Читать книгу Der Tote im Kanzleramt - Heinz-Joachim Simon - Страница 5
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Kommissar Huntinger an neuer Wirkungsstätte
Nun war er also Hauptkommissar der Berliner Kriminalpolizei. Er hatte sich in die Hauptstadt versetzen lassen, nicht weil er in Bochum zu wenig Arbeit gehabt oder weil ihn der junge Staatsanwalt wieder einmal genervt hatte, sondern weil er noch einmal eine Herausforderung suchte. Es war nicht einfach gewesen, von einem Bundesland in ein anderes zu wechseln, und der Amtsschimmel hatte kräftig gewiehert. Auch Berlin hatte ihn wegen seines Alters nicht gleich haben wollen, schließlich ging er bereits auf die Fünfzig zu. Er hatte ein paar Freunde einschalten müssen, die ihm noch einen Gefallen schuldig waren.
Charles Huntinger hatte ein breites, fleischiges Gesicht mit einem kräftigen weißen Schnauzbart. Er hätte als kerniges, gut aussehendes Mannsbild durchgehen können, wenn nicht diese pockennarbige Haut gewesen wäre, die ihm etwas Bedrohliches gab. Dazu kam ein einschüchternd mächtiger Körper, den man nur mit einigem Wohlwollen als kräftig bezeichnen konnte.
Er hatte in einem Plattenbau in der Leipziger Straße im obersten Stockwerk eine gemütliche Wohnung gefunden, die den Vorzug hatte, dass er die Dome des Gendarmenmarktes sehen konnte. Bereits am zweiten Tag in Berlin, noch bevor er offiziell den Dienst antrat, hatte er einen Mitbewohner bekommen: eine große weiße Katze mit einem löwenartigen trotzigen Gesicht. Dabei war er ein Hundefreund und mochte keine Katzen. Er hielt Katzen für ungesellig, arrogant und eingebildet, also nicht gerade für menschenfreundlich. Aber sie ließ sich durch sein brummiges Wesen nicht stören, stand jedes Mal, wenn er heimkam, vor seiner Wohnung und schlüpfte, wenn er aufschloss, wie selbstverständlich in den Flur. Dies wurde recht schnell zu einer Gewohnheit, und es begann sich langsam eine distanzierte Freundschaft zu entwickeln, die von den Launen Pulcinellas abhängig war. Er hatte sie so getauft, weil der Name vortrefflich zu ihrem divenhaften Wesen passte. Aber sie reagierte ohnehin nur selten auf seine Kommunikationsversuche. Sie blieb so eingebildet und arrogant, wie er sie eingeschätzt hatte, und nutzte ihn aus, und er ließ es sich gefallen, denn immerhin war sie jemand, der seine Nähe suchte. Und so war er schon bald höchst erschrocken, wenn sie ihn einen Tag mal nicht mit ihrer Gegenwart beehrte.
Zu allem Überfluss entpuppte sie sich rasch als ausgesprochene Lachsliebhaberin, was gehörig ins Geld ging. Aber sie half ihm, sich die ersten Tage in Berlin nicht so allein zu fühlen. Er telefonierte zwar jeden Abend mit seinem Freund, Untersuchungsrichter Steinbock, den er als Schachpartner schmerzlich vermisste, weshalb er gelegentlich sogar eine Partie über das Telefon mit ihm austrug, aber es fehlten ihm doch die Atmosphäre, der gute Cognac und die Gespräche über die Zeitläufe. Schlussendlich fühlte er sich ein wenig verloren in dieser großen Stadt. Als er den Dienst antrat, hatte man ihn auch nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Dies hatte ihm der Polizeipräsident gleich zu verstehen gegeben.
