Читать книгу Das Brandopfer. Der Fall Finnphon - Heinz-Joachim Simon - Страница 6

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2.

Montag, 15. Januar, 12.00 Uhr – An der Trinkhalle

„Tach zusammen! Hab schon gehört. Ein Elend ist das!“, sagt Mutter Schuricke und schiebt ihnen unaufgefordert das Union zu.

„Einen Kurzen vorher?“

„Jau!“, sagt Atze.

Jennecke nickt.

Jakob denkt: Wie bring ich es Corinna bei? Sie flippt ohnehin bei jeder Kleinigkeit aus, und nun das. Mit Hartz IV bin ich das Haus bald los. Und den Vectra kann ich auch abgeben. Vielleicht können wir wenigstens den Fernseher behalten. Ein bisschen Freude muss der Mensch ja haben.

Sie schieben den Verschluss der Bierflasche hoch, und es macht plopp. Die Bierflaschen stoßen gegeneinander. Sie nicken sich zu. Ernst. Bedeutungsvoll. Sie trinken und räuspern sich. Dann den Kurzen hinterher.

„Halleluja!“, sagt Atze.

„Wirsse jetzt noch fromm, Atze?“, fragt Jennecke.

„Könnte man glatt noch werden. Hasse nicht kapiert? Das war heute unsere Beerdigung.“

„Ich sach ja: Wir hätten doch die Hallen besetzen sollen.“

„Hasse nich gehört? Das wär nach hinten losgegangen.“

„Ist es wirklich aus?“, fragt die Schuricke.

„Glaub schon“, brummt Jakob.

„Dann hasse wenigstens Zeit fürn Jakobsweg“, sagt Mutter Schuricke.

„Was’n das?“, fragt Atze.

„Mannomann, das weisse nich?“, fragt Jennecke entgeistert. „Man kann ja schon ganz schön dumm sein, aber das grenzt schon wirklich an Gehirnmissbrauch. Der Hape ist doch darauf rumgelatscht und hat darüber ‘n Tagebuch geschrieben und damit ‚ne Menge Kohle gemacht. Weisse nich?“

„Der Kerl, der auf Beatrix gemacht hat?“

„Genau!“

„Cleveres Kerlchen.“

„Tja, die machen Millionen, und wir sind im Arsch!“, stöhnt Jennecke.

„Belämmer uns nicht!“, brummt Atze. „Ich kannz nich mehr hören!“

„Man muss den Tatsachen ins Augen sehen“, kontert Jennecke.

„Werden schwere Zeiten!“, stimmt die Schuricke zu. „Das geht auch an mir nich vorbei. Das Geld für leckere Pilschen wird knapp werden.“

„Ach was!“, widerspricht Jennecke. „Wenn die Not am höchsten, ist der Durst am größten.“

„Gib mir mal ’n Underberg. Mir ist die ganze Sache auf den Magen geschlagen“, sagt Atze.

„Seit wann bisse denn auf Underberg?“, wundert sich Jennecke.

„Hilft dem Vatter aufs Fahrrad!“, sagt Atze.

Mutter Schuricke reicht ihm die mit braunem Papier umwickelte kleine Flasche. Atze schraubt sie auf, trinkt und räuspert sich.

„Ah, tut das gut! Das Zeug wirkt sofort! Ein wahres Lebenselixier! Sind Wunderkräuter drin. Weiß ich von einem, der bei Underberg gearbeitet hat. Die Underbergs haben das Rezept von einer Waldfee.“

„Nun hör dir das an!“, schnaubt Jakob.

„Ja doch! Das Rezept wird seit Generationen vererbt. Immer weiter auf die nächste. Seit Jahrhunderten. Iss ‘n großes Familiengeheimnis. Wird in einem alten Keller aufbewahrt. Wenn das mit dem Erben klar ist, geht Vattern mit dem Erben inn Keller runter und schließt die eisenbeschlagene Truhe auf und verklickert dem das Geheimnis, verstehsse? So geht das.“

„Hör mit dem Bohei auf!“, wehrt Jakob ab.

„Ehrlich. So läuft das bei denen. Auf jeden Fall ist das Zeug gut.“

„Er hat schon recht!“, steht ihm Mutter Schuricke bei. „Von all den Magenbittern ist Underberg der beste. Hilft immer über den Berg.“

„Gib mir lieber noch ’n Union“, sagt Jennecke.

