Читать книгу Der Picassomörder. Huntinger und das Geheimnis des Bösen - Heinz-Joachim Simon - Страница 9

3. Ein Ort, der die Hölle war.

Оглавление

Huntinger wartete. Er saß in der Lobby des Vier Jahreszeiten in München und wartete auf Esther. Mit ihrer Beziehung stand es in letzter Zeit nicht zum Besten, was hauptsächlich daran lag, dass sie in München und er in Berlin lebte. Wenn ihre Rolle als Kriminalkommissarin sie auch oft in die Studios nach Babelsberg führte, so sahen sie sich doch viel zu selten.

Er beobachtete die Menschen, die hier, wie er, in der Lobby warteten, auf den Geschäftspartner, Freund, Ehemann oder auf ein unvergleichliches Ereignis. Hier, wo sich die Reichen und Schönen versammelten, war es nicht anders als in jeder Bahnhofshalle. Zwar saß er vor einer gut gebrühten Tasse Earl Grey und die Stimmen um ihn herum waren gedämpft, aber trotz aller Blasiertheit des Publikums war doch auch die Erwartung zu spüren, die Hoffnung, dass etwas passierte, was sie aus ihrer Starre erlösen und zu Erlebnissen führen würde, die dem Reichtum dieses Luxushotels entsprachen. Die Lobby war ein Wartesaal des Übergangs, wo man sich aus der Passivität hinaus ins Leben begab.

Das Einzige, was ihm zu seiner Zufriedenheit fehlte, war seine Pfeife, seine geliebte Haggis, die er nicht anstecken durfte, weil die Oberschlauen im Parlament, getragen von ihrem Gutmenschentum, beschlossen hatten, das Rauchen in öffentlichen Gebäuden zu verbieten. Und es war schon abzusehen, dass sie noch anderes verbieten würden. Dabei wusste man doch, wie die Prohibition ausgegangen war. Nun hatte das Rauchverbot dazu geführt, dass die Verkäuferinnen zitternd in der Kälte vor den Geschäften standen und hastig ihre Glimmstängel pafften und mit leeren Gesichtern in die Welt starrten.

Dass sie da war, merkte er an dem veränderten Geräuschpegel. Er sah hoch. Sie hatte die Lobby betreten. Alle Blicke wandten sich ihr zu. Man steckte die Köpfe zusammen, und es war unschwer zu erraten, was sie wisperten. Tatsächlich, es ist die Esther Clausen aus der Krimiserie und vielen anderen Filmen, die nun schon seit fast einer Generation einen schönen Anblick bot, die selbst jetzt, mit um die Fünfzig, zu faszinieren verstand und deren Erscheinung immer noch die Titelseitenmädchen in den Schatten stellte.

Sie hatte ihn erspäht und kam mit schnellen Schritten auf ihn zu. Beugte sich über ihn und gab ihm einen warmen Kuss auf die Lippen, setzte sich und seufzte: „Da bin ich. Puh, das war vielleicht ein Verkehr.“ Sie sah ihn liebevoll an, strich ihm über die Hände und sagte: „Schön, dass du wieder bei mir bist. Wie kommt es, dass du außerhalb unseres Besuchsrhythmus’ nach München kommst?“

Sie hatten miteinander verabredet, sich wenigstens alle vierzehn Tage, entweder in Berlin oder in München, zu treffen, was anfangs ihrer Beziehung guttat, weil jedes Wiedersehen den Zauber des Anfangs erneuerte und bestätigte, aber nun doch etwas eingeschliffen war, wie sie beide mit Sorge beobachteten. Sie hatte ihn gerade vor einer Woche in Berlin besucht und ihn deswegen erst in der nächsten Woche erwartet. Huntinger erzählte ihr von dem aktuellen Fall, und sie schüttelte sich.

„Das ist ja grauenhaft.“

„Ja. Es sieht so aus, als wenn in Dachau das Gleiche passiert ist. Scheinbar war wieder ein Picassobild der Auslöser, und da dachte ich, dass ich die Möglichkeit nutzen sollte dich wiederzusehen.“

„Lieb von dir“, erwiderte sie und strich weiter über seine mit Altersflecken übersäte Hand.

