommen, halte ich Sie auf dem Laufenden.“

„Ja. Bitte. Nicht nur wegen Pelzinger“, fügte er schnell hinzu, weil Huntinger schmunzelte. „Ich werde ihn damit beruhigen, dass der Dachaumord nichts mit Steinberg zu tun hat.“

„Es ist noch viel zu früh, um irgendwelche Schlüsse zu ziehen.“

Nachdem Schneckenberger sich verabschiedet hatte, sagte die Mäusel: „Ich kenne Sie, Chef. Die Gespräche heute haben doch etwas gebracht.“

„Nicht viel, Maus. Wer ist dieser Cocteau?“

„Ein französischer Künstler. Maler, Dichter, Bühnengestalter, Filmproduzent. Machte alles Mögliche.“

„Besorgen Sie mir doch einmal Material über ihn. Der junge Pelzinger hatte da ziemliche krause Ideen. Und wie war es bei Ihnen?“

„Sie sagen mir nicht alles!“, schmollte die Mäusel.

„Ach, es hat höchst wahrscheinlich nicht viel zu sagen. Ich will nur unter jedem Stein nachschauen. Was war nun mit den jungen Grubers?“

„Nichts. Ganz normale Kinder reicher Eltern. Keiner von ihnen scheint große Lust zu haben, die Firma zu übernehmen. Es ist das gleiche wie bei den Pelzingers. Die Väter haben etwas aufgebaut, und die Kinder wollen nichts davon wissen. Das Mädchen ist eine Zicke, oberflächlich und eingebildet. Verwöhnte Göre. Der Ältere hat Grafik studiert. Er kennt sich auch in Kunst gut aus. Wir haben über Baselitz, Polke und die Leipziger Schule gesprochen. Aber wenn man jeden, der sich mit moderner Kunst auskennt, verdächtigen würde … Ein Picassofan ist er jedenfalls nicht. Allerdings liebt er Anselm Kiefer, der sich ja auch mit den Schrecken des Nationalsozialismus’ auseinandergesetzt hat. Und da die Tote vor dem KZ gefunden wurde, könnte man …“

„Sie wissen wirklich gut Bescheid“, lobte Huntinger. „Was würde ich in diesem Fall bloß ohne Sie tun?“

Die Mäusel glühte vor Stolz. „Manchmal ist eine gute Halbbildung nicht zu verachten. Haben wir es dann …?“

„Gehen Sie ruhig schon hoch. Ich werde noch einen Spaziergang machen.“

„Einen Spaziergang? Sie haben doch noch etwas vor?“

Die Mäusel kräuselte unwillig die Stirn.

„Nein. Ich kann beim Gehen besser denken. Außerdem haben wir heute so viel getrunken, da tut mir die frische Luft gut.“

Nach einem skeptischen Blick erhob sich die Mäusel und ging.

Huntinger betrat die Straße und atmete tief die frische Luft ein. Er schlenderte gemächlich unterhalb des Schlosses die Straße nach München hinunter. Als er mit Schneckenberger den Ort abgefahren war, hatte er am Ortsausgang eine Bar entdeckt. Der Name City-Bar war nicht besonders originell und für diese Kleinstadt auch etwas großsprecherisch, zumal sie nicht einmal in der City lag. Die Neonreklame zeigte eine Windmühle, welche wohl auf Montmartre hinweisen sollte. Er ging hinein und setzte sich an die Theke, wo ihm eine etwas ramponiert aussehende Blondine erfreut entgegenlachte und ihn nach seinen Wünschen fragte. In den Nischen gegenüber dem Tresen saßen mehrere Pärchen. An einer Stange bemühte sich ein Mädchen verführerisch auszusehen. Huntinger bestellte einen Calvados.

„So etwas trinkt man bei uns nicht“, sagte die Blonde, die eine Schürfwunde an der Stirn hatte. Ihren Hals hatte sie mit einem Tuch bedeckt.

„Aber ich habe einen guten Johnny Walker Black Label. Sie sind zum ersten Mal bei uns?“, fragte die Blondine und stellte ihm das Getränk hin, nachdem Huntinger zustimmend genickt hatte.