„Mir auch“, melden sich die andern.

Jakobs Blick wandert zu der Kastanie neben der Trinkhalle. Er stutzt und wischt sich über den Mund.

„Guckt mal! Da liegt ein toter Vogel.“

„Wassen Vogel?“, fragt Krüger.

„ Da unterm Baum.“

„Tatsächlich!“, staunt Jennecke, geht mit der Bierflasche in der Hand zum Baum und stößt den Vogel mit dem Schuh an.

„Ein Habicht oder so was. Iss schon am Verwesen.“

Sie schauen traurig den Vogel an. Jakob zieht fröstelnd die Schultern hoch. Er mag Greifvögel. Sieht sie gern kreisen. Sind mutig und stark und stolz – wie Könige, denkt er. Nur dass sie auch hinter den Tauben her sind, gefällt ihm nicht. Der Vogel gehört nicht hierher. Nicht hier in die Stadt, und schon gar nicht hat er hier tot herumzuliegen. Er hat am Himmel zu kreisen und ein König zu sein. Der tote Vogel erinnert ihn an seine eigene Lage.

Auch mit dem Fliegen war es nun vorbei. Vorbei mit Urlaub in Torremolinos. Eigentlich konnte sich Corinna nicht beschweren. Hatten immer Urlaub gemacht. Nicht etwa zelten. Das war früher. Er denkt an die Urlaube in Jesolo. Die Blagen waren damals noch kleine Würmer. Er hat das Zelt vor Augen. Mit dem ersten Opel waren sie damals runtergefahren. Jau, da war Corinna noch richtig rattich gewesen. Wund hat man sich gebumst. Eine gute Zeit. Später war es dann Torremolinos gewesen. Ach nein, zuerst Lloret de Mar. Damals war dort der Schnaps noch billig. Man bekam Osborne und Carlos III für ein paar Peseten. Nein, Corinna konnte sich nicht beschweren. Aber sie tat es. Dauernd mosert sie rum, dass die und die nicht arbeiten muss und sie sich in der Reinigung abschuftet und schwere Pakete hebt. Für nicht einmal sechshundert Euro. Münte hat recht mit dem Mindestlohn. Ein feiner Kerl, der Münte. Nun ja, ist ja auch Sauerländer. Sauerländer sind in Ordnung. Wissen, was zählt. Kennen sich aus, wie die Leute denken.

„Noch ’nen Kurzen?“, fragt Mutter Schuricke.

Die Männer sehen sich an.

Jennecke nickt.

„Für das dritte Bein“, sagt Atze.

Mutter Schuricke schenkt ein. Sie stürzen den Schnaps runter, schütteln sich und löschen das Brennen im Magen mit Bier. Eine gemütliche Stimmung kommt auf.

War ‘ne gute Zeit, als Mister Tausend Volt Gilbert Becaud Et maintenant sang, denkt Jakob. Er sieht sich in Lloret de Mar an der Bar stehen, und der Sänger, ein schmalhüftiger Zigeuner mit langen schwarzen Haaren, versucht sich als Becaud. Er sieht Juanita neben sich. Ihr Knie berührt sein Bein. Schwarze lange Haare, dunkle Augen. Mächtig viel Holz vor der Tür. Aber Corinna war dabei. Also lief nichts. Mensch, jung müsste man noch einmal sein. Mit fuffzig ist alles schwerer. Die Rente noch nicht in Sicht, und trotzdem wird man ausgemustert. Dabei kann er sich noch sehen lassen. Die zehn Jahre Altersunterschied waren nie aufgefallen. Siehst ein bisschen aus wie Schimanski, hatte die Alte von Jennecke mal zu ihm gesagt. Na ja, die hatte immer übertrieben. Schließlich hatte Schimanski keinen Bauch.

„Klimawandel!“, sagt Jennecke plötzlich.

„Wass meinsse?“, fragt Atze.

„Klar doch. Der Klimawandel macht uns alle fertig. Der Vogel iss deswegen auch über die Wupper. Ich sach: Wir gehn alle kaputt!“

„Wir?“, fragt Atze erstaunt.