„Meine Kollegin ist bereits in Dachau, und ich werde mich morgen mit ihr treffen.“

„Die kleine Maus?“, fragte sie stirnrunzelnd und schürzte die Lippen. Sie wusste von Huntinger, dass die Mäusel das Sorgenkind des Hauptkommissars war, er sie aber wegen ihrer Intelligenz schätzte. Sie jedoch sah in ihr, der viel Jüngeren, eine mögliche Konkurrenz, was sie sich zwar nicht eingestand, was auch bisher keine Vorwürfe ausgelöst hatte, doch ihr nun zusätzlich Sorgen bereitete. Er nickte.

„Es ergab sich so“, erwiderte Huntinger gelassen. „Maus hat eine gute Kombinationsgabe. Pressel ist zwar tüchtig, aber er verbeißt sich zu leicht in die erstbeste Option und vergisst dann, andere zu prüfen.“

„Ach ja“, stimmte sie hastig zu. „Die Kleine ist sicher bei einem so komplizierten Fall genau die Richtige.“

„Sie hat außerdem mehr Ahnung von Malerei als ich …“

„Seltsam, dass jemand für Picassobilder mordet.“

„Beide Frauen waren der Schlüssel, um an einen Picasso heranzukommen. Und jedes Mal holt er sich ein Bild aus der Minotaurusserie. In beiden Fällen wurden die Frauen mit großer Gewalt erstochen. Selbst die Art der Waffe konnten wir bisher nicht identifizieren. Es ist jedenfalls kein Dolch.“

Huntinger hatte vor ihr keine Geheimnisse. Sie war eine kluge Frau und er schätzte ihr Urteil.

„Hauptsache, du bist hier. Das ist das Wichtigste“, sagte sie, dabei erneut seine Hand tätschelnd.

Der Kellner kam, und sie bestellte einen Bellini. Huntinger gönnte sich einen Calvados.

„So geht es nicht weiter, Charles“, sagte sie, nachdem der Kellner die Getränke gebracht und sie sich zugeprostet hatten.

„Was geht so nicht weiter?“, fragte er erstaunt.

„Wir sollten zusammenziehen. Diese sporadischen Wochenenden sind auf Dauer keine Lösung.“

„Tja, was sollen wir tun? Du bist in der hiesigen Filmszene vernetzt, und ich habe nur mit Mühe erreicht, dass ich von Bochum nach Berlin versetzt wurde. Ich kann mich jetzt nicht nach München versetzen lassen. Man würde es mir rundweg abschlagen.“

„Du kannst es doch versuchen.“

„Es würde nicht klappen“, schloss er dies rigoros und ein wenig verärgert aus. „Warum ziehst du nicht nach Berlin? Du bist doch eine feste Größe im Filmgeschäft. Du drehst oft genug in Babelsberg. Ein Umzug nach Berlin wird dich nicht aus dem Filmgeschäft werfen. Im Gegenteil. Wie ich gehört habe, wird Berlin als Filmstadt immer wichtiger. Und wenn du ein wenig weniger filmen würdest, hättest du mehr Zeit für dich. Wäre doch auch nicht so verkehrt.“

„Ich soll also nach Berlin ziehen?“, fragte sie unzufrieden.

„Tja, das wäre eine Option.“

„Ich wohne seit dreißig Jahren in München und fühle mich hier wohl. Außerdem möchte ich nicht weniger filmen. Ich habe immer gearbeitet, und es war schwer genug, sich ganz nach oben zu boxen. Ich kenne hier die Drehbuchschreiber, die Regisseure und die wichtigsten Produzenten. Ich verhandle gerade über eine Hauptrolle in einer Serie über die Münchener Schickeria und die Rolle der Medien.“

„Gab es das nicht schon einmal?“

„Ach ja? Das weißt du?“, fragte sie spöttisch, da es sie immer etwas ärgerte, dass er vorgab nicht viel fernzusehen, und sie darin auch eine Missachtung ihres Berufsstandes sah.