„Stimmt.“

„Sind Sie Handelsvertreter?“

Huntinger schüttelte den Kopf. „Nein. Aber es stimmt schon. Ich bin geschäftlich hier.“

Die Blondine überlegte, als müsse sie eine schwierige Aufgabe lösen und sagte schließlich: „Sie sind sicher einer der Fleischgroßhändler und waren beim Pelzinger.“

„Ich war mit Pelzinger zusammen, ja“, gab Huntinger zu.

„Ich wusste es“, freute sich die Blondine. „Ich habe einen Blick dafür, was die Menschen sind.“ Sie beugte sich vor, zeigte ihm ihre beträchtliche Büste und flötete: „Darf ich auch etwas trinken? Vielleicht ein Piccolöchen?“

„Was kostet das?“

„Dreißig Euro. In München müssten Sie mehr zahlen. Hundertfünfzig die große Flasche. Für echten Champagner löhnen Sie 300 Euro!“

„Damit unsere Unterhaltung nicht so schnell unterbrochen wird, öffnen Sie eine große Flasche … aber deutschen Sekt.“

„Au, fein. Sie sind ein Kavalier“, kiekste die Bardame. Sie holte aus dem Kühlschrank eine Flasche der Nobelmarke Haussekt, öffnete sie routiniert und stellte zwei Gläser auf den Tresen.

„Ich bleibe beim Whisky.“

„Darf meine Kollegin da hinten auch mittrinken? Sie hatte heute noch keinen Gast.“

„Meinetwegen“, sagte Huntinger und machte eine einladende Handbewegung.

„Ich heiße Elvira“, hauchte die Blonde und winkte ihrer Kollegin zu. Diese kam hüftschwenkend heran und setzte sich zu Huntinger.

„Ich heiße Helga.“

Auch sie hatte Spuren von Verletzungen, die sie nur notdürftig mit einem Schal verdeckte.

„Seid ihr alle erkältet?“, fragte Huntinger und wies auf den Schal. „Nein. Das war ein Unfall. Wir hatten beide einen Unfall“, erwiderte die Blondine schnell und goss die Gläser voll. „Der Herr ist ein Fleischgroßhändler. War beim Pelzinger“, sagte sie zu ihrer Kollegin. Sie prosteten ihm zu.

„So ganz stimmt das nicht“, entgegnete Huntinger und zog seinen Dienstausweis. „Ich komme gerade von Pelzinger. Aber ich bin von der Kripo.“

Die Mädchen erstarrten, als hätten sie das Biest aus dem Musical gesehen.

„Was wollen Sie von uns? Wir haben bereits ausgesagt“, hauchte Helga.

„Aber Sie haben nicht alles gesagt. Und das, meine Damen, wird Ihnen eine Menge Ärger einbringen. Behinderung der Justiz, vielleicht sogar Beihilfe bei der Verschleierung eines Mordes. Der, der Ihnen das angetan hat, könnte nämlich ein Mörder sein.“

„Ein Mörder?“, hauchte Helga.

„Ein Mörder! Sie können froh sein, dass er Sie nicht umgebracht hat.“ „Wir haben alles gesagt“, fauchte die Blondine und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Beschreiben Sie den Mann nochmal.“

„Nun, er war so um die Vierzig. Trug einen Anzug. Ein richtiger Herr. Alles war normal. Wir gingen ins Separee und plötzlich drehte er durch und schlug und würgte uns.“

Die Bardame knetete bei dieser Aussage nervös die Hände und warf ihrer Kollegin einen warnenden Blick zu. Also doch, sagte sich Huntinger.

„Der Hergang mag ja stimmen. Aber es war kein älterer Mann, sondern ein junger, nicht wahr?“

„Nein. Bestimmt nicht“, sagte die Blonde schnell. Viel zu schnell.

„Er hat Ihnen Geld gegeben?“

„Ein paar Hunderter. Nachdem wir ihn angeschrien haben, ist er plötzlich zur Besinnung gekommen. Es tat ihm leid, er gab uns Geld und verschwand.“

„Seid ihr registriert?“

„Nein. Wir sind doch keine Huren“, empörte sich Helga.

„Nun, ich könnte den Laden hier schließen lassen. Ruft doch mal den Geschäftsführer!“, bluffte Huntinger.