„Wir! Ja watt denn?“, dröhnt Jennecke. „Unn ich sach euch: Wenn die Chinesen alle ein Auto haben, dann gute Nacht, Marie. Das Eis wird wie Butter in der Pfanne schmelzen. Der Meeresspiegel wird um einen Meter steigen. Dann geht die Nordsee bis nach Hamburg, Leute, und dann wird halb Niedersachsen absaufen!“

„Stimmt!“, bestätigt Mutter Schuricke. „Ständig brechen riesige Eumel von den Eisbergen ab. Hab ich im Fernsehen gesehen. Allet iss am Kippen.“

„Und das alles, weil die Chinesen ein Auto haben wollen?“, fragt Krüger.

„Ja!“, donnert Jenecke. „Kannze mir glauben!“

„Diese Chinesen“, staunt Atze. „Man müsste denen das glatt verbieten.“

„Was uns zusteht, musse denen doch auch zustehen. Du hass doch selbst ‘ne Karre, du Eumel.“

„Allet iss am Kippen“, wiederholt Mutter Schuricke. „Die schöne Mutter Erde wird noch ersticken.“

„Haben Jahrtausende gut auf ihr gelebt, und nun machen wir unseren eigenen Planeten platt!“, klagt Jennecke an.

„Ich hab gelesen, dass die Rinder beim Furzen zu viel Gase ablassen. Datt soll an der Erderwärmung mehr Schuld haben als datt Zeug aussem Auspuff“, sagt Jakob. „Pass auf, hinterher dürfen wa noch nicht ma Fleisch essen.“

„Iss auch ungesund“, meint Jennecke.

Die trübsinnige Stimmung droht sie zu überwältigen, und Jakob bestellt schnell eine neue Runde.

„Man müsste eine Weltregierung schaffen, die wirklich das Sagen hat und auf unsere Erde aufpasst“, sagt er nachdenklich.

„Hör auf, du träumst!“, motzt Jennecke.

„Tja, wir müssten alternative Energien entwickeln“, fährt Jakob fort, als hätte er ihn überhört. „Mit den Windrädern allein wird das nichts.“

„Vielleicht hat Angie doch recht, dass man auf die Atomkraftwerke nicht verzichten sollte“, wirft Mutter Schuricke ein.

„Nee. Willsse denn Tschernobyl zurück?“, fragt Jennecke entgeistert.

„Nee. Das auch wieder nich!“

„Na siehsse!“, trumpft Jennecke auf. „Jedenfalls iss der Vogel schon mal mausetot. Und bald sind wir dran.“

Sie trinken eine Weile schweigend.

„Seht mal, wer da kommt!“, sagt Krüger.

Wolkenstein eilt über die Straße. Wie immer baumelt eine schwarze Ledertasche an seiner Seite. Wolkenstein ist stadtbekannt. Der rasende Reporter vom Stadtanzeiger. Wo was los ist, ist auch Wolkenstein, den alle nur Wolly nennen. Ein Schnellredner und Zyniker vor dem Herrn. Die langen grauen Haare hinten zum Zopf zusammengebunden gibt er den letzten Achtundsechziger. Trotz seiner Neugier, seiner Spottlust und Häme mögen ihn die Kumpels. Aber es bleibt eine Distanz. Schließlich ist er ein Studierter. Trau niemand mit Abitur. Die wollen nur hoch hinaus. Wer sich nicht die Finger schmutzig macht, gehört nicht zu ihnen. Trotzdem haben sie das Gefühl, dass Wolly meistens ganz in Ordnung ist.

Leutselig die Hand schwenkend tritt er an die Trinkhalle.

„Tachchen, Leute!“

Typ langer Lulatsch. Der Anzug schlottert förmlich um seinen Körper.

„‘N Union“, sagt er zur Schuricke und wendet sich den Kumpels zu.

Seine Visage scheint heute Trauer zu tragen.

„Finnphon hat euch ganz schön gefickt.“

„Kannze laut sagen“, bestätigt Jennecke.

„Und? Was wollt ihr dagegen tun?“

„Was sollen wir schon dagegen tun können?“, fragt Krüger genervt und starrt missmutig die Straße runter. Es regnet immer noch. Der Asphalt glänzt vor Nässe. Doch das Dach der Trinkhalle schützt sie.