„Doch. Doch! Ich kann mich gut daran erinnern. Aber es ist schon lange her.“

„Eben. Kir Royal. Mit dem gnadenlos guten Kroetz und der Berger. Die Serie war hammermäßig. Besonders die Episode, in der Mario Adorf den Industriellen spielte und sich den Skandaljournalisten Schimmerlos kauft.“

„Hammermäßig“, erwiderte er ironisch.

„Ich weiß. Ich weiß. Man gewöhnt sich den Jargon halt an. Tut mir leid. Du brauchst nicht gleich auf mir herumzuhacken. Ich muss die Rolle haben, und da kann ich mich nicht auch noch mit Umzugsproblemen herumquälen.“

„Und nach dieser neuen Serie, was kommt dann?“

„Du tust gar nichts zur Lösung unseres Problems“, warf sie ihm unzufrieden vor.

Er schwieg. Was sollte er darauf antworten? Sie liebte ihren Beruf und er seinen. Es lief wohl darauf hinaus, dass er früher oder später diese wunderbare Frau verlieren würde.

„Ich habe uns für heute Abend Karten für ein Musical besorgt“, fuhr sie nach einem Seufzer fort. „Ich muss dahin, weil ich mich dort mit Wolke verabredet habe, der mit mir die neue Serie Champagner bitte durchgehen will. Wir wollen danach zum Italiener gehen.“

„Muss das sein?“, fragte er stirnrunzelnd, da er sich auf einen Abend zu zweit gefreut hatte.

„Ja, leider. Ich konnte doch nicht wissen, dass du plötzlich nach München kommst, als ich die Verabredung traf.“

„Na schön“, gab er nach.

Der Hoteldirektor rauschte heran und begrüßte die Clausen überschwänglich. Diese tat ebenfalls hocherfreut, und es folgten die üblichen Wangenküsse. Huntinger verstand durchaus, dass diese Herzlichkeit angebracht war, schließlich profitierten beide davon. Die Clausen als Gast war eine gute Referenz für die Exklusivität des Hotels, und dafür bekamen Huntinger und sie die Suite stets zu einem Vorzugspreis.

„Esther, ich habe gehört, dass du für Champagner bitte vorgesehen bist.“

„Klopfe sofort auf Holz! Noch ist gar nichts sicher“, wehrte die Clausen stirnrunzelnd ab.

„Wolke hat mir erzählt, dass er dich unbedingt will. Du wärst die ideale Besetzung.“

„Freut mich, dass er dies sagt. Aber da hat der Produzent auch noch einiges mitzureden, und der steht nun einmal auf die Schwarzberg. Du weißt ja, wie das in unserem Geschäft ist. Nichts ist sicher, bis die Verträge unterschrieben sind, und selbst dann kann immer noch etwas mit der Finanzierung schieflaufen.“

„Ich bin sicher, dass es klappen wird.“

Es wurden noch einige Bekannte durchgehechelt, die alle der hiesigen High Society angehörten. Schließlich verabschiedete sich der Hoteldirektor mit einem nachdenklichen Blick auf Huntinger. Er fragte sich wohl, was die glamouröse Clausen an diesem Klotz von einem Mann fand.

„Das Gerücht ist also schon rum“, sagte die Clausen zufrieden, nachdem der Direktor abgerauscht war. „Bestimmt werden in den nächsten Wochen noch andere Angebote eintrudeln. So ist das immer. Wenn man an einer großen Sache dran ist, erinnern sich andere Produzenten wieder an einen und wollen die Publizität nutzen.“

Es war eine Welt, die meilenweit von Huntingers entfernt war, und er wünschte sich wieder einmal, Esther wäre nichts anderes als eine kleine Boutiquenbesitzerin oder Sekretärin, aber nicht der gefeierte Filmstar.

„Was ist denn das für ein Musical?“, fragte er unwirsch.

Die Schöne und das Biest. Es war in Hamburg und Stuttgart ein Riesenerfolg.“

Huntinger zuckte mit den Achseln. Er kannte das Stück nicht. War auch noch nie in einem Musical gewesen. Also würde er sich dreinschicken müssen.