„Was zum Teufel hat Sie geritten, sich hierher versetzen zu lassen?“, fragte Krassel und sah den Pfeife rauchenden schwergewichtigen Mann in dem schlecht sitzenden Anzug unzufrieden an, um ihn im gleichen Atemzug darauf aufmerksam zu machen, dass man in den Amtsstuben nicht zu rauchen habe. Auf Krassels Gesicht war deutlich abzulesen, dass er die Planstelle, wie er es vorgehabt hatte, lieber mit einem jungen dynamischen Mann besetzt hätte, denn es war doch klar, dass dieser zweifellos erfahrene Mann seinen eigenen Kopf hatte und den neuen Methoden misstraute. Aber die Zeugnisse waren tadellos, wenn nicht sogar die besten, die er je bei einem Kommissar gesehen hatte. Seine Aufklärungsquote war so gut, dass er diesen Angaben nicht so recht trauen wollte. Hatte man diesen Huntinger in Bochum vielleicht sogar loswerden wollen? Wie war er auch angezogen! Mit Pfeifenasche auf dem Revers würde er nie zu einer Zierde des Kommissariats werden. Und auch der Name störte ihn, denn wie sprach man ihn aus? Huntinger oder Hantinger? Der Hauptkommissar verriet ihm ja nicht, wie er zu diesem Namen gekommen war, dass es seinen Vater, einen Schotten, nach Niedersachsen verschlagen hatte, wo er mit Walisern und Engländern nach dem Sieg des großen Monty zu den Besatzern – und manche sagten zu den Befreiern – gehörte und in einem Nest bei Wolfsburg zu einem Dorffest ging und sich in eine große blonde Deutsche verguckte und sie bald darauf schwängerte. Als sie ihren Sohn gebar, reparierte er schon längst wieder in seinen Highlands Spitfires, Triumphs, Rovers und Fords. Aber dann wollte er doch, dass sein Sprössling seinen Namen trug und unterstützte ihn auch finanziell. Dass er ihn und die blonde Germanin nicht zu sich holte, hatte seinen Grund darin, dass er dort in den Bergen bereits ein Weib mit drei Blagen hatte. Er hatte ihm also nur den Namen vererbt und für einen anständigen Vornamen gesorgt, der sogar für einen Kronprinzen gut genug gewesen war. Doch Charles Huntinger hatte von dem Highlander noch anderes geerbt: die robuste Natur und das Gespür des Jägers. Tatsächlich war Charles Huntingers Vater der Sohn eines Jägers.
Krassel unterdrückte ein Seufzen. Es nutzte nichts, er musste diesen Mann akzeptieren und ihm sein wichtigstes Ressort, die Mordkommission, anvertrauen, denn selbst aus dem Innenministerium hatte man signalisiert, dass man diesen Mann in Berlin haben wollte.
Behäbig, als würde ihn das Misstrauen des Polizeipräsidenten nichts angehen, saß Huntinger, die geöffneten fleischigen Hände im Schoß, wie ein Buddha vor ihm.
„Man muss von Zeit zu Zeit etwas Neues ausprobieren, und Berlin ist nun einmal die aufregendste Stadt in Deutschland“, begründete er gelassen seinen Versetzungswunsch.
„Sie suchen Aufregung?“, fragte Krassel gedehnt. „Solche Feuerfresser sind hier nicht gefragt. Wir brauchen Leute, die stinknormale Polizeiarbeit tun, die moderne forensische Methoden einzusetzen wissen, also mit moderner Kriminalistik vertraut sind.“
„Eben. Das habe ich gesucht. Stinknormale Polizeiarbeit.“
„Und die gibt es nicht in Ihrem Bochum?“
„Oh doch. Aber rein statistisch müsste in einer so großen Stadt wie Berlin stinknormale Polizeiarbeit noch mehr gefragt sein. Kurz: Je mehr Einwohner desto mehr Verbrechen. Das gab den Ausschlag.“
„Sie scheinen über erstaunliche Verbindungen zu verfügen. Sogar das Innenministerium hat sich für Sie eingesetzt“, brummte Krassel missmutig.
Huntinger wedelte vage mit der Hand.
„Na ja, in dreißig Dienstjahren lernt man eine Menge Leute kennen und manchmal sogar sehr wichtige.“
„Es steht in Ihrer Beurteilung, dass Sie manchmal zu unkonventionellen Methoden neigen und mit diesen sogar überaus erfolgreich sind.“
„Ja, wenn die konventionellen Methoden nichts bringen.“
„Das mögen wir hier nicht. Das mögen wir gar nicht! Bei uns halten wir uns streng an die Richtlinien und Gesetze.“
„Natürlich. Streng!“, sagte Huntinger.
Krassel sah misstrauisch hoch. Wollte ihm dieser Provinzler komisch kommen? Doch Huntingers Gesicht zeigte keine Regung.
„Sie werden ein gut eingespieltes Team übernehmen. Gute Leute, die aber eine strenge Hand verlangen.“
„Wie groß ist die Abteilung?“
„Ihnen unterstehen drei Kommissare. Pressel, Belsen und die Mäusel. Eine Kommissarin“, fügte er säuerlich hinzu. „Die Mäusel ist ein schwieriger Fall, eine von diesen … Feministinnen, wenn Sie wissen, was ich meine. Ist mit Ihrem Vorgänger überhaupt nicht klargekommen. Beschwerte sich dauernd, dass sie benachteiligt wird. Aber Sie wissen ja, wie das heute ist. Man muss sie ertragen. Die beiden anderen sind in Ordnung. Ach ja, da gibt es noch einen vielversprechenden Kommissarsanwärter, den sollten Sie aufbauen. Aus dem könnte etwas werden.“
„Gut. Was für Fälle sind am Laufen?“
„Ein Mord in Moabit, einer in Steglitz. Ein Überfall in Lankwitz, ein Beziehungsmord unter Türken in Kreuzberg. Das wäre es schon, was Ihre Abteilung betrifft. Ihre Leute werden Sie über alles andere unterrichten.“
„Sehen Sie, deswegen bin ich nach Berlin gekommen.“
„Weswegen?“, fragte der Polizeipräsident irritiert.