„Mann, wollt ihr euch das gefallen lassen?“, fragt Wolly und wischt sich mit dem schmutzigen Taschentuch das feuchte Gesicht ab. „Ihr müsst denen einheizen! Auf die Barrikaden gehen, Randale machen! Ihr müsst denen zeigen, dass fünf Finger eine Faust sind. So wie wir es in den Sechzigern gemacht haben. Was anderes verstehen die da oben nicht. Überall gehen Jobs verloren. Deutschland geht vor die Hunde, und die Reichen werden immer reicher. Mannomann, was seid ihr für Schlappschwänze! Euch haben sie gründlich enteiert!“

„Du redest Scheiße!“, bellt Krüger.

„Was können wir denn groß tun?“, wehrt sich Jennecke. „Wir wollten ja das Werk besetzen und so. Aber der Betriebsrat hat uns zurückgepfiffen. Wir würden damit nur die Verhandlungen stören.“

„Ach, die Gewerkschaft hat auch keine Cojones. Die sollte mal einen Generalstreik ausrufen. Erst wenn alle Räder im Land stillstehen, werden die da oben endlich kapieren, dass sie nicht so mit den Menschen umspringen können.“

„Cojones, wassen datt?“, fragt Krüger.

„Du hast gut reden“, brummt Jennecke ablehnend. „Du hast ’nen sicheren Job und kriegst ’ne Menge Kohle. Gerade du willst uns sagen, was wir zu tun haben?“

Wolkenstein nimmt einen Schluck Bier. Wie die anderen hat er das Bierglas abgelehnt und trinkt aus der Flasche. Ihre Mienen lassen ihn spüren, dass er keiner von ihnen ist. Sie lassen sich zwar seine Reden gefallen, aber seine Meinung zählt nicht. Doch auch er ist im Schraubstock. Er braucht eine Story, braucht mehr als die Erklärungen der Finnphon–Pressestelle oder die der Gewerkschaft. Wozu bezahle ich Sie eigentlich?, ist der ständige Vorwurf des Chefredakteurs. Jeder hat jemanden, der ihm im Nacken sitzt.

„Ihr müsst etwas machen, was wirklich für Aufsehen sorgt. Etwas, was die Menschen aus den Sesseln hochspringen lässt. Ihr müsst für Bilder sorgen, die auch ins Fernsehen kommen. Bilder, die klarmachen, was Finnphon hier anrichtet. Bilder, die an dem Finnphon–Image kratzen. Wer will schon ein Handy, das mit der Not der Menschen bezahlt wird? Das ist eure Chance! Sorgt für etwas, was in die Medien kommt!“

„Wass soll’n das sein?“, fragt Jennecke.

„Was weiß ich. Ihr müsst schon selbst draufkommen.“

„Du kannz auch nur reden!“, klagt Atze.

„Biss auch ein Waldi!“, setzt Jennecke verächtlich hinzu.

„Und glaubsse wirklich, dass bei Randale die Arschlöcher da oben einen Rückzieher machen?“, fragt Jakob.

„Glaub ich. Garantieren kann ich es natürlich nicht.“

„Natürlich nich!“, echot Jennecke spöttisch.

„Na, ihr wisst jedenfalls, dass ich auf eurer Seite bin“, sagt Wolkenstein, trinkt das Bier aus und rülpst.

„Ich muss weiter. Dann tschüss miteinander!“

Er hebt grüßend die Hand und läuft in den Schneeregen.

„Bürohengst!“, ätzt Atze hinterher. „Hat sicher ’n tolles Apartment und ‘n rattenscharfes Weib, das es ihm tüchtig besorgt …“

„Und die einen stehn im Dunkeln und die anderen stehn im Licht und die einen sieht man immer und die anderen sieht man nicht!“, zitiert Jennecke.

Er kennt seinen Brecht. War schließlich oft genug auf Gewerkschaftslehrgängen.

„Was willsse denn damit sagen?“, fragt Atze.

„Dreigroschenoper“, antwortet Jennecke stolz. „Kennt doch jeder. Hasse schon mal was von Mecki Messer gehört?“

„Klar doch. Issen Lied von Louis Armstrong.“

„Mannomann!“, stöhnt Jennecke.

„Noch ’ne Runde? So jung kommt ihr nicht mehr zusammen!“ animiert Mutter Schuricke.