Vorher lernte er im Foyer des Theaters noch Wolke kennen. Esther begrüßte ihn, als würde sie einen alten Liebhaber wiedertreffen, und so war es vielleicht ja auch. Sie umgurrten einander, als sei das Treffen das glücklichste Ereignis ihres Lebens. Nur widerwillig konnten sie sich voneinander trennen, obwohl man doch nachher zu einem leichten Abendessen verabredet war. Das Musical riss Huntinger, einen alten Rock’n’Roller, nun auch nicht zu Begeisterungsstürmen hin. Soweit er es mitbekam, gab es in dem Musical ein Biest, ein katzenhaftes Wesen, das schwer verliebt war, und darüber schlief er dann ein, sodass Esther ihm einige Male den Ellenbogen in die Seite stieß, was ihn aber nicht lange wach hielt. Er schrak beim Schlussapplaus hoch, und Esther klärte ihn auf, dass es eine sensationelle Vorstellung gewesen sei.

„Es hat dir nicht gefallen?“, fragte sie traurig.

„Na ja. Es war ganz nett. Aber hast du eine Melodie im Kopf, die du nachsummen könntest?“

Esthers Verstimmung legte sich erst, als man beim Nobelitaliener zusammensaß und Wolke ihr mitteilte, dass der Produzent nun einverstanden sei, ihr die Rolle zu geben.

„Du musst die Babs mit Ironie spielen, verstehst du?“, gab Wolke die ersten Anweisungen. „Die nimmt das ganze Schickeriagetue nicht mehr ernst und hat die Hohlheit dieser Gesellschaft längst durchschaut. Sie bedauert, dass ihr Geliebter sein Talent für das Schreiben über die Society vergeudet, und deswegen gibt es einen ständigen Kleinkrieg. Langsam beginnt sie ihn zu motivieren, sich auch mal mit sozialkritischen Themen zu beschäftigen, was ihm natürlich nur unter einem Pseudonym gelingt. Sie erfindet also ihren Geliebten neu. Aber das passiert selbstredend erst in der letzten Folge. Vorher gibt es eine Menge Schwierigkeiten, weil er seinen Beruf als Klatschreporter vernachlässigt, sodass die Auflage sinkt. Er wird rausgeschmissen und kommt ziemlich herunter. Die Babs bringt ihn dann auf die Erfolgsspur zurück.“

„Eine tolle Rolle“, freute sich Esther.

„Und was sagen Sie dazu, Herr Huntinger?“, wandte sich der große Regisseur an den Kommissar.

Mit seinen dunklen Haaren, dem verwegenen Lächeln und sorgfältig ausrasiertem Bart sah der Regisseur wie ein Pirat oder, um im Filmmilieu zu bleiben, wie eine ältliche Kopie des Errol Flynn aus. Seine blonde Begleiterin war selbstverständlich wesentlich jünger und nickte bei jedem Wort Wolkes begeistert.

„Ich verstehe davon zu wenig“, wich Huntinger aus.

„Ich habe gehört, dass Sie Hauptkommissar in Berlin sind?“

„Stimmt“, warf Esther ein. „Und ein sehr erfolgreicher“, fügte sie stolz hinzu. „Er arbeitet gerade an einem sensationellen Fall.“

„Darf man erfahren …?“

„Ach, wir arbeiten an vielen Fällen. Berlin ist natürlich ein Schmelztiegel, in dem vieles hochkocht“, versuchte Huntinger auszuweichen.

„Ach, Charles, sei nicht so zurückhaltend. Erzähl doch von dem Picassomörder!“

„Picassomörder?“, fragte Wolke elektrisiert. „Erzählen Sie!“

Und so musste Huntinger noch einmal die Geschehnisse in Berlin und Dachau rekapitulieren, wobei er sich auf das allernötigste beschränkte.

„Was für ein Stoff“, staunte der große Regisseur. „Und die zweite Tote wurde tatsächlich vor dem Konzentrationslager gefunden?“

Huntinger nickte.