„Nein. Bitte nicht. Wir sind beide Rumäniendeutsche. Wir sind froh, dass wir diese Arbeit haben.“

„Dann heraus damit! Wer war der Mann?“

„Wir kennen ihn nicht“, wiederholte die Blondine. „Wirklich nicht.“ „Es war ein junger Mann?“

„Vielleicht war er doch etwas jünger. Ich kann das so schlecht schätzen“, gestand Helga, die Huntinger auch nicht so abgebrüht erschien wie die Blondine.

„Du kannst ja noch nicht mal einen Achtzehnjährigen von einem Achtzigjährigen unterscheiden! Sie ist noch nicht lange im Geschäft“, warf die Blondine ein.

„Jetzt reicht’s mir aber! Ruft den Geschäftsführer.“

„Na gut“, gab die Blondine nach. „Er war wohl etwas jünger.“

„Wie jung?“

„Na, so … Vielleicht so …“ Die Blondine zog einen Flunsch, krauste die Stirn und sagte schließlich in fragendem Ton, als sei sie sich nicht sicher: „Vielleicht so um die Fünfunddreißig?“

„Wohl eher um die Fünfundzwanzig?“, entgegnete Huntinger.

„Möglich. Auch das ist möglich“, gab die Blondine zu. „In der Bar ist es ja auch so dunkel. Da kann man sich ganz schön täuschen.“

„Und Sie kannten ihn?“

„Nein. Bestimmt nicht“, erwiderten sie im Chor.

„Er hat Sie geschlagen, gewürgt?“

„Ja. Wie ein Tier ist er über uns hergefallen.“

„Wie ein Tier?“ Huntinger stutzte. „Was für ein Tier?“

„Na, wie ein Tier.“

„Löwe, Tiger, Stier?“

Die Frauen sahen sich verwundert an.

„Ja, wie ein Stier“, erwiderte Elvira achselzuckend.

Huntinger lächelte zufrieden. „Wem gehört die Bar?“

„Warum? Wir haben Ihnen doch alles gesagt.“

„Heraus mit der Sprache. Sonst muss ich …!“

„Der Geschäftsführer ist Herr Bullrich. Aber ihm gehört sie nicht. Es soll ein reicher Geschäftsmann in Stuttgart sein.“

„Ich lade euch für morgen vor, wenn ihr mir jetzt nicht sagt, wer der junge Mann war, der euch so zugerichtet hat!“, drohte Huntinger.

„Wir wissen es wirklich nicht“, beteuerte die Blondine.

Die Mädchen hatten Angst, das war offensichtlich. Sie hatten mehr Angst vor dem, der sie geschlagen hatte, als vor der Polizei.

Huntinger trank den Whisky aus. Er war mit dem Ergebnis nicht unzufrieden. Die Investition für Whisky und Sekt war kein schlecht angelegtes Geld gewesen. An die Schläfe tippend verließ er die Bar. Immerhin sind wir ein Stück weitergekommen, dachte er zufrieden. Ihre Angst ließ die Hypothese zu, dass sie den Täter kannten und er von hier war.

Der Mond hing über der Kleinstadt wie ein Lampion. Es könnte hier wirklich schön sein, dachte Huntinger. Aber irgendwo in dieser ganz normalen Kleinstadt mochte der Minotaurus leben. Hatte ihm Hermann Pelzinger mit den Erzählungen über sein Filmprojekt einen versteckten Hinweis geben wollen? Drängte es ihn unbewusst entlarvt zu werden?

Huntinger entlockte seiner Pfeife ein paar kräftige Rauchwolken und ging am Hotel vorbei bis zur Kirche. Die Kirchturmuhr schlug die dritte Stunde. Er blieb stehen und sah hoch. Schlief der Minotaurus bereits oder brütete er darüber, wie er das nächste Picassobild in die Hände bekam? Plante er in dieser Nacht einen neuen Mord? Huntinger fröstelte und vergrub die Hände tief in den Taschen. Langsam ging er zum Hotel zurück. Seine Schritte hallten in den menschenleeren Straßen der ganz normalen Kleinstadt.

Der Picassomörder. Huntinger und das Geheimnis des Bösen

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