„Nee. Lass man. Wir hamm schon einiges intus“, wehrt Jakob ab. „Wenn ich besoffen nach Haus komme, gibt’s Zoff. Wird ohnehin schlimm genug. Sowieso keine Ahnung, wie ich der datt beibringen soll.“

„Das wird ein Janken geben“, stimmt Atze zu.

„Scheißweiber!“, sagt Jennecke.

Jakob weiß, dass Jenneckes Alte mit einem jungen Kerl durchgebrannt ist. Seitdem ist Jennecke auf Frauen nicht gut zu sprechen. War ja auch ein steiler Zahn. Klar, dass er so eine nicht halten kann, wenn sich für die ‘ne günstigere Gelegenheit ergibt, denkt Jakob. Wenn Corinna was gefunden hätte, wär sie sicher auch auf und davon. Ob sie ihm treu war? Es gab da nebenan so einen feinen Pinkel. Arzneimittelvertreter. Immer tipptopp angezogen. Oh ja, er hat gemerkt, wie sie sich ansehen. Corinna hat sich gut gehalten. Ist ja auch zehn Jahre jünger als er. Er hatte sie nebenan bei Edeka kennengelernt. War dort Kassiererin. Hatte ihm gleich gefallen. Blond, schwindelerregend lange Beine und ordentlich Holz vor der Hütte. Konnte selbst jetzt noch gut einen Mini tragen. Damals war er noch auffen Pütt gegangen. Hatte sich erst geziert, das Biest. Obwohl er immer picobello schick in Schale zu Edeka gegangen war. So als Blickfänger. Aber dann hatte er sie doch rumgekriegt. Im ersten Astra war es passiert. Mann, war die dann abgegangen. Wo hatten sie nicht überall gefickt. Nun, das hatte sich in letzter Zeit mächtig gegeben. Jetzt musste er ganz schön rummachen, ehe sie ihn ranließ. Aber wenn sie den Kerl von nebenan sah, streckte sie ganz schön die Brust raus. Was anfangen würde der sicher gern mit ihr, doch zwei fremde Blagen lädt sich der feine Pinkel bestimmt nicht auf.

Es hat zu regnen aufgehört.

„Gehn wir?“, fragt Jennecke.

Sie zahlen.

„Kinder, es wird schon wieder. Irgendwie“, sagt Mutter Schuricke.

Sie nicken. Gehen die Straße runter. An der Kirche des Heiligen Franziskus vorbei. Die Kirchturmuhr schlägt die volle Stunde.

„Mittagszeit. Ich hab Hunger. Gehen wir zu McDonalds“, schlägt Atze vor.

Viel Jungvolk im Laden. Sie bestellen Big Mac und Cola und setzen sich.

„Schmeckt wie Pappe“, murrt Atze.

„Du wolltest doch hierher“, brummt Jennecke. „Musse Ketchup drauf tun, dann schmecksse nichs mehr.“

Sie essen lustlos. Die Wirkung des Alkohols lässt nach. In drei Monaten wären sie ohne Arbeit. Hier läuft wenigstens der Laden. Alle Plätze sind besetzt. Bei McDonalds ist immer was los. Mac, Ketchup, Cola. American Way of Life. Auch Amerika ist auf den Hund gekommen. Mit James Dean hat es damals angefangen, denkt Jakob. Dann kam Elvis und sein Jailhouse Rock. Amerika, das waren Straßenkreuzer, John Wayne und Marlboro. Das Land der Freiheit. Total abgewirtschaftet. Das kommt davon, wenn man J.R. Ewing zum Bush–Häuptling macht. Dabei hat der Kerl sich die erste Präsidentschaft ergaunert. Nun, auch das Öl wird langsam zur Neige gehen. Hoffentlich wird es dann nicht zu kalt.

„Das wär’s wohl“, sagt Atze und wischt sich den fettigen Mund ab. „Schauderhafter Fraß!“

„Die haben jetzt auch Fisch“, sagt Jakob mechanisch, mit den Gedanken ganz woanders.

Er schaut sich die andern Gäste an. Sie tragen das Zeug, was auf den Ständern vor den Läden hängt. T–Shirts mit albernen Sprüchen. Die Kinder sehen übergewichtig aus.

„Was meint ihr zu dem Quatsch, den Wolly von sich gegeben hat?“, fragt Jennecke.

„Alles Blödsinn!“, wehrt Krüger ab.