„Daraus könnte man etwas machen“, sagte Wolke nachdenklich. „Sie müssen mich unbedingt auf dem Laufenden halten. Werden Sie den Mörder schnappen?“

„Jedenfalls geben wir uns einige Mühe.“

„Toll. Wenn der Stoff sich so sensationell weiterentwickelt, werde ich einen der besten Drehbuchschreiber darauf ansetzen.“

„Und du vergisst nicht, mir darin eine gute Rolle zu geben“, sagte Esther eifrig.

„Natürlich. Wenn der Herr Hauptkommissar mich weiter auf dem Laufenden hält …“, sagte er mit einem Augenzwinkern, was nichts anderes hieß, als dass Esther sich anstrengen sollte, dass der Hauptkommissar ihn weiterhin über den Kriminalfall informierte.

Huntinger fühlte sich benutzt, und seine Stimmung wurde nicht besser, als sich andere Schauspieler, TV-Sternchen und Groupies an den Tisch drängten. Er war froh, als das begeisterte Gekreische und das Gerede über Titanen und Genies ein Ende fand und sie zum Vier Jahreszeiten zurückfahren konnten.

„Du hast ein Gesicht gemacht, als hättest du am liebsten alle verhaftet“, warf sie ihm vor.

„Es ist nicht meine Welt“, brummte Huntinger, verkniff sich aber die Bemerkung über die Oberflächlichkeit und den magelnden Tiefgang der Unterhaltung, was auch nicht Esther anzurechnen war, sondern einer Gesellschaft, die sich der Unterhaltung hingab und in der man mit Schlagzeilensätzen und Anglizismen seine Professionalität auswies. Doch in der Nacht fanden sie wieder zueinander. Der Sex zwischen ihnen war unverändert leidenschaftlich und endete mit liebevollen Zärtlichkeiten. Die trüben Gedanken waren einstweilen gebannt.

Als er am nächsten Tag in Dachau eintraf, wurde er von der Mäusel am Bahnhof abgeholt.

„Hatten Sie einen schönen Abend in München?“, fragte sie mit spitzbübischem Lächeln. Von der Kleinschmidt hatte sie gehört, dass der Chef wohl etwas in München „laufen“ habe.

„München ist eine interessante Stadt, aber nicht so aufregend wie Berlin“, wich er aus.

„München gab in der alten Bundesrepublik den Takt vor. Gegen das neue Berlin kommt es nicht an. Übrigens – ich habe bereits mit Kommissar Schneckenberger Kontakt aufgenommen. Er erwartet uns.“

„Wie ist er?“

„Gemütlich. So wie die Kommissare in Die Rosenheim-Cops. Er macht durchaus einen professionellen Eindruck.“

Huntinger fand Schneckenberger dann auch sehr Rosenheim-mäßig, aber auf eine äußerst sympathische Art. Er empfing sie mit einem herzlichen „Grüß Gott“, ließ Kaffee und Weißwürste kommen und verwöhnte sie mit einer sehr altertümlichen und besorgten Herzlichkeit. Er war in Huntingers Alter, hatte einen Spitzbart, und sein mächtiger Bauch und das rote Gesicht zeugten davon, dass er den Genüssen des Lebens nicht abgeneigt war.

„Es war seit Jahren der erste Mord hier bei uns, und dann noch so ein bestialischer“, klagte er und wies auf die Akten und die Bilder von der Toten auf dem Schreibtisch.

„Er ist vor einem Jahr passiert und wurde bisher nicht aufgeklärt?“, fragte Huntinger, während er die Akten durchblätterte.