„Ich fand das gar nicht so doof. Wir müssen die Welt aufrütteln!“, gibt Jakob dem Journalisten recht.

„Glaubsse vielleicht, datt dann die Welt sich um Bochum kümmert?“, fragt Atze skeptisch. „Eher wird Schröder noch mal Bundeskanzler.“

„Wenn es wenigstens die Macker bei Finnphon aus ihren verfurzten Gesäßschalen hochschrecken würde, datt wär schon was. Vielleicht kriegense dann Schiss und machen alles rückgängig.“

„Ja? Und womit willsse se hochschrecken?“, fragt Atze.

„Weiß nicht“, gibt Jakob zu. „Was Unerhörtes müsste datt sein.“

„Mach keinen Scheiß!“, warnt Atze.

„Ich doch nicht. Nee, wenn ich Scheiße baue, packt Corinna die Koffer.“

„Weiber!“, schnaubt Jennecke. „Wenn man sie braucht, dann spielen se nich mit.“

„Was willse machen? Letztendlich bestimmen die Weiber den Lauf der Welt“, tönt Atze.

„Du hass den Nagel auf den Kopf getroffen. War schon seit dem Trojanischen Krieg so“, sagt Jennecke.

„Watt für’n Krieg?“

„Ohne Weiber lebt’s sich ruhiger“, mirakelt Jennecke.

„Iss aber verdammt langweilig“, korrigiert Jakob.

Sie stehen auf und gehen hinaus.

„Da läuft der Herr sei mit euch“, sagt Jennecke und deutet auf den schwarz gekleideten Mann, der ihnen lächelnd entgegen kommt.

„Der hat uns gerade noch gefehlt“, sagt Krüger.

Pfarrer Wiebel kommt mit rudernden Armen auf sie zu. Sein Silberhaar glänzt feucht. Sein Lächeln verschwindet und macht einer sorgenvollen Miene Platz. Jennecke brummt etwas Unverständliches. Er mag keine Kirchenmänner.

„Hab von eurem Unglück gehört. Das ist ja furchtbar. Dreitausend werden auf der Straße stehen. Absolut unakzeptabel, was Finnphon mit euch macht.“

Er macht eine Geste, als wolle er sie umarmen. Sie sind seine Schäfchen. Er kennt sie alle. Er kennt sie fast von Kindesbeinen an.

„Tja, und kein Gott greift ein“, sagt Jennecke feindselig.

„Weiß Ihre liebe Frau es schon?“, wendet sich Wiebel an Jakob.

Im Gegensatz zu Jennecke ist Jakob ein Kirchgänger. Corinna schleppt ihn jeden Sonntag zum Gottesdienst. Sie war in den letzten Jahren fromm geworden. Geht Freitag immer zum Frauenkreis. Weiß Gott, was die Weiber dort tun. Am Samstagnachmittag besucht sie Kranke und Alte. Nun ja, dagegen ist nichts einzuwenden. Man muss seinen Mitmenschen helfen. Sieht er auch ein. Wenn nur dieses ewige Gesinge in der Kirche nicht wäre. Nichts gegen Jesus. War ein guter Mann. War einer von ihnen. Muss von der Zimmermannsarbeit derbe Fäuste gehabt haben. Aber er würde nie kapieren, warum Gott wollte, dass er sich kreuzigen ließ. Was war damit gewonnen? Und jetzt kreuzigen sie uns, dachte er verbittert. Die da oben finden immer einen Grund, uns abzuservieren.

„Nein“, sagt Jakob. „War noch nicht zu Hause.“

„Man darf die Hoffnung nicht aufgeben“, sagt Wiebel, die Hände vor dem Bauch gefaltet.

„Die Hoffnung stirbt zuletzt“, assistiert Atze.

Auch Atzes Frau ist eine eifrige Kirchgängerin. Aber er geht nicht mit. Schließlich tagt am Sonntagvormittag der Taubenzüchterverein. Tauben sind seine Leidenschaft, genau so wie sein Wildwestspleen. Damit hat er genug am Hals: Im Sommer treffen sie sich mit Gleichgesinnten aus dem ganzen Revier auf einer Wiese zwischen Bochum und Herne und spielen Wildwest, haben sogar richtige Tipis und ein Fort. Unser John Wayne, nennen ihn die Kollegen bei Finnphon.