„So ist es. Wie schmecken die Weißwürste?“

„Hervorragend“, lobte Huntinger. „Hatten Sie denn gar keine Verdachtsmomente?“

„Keine, die Hand und Fuß hatten. Außer der Annahme, dass es sich um einen jungen Mann handeln könnte, haben wir nichts.“

„Die Tote hat nicht in Dachau, sondern in Steinberg gewohnt?“

„Richtig. Sie hatte sich dort im besten Hotel, im Ziegelbräu, einquartiert. Für zwei Tage. Aber gefunden hat man die Tote ausgerechnet bei uns vor dem Konzentrationslager. Als wenn wir in Dachau damit nicht schon genug zu tragen hätten.“ Er seufzte. „Soll ich noch ein gutes Weißbier kommen lassen?“

„Nein. Danke. Vielleicht später“, wehrte Huntinger ab. „Wir könnten also davon ausgehen, dass sie sich in Steinberg mit ihrem Mörder getroffen hat?“

„Das haben wir auch angenommen. Zumal wir von ihrer Angestellten erfahren haben, dass sie von einem jungen Mann schwärmte, den sie bei einer Vernissage getroffen hatte. Sie sei schwer verliebt gewesen. Aber leider hat die Angestellte den jungen Mann nie gesehen.“

„Das ist doch schon etwas“, brummte Huntinger. Er holte die Pfeife heraus und sah Schneckenberger fragend an, dieser grinste, nickte mit dem Kopf und holte sich eine Zigarre aus der Brusttasche.

„Zum Teufel mit den Vorschriften.“

Sie pafften eine Weile nachdenklich, und die Mäusel wurde gehörig von Rauchschwaden umwabert, was diese aber gleichmütig hinnahm, da sie sich an Huntingers Pfeife gewöhnt hatte.

„Was ist dieses Steinberg für ein Ort?“, fragte sie neugierig.

„Zwölftausend Einwohner. Zwei Fabriken geben dem Ort Arbeit. Die Gruber stellen Landmaschinen her. Die Pelzinger sind Fleischfabrikanten, beliefern ganz Europa und exportieren sogar bis nach Amerika. Diese Weißwürste sind aus ihrer Fabrik. Die beiden Familien bestimmen, was im Ort läuft. Sind einander übrigens spinnefeind. Im Moment stellt Pelzinger den Bürgermeister. Vorher war es Gruber. Beides alteingesessene Familien. Sehr vermögend. Viel Landbesitz. Waren schon vor dem Krieg sehr einflussreich. Beide sind in der CSU und mit den Honoratioren in München bestens vernetzt. Ansonsten ist Steinberg eine gemütliche Kleinstadt, in der kaum etwas passiert. Klar, es gibt hin und wieder mal eine Bierhausschlägerei, aber ansonsten ist es eine richtig gemütliche deutsche Biedermeierstadt. Als würde die Zeit stillstehen. Ich bin gern in Steinberg.“

„Nachdem wir uns den Tatort angesehen haben, würde ich mir gern ein Bild von dem Ort machen.“

„Das trifft sich gut. Heute ist in Steinberg ein Heimatfest, das von den dortigen Brauhäusern initiiert wird. Jeder aus Steinberg wird dabei sein. Ich begleite Sie gern. Ich glaube zwar nicht, dass Sie dort irgendwelche Erkenntnisse gewinnen werden, aber Sie bekommen ein Bild von der Stadt und ihren Bewohnern. Außerdem gibt es dort ein sehr gutes Bier. In dem Hotel neben dem Rathaus habe ich übrigens Zimmer für Sie reserviert.“

„Das ist das Hotel, in dem das Opfer übernachtet hat. Ich habe es mir bereits angesehen. Sehr gemütlich dort“, flocht die Mäusel ein.

„Gut. Dann sehen wir uns jetzt mal den Tatort an.“

„Ich begleite Sie“, sagte Schneckenberger.

Als sie vor dem Tor mit der Aufschrift Arbeit macht frei standen und dahinter die Barackenzeile sahen, lief Huntinger ein Schauer über den Rücken. Es war ein großer, weiter Platz mit exakt ausgerichteten Baracken, die durch eine Pappelallee getrennt waren. Auf den ersten Blick sah es wie eine der Siedlungen aus, wie man sie nach dem Krieg in jeder Stadt gesehen hatte. Es wirkte nun recht friedlich. Nur das Wissen darum, was hier einst geschehen war, machte den Ort unheimlich.

„Sie müssen sich vorstellen, dass hinter diesen Baracken viele weitere standen“, erklärte Schneckenberger.

„Wo hat man die Tote gefunden?“

„Hier, neben dem Julhaus, in dem Würmkanal. Getötet aber wurde sie gegenüber, auf dem Hügel vor der ehemaligen Kommandantur.“

„Warum hat der Mörder sie hierher geschleppt?“

„Tja, warum? Keine Ahnung.“

Als sie über den Platz zu den Baracken gingen und Schneckenberger ihnen die Räume mit den Betten zeigte, schien es Huntinger, als würde er das Stöhnen und die heiseren Schreie der Menschen hören, die hier einmal zusammengepfercht gefangen gehalten worden waren. Schneckenberger erklärte ihnen, wie man die Insassen hier gequält hatte. Mäusel schnupfte mitgenommen in ihr Taschentuch.

Huntinger hatte in seinem Beruf viel Leid gesehen, entsetzliche Morde, aber das Schweigen an diesem Platz und die Vorstellung, was hier einst passiert war, erschütterten ihn mehr als die Toten, die er bisher gesehen hatte.

Die drei gingen durch das Museum, lasen die Inschriften auf den Tafeln und starrten schweigend auf die Zeichnungen der Häftlinge, die das Leid und die Qualen festgehalten hatten.

„In diesem Konzentrationslager geschah Entsetzliches. Unsere Stadt ist nur ein paar Steinwürfe entfernt. Im ganzen Umkreis, müssen Sie wissen, gab es Außenlager, wo sich die Menschen zu Tode schufteten.“

„Und niemand hat dagegen Einspruch erhoben? Niemand hat gesagt, dass Unrecht geschieht?“, flüsterte Huntinger beklommen.

„Doch. Es gab schon einige, aber zu wenige, und das hängt uns immer noch an.“

„Warum hat man den Ort nicht umbenannt?“, fragte die Mäusel. „‚Ich bin aus Dachau‘, sagen zu müssen, ist bestimmt fürchterlich.“

„Was hätte es genützt? In der Welt kennt man unsere Stadt. Es hätte doch sehr nach ‚unter den Teppich kehren’ ausgesehen. Nein, wir müssen damit leben.“

Sie traten aus dem Museum und verließen fast fluchtartig diese Stätte deutscher Verbrechen.

„Und das alles geschah auf Befehl einer Regierung von Verbrechern, und die Menschen in Dachau haben weggesehen“, sagte die Mäusel, als sie durch das Tor des Julhauses hinausgingen.

„Es geschah vor zwei Generationen“, stellte Schneckenberger richtig. „Heute bemüht sich unser Bürgermeister um eine Städtepartnerschaft in Israel.“

„Da kann er sicher lange warten!“, erwiderte die Mäusel.

„Es ist unsere Hoffnung, dass es doch noch klappt. Übrigens, hier lag die Tote mit ausgebreiteten Armen im Wasser, als wollte sie den Mörder noch einmal umarmen.“ Schneckenberger wies zum Würmkanal hin. „Ihr Gesicht, wie sie es auf den Fotos sehen konnten, zeigte so etwas, wie soll ich es ausdrücken, wie Hingabe. Ja. Das trifft es. Wie Hingabe. Sie wurde um neun Uhr gefunden. Die Gedenkstätte war bereits geöffnet. Warum ermordete der Täter sie gegenüber dem Lager? Warum nur? Er riskierte doch eine Entdeckung.“

Huntinger steckte sich seine Pfeife an und brummte nachdenklich: „Habt ihr gecheckt, ob ihre Eltern irgendetwas mit den Nazis zu tun hatten? War sie vielleicht die Tochter oder die Enkelin eines Naziverbrechers?“

Die Mäusel machte sich Notizen in ihrem Blackberry.

„Werden wir abklären, Chef.“

„Könnte ein Ansatz sein“, gab Schneckenberger zu.

„Es ist zumindest eine interessante Arbeitshypothese“, erwiderte Huntinger.

„Mir kommt das alles etwas verrückt vor“, widersprach die Mäusel.

„Dieser Fall ist verrückt“, knurrte Huntinger.

Ein kalter Wind kam ihnen entgegen, und Huntinger schlug den Kragen seines Mantels hoch.

„Ein verfluchter Platz!“, brummte er.