„Der Herr wird uns beistehen“, sagt Wiebel salbungsvoll. „Ich werde für euch beten.“

„Na, dann brauchen wir uns ja keine Sorgen mehr machen“, höhnt Jennecke.

Wiebel schüttelt mitleidig den Kopf.

„Oh, Jennecke, was sind Sie doch für ein unverbesserlicher Heide.“

„Bin ich. Das Kirchengeld kann ich selbst gut gebrauchen.“

„Eines Tages werden Sie zu Gott finden. Er wartet auf Sie.“

„Na so was! Hat er nichts Besseres zu tun? Sollte sich lieber darum kümmern, dass wir wieder Arbeit bekommen. – Was tut die Kirche eigentlich für die Leute bei Finnphon?“

Wiebel seufzt.

„Wir haben leider nicht die Macht, viel zu tun. Aber ich werde einen Brief an den Bischof schreiben. Ganz bestimmt wird der sich auf eure Seite stellen. Wir wissen doch, wie es hier im Revier aussieht. Die Kirche ist immer auf der Seite der …“

„Mühseligen und Beladenen, ich weiß“, schnitt ihm Jennecke mit einem theatralischen Augenaufschlag das Wort ab. „Kennen wir alles. Aber was nützt es? Von der Bergpredigt allein werden unsere Kinder nicht satt.“

„Schön, dass Sie wenigstens die Bergpredigt kennen. Doch dann wissen Sie auch, dass Jesus mit euch ist.“

„Dann soll er mal die himmlischen Heerscharen mobilisieren und den Herren von Finnphon eins auf den Deckel geben. Aber die Heerscharen konnten ja selbst Ihm nicht helfen.“

„Es tut sich immer ein Weg auf“, widerspricht Wiebel streng.

„Halleluja!“, ruft Atze und präsentiert sein beeindruckendes Pferdegebiss.

„Ich werde am Sonntag einen Bittgottesdienst abhalten. Sie sollten alle zum Gottesdienst kommen. Es wird Ihnen helfen, wenn Sie sehen, wie viele auf Gott vertrauen.“

„Meine Alte kommt bestimmt“, sagt Atze.

„Sie sollten auch kommen!“

„Mal sehen“, sagt Atze, obwohl er weiß, dass er ganz bestimmt nicht kommt: Die Stunden im Taubenzuchtverein waren ihm so heilig wie dem Papst die Ostermesse.

„Aber Sie kommen doch, Herr Weiß?“

Jakob nickt. Corinna würde ihn bestimmt wieder in die Kirche schleifen. Vielleicht half es diesmal. Vielleicht würde es sie ja auch beruhigen, wenn sie sah, dass er nicht als Einziger der Angeschissene war.

„Das freut mich. Wie gesagt: Die Kirche steht euch zur Seite. Nun muss ich aber weiter.“

Er tätschelt Jakob die Schulter und läuft schnell weiter.

„Das hat ja toll was gebracht. Seid ihr nun getröstet?“, brummt Jennecke.

„Er meint es doch nur gut mit uns. Musst du ihn immer anpflaumen?“, kritisiert Jakob.

„Versteh nich, dasse dich immer in die Kirche schleppen lässt. Sach bloß, du glaubst an die Heilige Dreifaltigkeit?“

Jakob hatte nie rausbekommen, was genau die Dreifaltigkeit war. Er glaubte auch nicht, dass die Gebete irgendwas bewirken könnten. Aber schaden konnten sie auch nicht. Und Corinna taten sie gut. Er würde also beten.

Sie fahren mit dem Bus in die Siedlung Am Lohberg. Sie wohnen alle in der gleichen Straße. Nur widerwillig trennen sie sich. Sie haben das Gefühl, ohne einander an Kraft zu verlieren. Aber es muss sein. Die Frauen müssen es von ihnen erfahren.

„Sehen wir uns nachher?“, fragt Jennecke.

Jakob und Atze nicken.

„Wie immer in der Hopfendolde?“

„Jau. Wie immer“, stimmt Jakob zu.

„Ihr werdet einen gehörigen Schluck brauchen, nachdem ihr es eurer Alten verklickert habt“, sagt Jennecke; auf ihn wartet keine Frau.

Das Brandopfer. Der Fall Finnphon

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