„Ich bin auch jedes Mal froh, wenn ich hier weg bin“, gestand Schneckenberger.

„Man sollte jeden Deutschen zu diesem Platz führen, als Warnung, was passieren kann, wenn man die Regierung Verbrechern überlässt“, erwiderte die Mäusel und sah den Bayern an, als habe dieser in irgendeiner Form mit dem zu tun, was in Dachau einst geschehen war. „Und in Steinberg ist sonst nie etwas Kriminelles passiert?“, setzte sie misstrauisch hinzu.

„Nein. Nur vor zwei Tagen gab es einen Vorfall in einer Bar, der einzigen in Steinberg, bei dem zwei Mädchen fürchterlich zugerichtet wurden. Der Besitzer der Bar hat es selbst gemeldet, aber aus den Mädchen war nichts Verwertbares herauszubekommen. Es sei ein Kunde von auswärts gewesen. Sie wären mit ihm ins Separee gegangen und er sei plötzlich, ohne jeden Grund, durchgedreht. Später habe er sich entschuldigt und ihnen Geld gegeben. Viel Geld. Ihre Angaben waren so ungenau, dass ich glaube, sie wollten ihn schützen. Es war nichts mit ihren Aussagen anzufangen.“

„War es ein junger Mann?“, fragte Huntinger.

„Nein. Sie sprachen von einem Mann im mittleren Alter. Ein Geschäftsmann, seinem Aussehen nach zu urteilen. Sie mutmaßten, dass es sich vielleicht um einen Handelsvertreter handelt.“

„Was waren ihre Verletzungen?“

„Blaue Flecken im Gesicht. Würgemale am Hals. Quetschungen an der Brust. Wie ein Tier muss er über sie hergefallen sein.“

„Wie ein Tier?“, echote Huntinger und zog an seiner Pfeife.

Ein Handy klingelte. Die Mäusel bekam einen roten Kopf und zog es aus ihrem Mantel.

„Ja, Belsen, was ist? Was? Das ist ja ein Ding. Ich werde es gleich dem Chef sagen. Mensch, wir werden wohl den Picassomörder nicht mehr los. Ja doch. Ich sage es ihm gleich. Er steht neben mir. Fordere die Unterlagen von Interpol an. Ich sag’s ja nur. Brauchst nicht gleich beleidigt zu sein.“

Huntinger sah die Mäusel fragend an.

„Chef, Belsen ist bei der Internetrecherche fündig geworden. Vor zwei Jahren gab es in Antibes in Südfrankreich einen ähnlichen Fall. Auch ein Mord an einer Frau. Die gleichen Verletzungen.“

„Antibes?“

„Ja. Nun kommt’s. In Antibes gibt es ein Picassomuseum“, erwiderte die Mäusel, und Huntinger nickte anerkennend.

„Also wieder Picasso. Wer war die Frau?“

„Keine Ahnung. Belsen mailt bereits nach den Unterlagen.“

„Maus, wenn wir zurück sind, eruieren Sie einmal, wo überall Picassoausstellungen sind. Wir brauchen eine Liste, an welchen Orten Arbeiten von ihm ausgestellt werden.“

„Das wird nicht leicht werden. Ich weiß von Museen in Madrid, Barcelona, Paris, und dann gibt es noch die Wanderausstellungen. Es gibt fast kein Museum auf der Welt, das nicht ein paar Picassos hat.“

„Egal. Wir müssen wissen, ob wir noch woanders auf Opfer des Picassomörders treffen.“

„Der Fall wird immer unheimlicher“, stellte Schneckenberger fest und zerrte an seinem Kinnbart.

„Er ist so unheimlich wie dieser Ort.“

Was hat der Picassomörder mit den Naziverbrechern zu tun, fragte sich Huntinger.

„Ich glaube, wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns.“

„Glauben Sie, dass der Picassomörder weiter morden wird?“

„Gut möglich. Sogar wahrscheinlich. Wir haben es mit dem Bösen zu tun.“

Der Picassomörder. Huntinger und das Geheimnis des Bösen

Подняться наверх