„In Bochum wäre es nur ein Fall gewesen.“
„Na schön. Ihrem Arbeitseifer werde ich mich ganz bestimmt nicht in den Weg stellen. Und nun wünsche ich uns eine erfolgreiche Zusammenarbeit!“
„Daran werde ich arbeiten!“, sagte Huntinger freundlich blinzelnd.
Das war es gewesen, und Huntinger war der Meinung, dass er den Einstieg ganz gut hinbekommen hatte, schließlich hatte er sich nicht anmerken lassen, dass er den Kerl nicht mochte. Er war sich bereits ziemlich sicher, dass sie miteinander Ärger bekommen würden, aber das war in Bochum auch nicht anders gewesen. Auch dort hatte er mit Vorgesetzten, die sich als Prinzipienreiter oder Karrieristen entpuppten, stets Ärger gehabt.
Anschließend hatte er die Mannschaft um sich versammelt, die Kommissare und seine zukünftige Sekretärin, Frau Kleinschmidt. Alle hatten sie wache Augen, was wohl verständlich war, wenn man einen neuen Chef bekam, zudem einen aus der Provinz, dem man deswegen ein wenig misstraute, der aber gleichwohl dadurch beeindruckte, dass alles massig an ihm war, die Statur, das Gesicht, die Schultern, die großen Hände.
„Wir werden zu einem guten Team zusammenwachsen, und bald werden Sie wissen, dass ich nicht so bärbeißig bin, wie ich aussehe. Wir werden gute Arbeit abliefern und die Verbrecher das Fürchten lehren!“, kündigte er an.
Ein Trompetenstoß, wie ihn weder einer seiner Vorgänger hinbekommen hatte, noch sich überhaupt getraut hätte, auch nur so etwas zu denken. Bei einem anderen hätten sie es vielleicht als Großsprecherei gewertet, aber diesem Mann mit der ständig erkalteten Pfeife in der Hand und einem Gesicht, so narbig und dunkelrot wie gegerbtes Leder, glaubten sie.
„Daran gilt es zu arbeiten, und dafür brauche ich Sie. Wenn jemand Ärger hat, kommt er zu mir. Wenn jemand Scheiße gebaut hat, werde ich ihm helfen, wenn er sich nicht allzu dusselig anstellt. Ihr könnt euch auf mich verlassen, wie ich mich auf euch verlasse. Wenn ich morgens schlecht gelaunt bin und euch das nicht gefällt, dann sagt es mir. Sollte ich eurer Meinung nach Scheiße bauen, werde ich mir dies auch anhören. Kurz: Wir werden uns jeden Tag bemühen, besser zu werden. Strengen wir uns also an!“
„Kegeln Sie, Chef?“, fragte Heiner Belsen, ein dickbäuchiger kleiner Mann mit einem runden Gesicht und Halbglatze.
„Nein!“, sagte Huntinger verdutzt.
„Dann werden wir es Ihnen beibringen. Wir sind jeden Freitagabend, wenn es die Arbeit erlaubt, auf der Kegelbahn.“
„Er ist unser Kegelchampion!“, erklärte Edgar Pressel, ein spindeldürrer Lulatsch mit einem pfiffigen Gesicht und roten Haaren.
„Na schön. Ich habe schon vieles in meinem Leben lernen müssen, also werde ich auch das lernen.“
„Trinken Sie gern mal ein Pils?“, insistierte Belsen weiter.
Nach seinen Fragen und seinem eifrigen Gesicht zu urteilen, schien es ihm vor allem wichtig zu sein, wie der Chef sich zum Freizeitverhalten stellte.
„Wenn es nicht nur eins ist,“ erwiderte Huntinger schmunzelnd.
„Wie spricht man Ihren Namen aus?“, warf die Kleinschmidt ein. „Huntinger oder Hantinger wie bei den Engländern?“
„Das ist mir wurscht. Reden Sie, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist.“
„Da mache ich es mir einfach. Für mich sind Sie der Chef“, krähte Belsen. „Ist schon mal gut, dass Sie gern ein Bierchen trinken. Unser letzter Chef war Antialkoholiker.“
„Nein. Ich habe nichts gegen ein Bierchen nach Feierabend“, bekräftigte Huntinger.
Es war nicht die ganze Wahrheit. Gut, er trank hin und wieder, wenn es heiß war, ein Pils. Aber lieber trank er einen guten Rotwein, sei er aus Bordeaux oder aus der Toskana, aber auch einen guten Barolo verschmähte er nicht, und dann war da noch, nach einem kräftigen Ärger, die Liebe zum Calvados. Aber diese kleine Schwäche zu offenbaren war ihm noch zu früh.
Dann setzte er sich mit Helga Kleinschmidt zusammen, die groß und sehr schlank, wenn nicht dürr war und ein freudloses Gesicht hatte, das sicher von viel zu vielen einsamen Stunden herrührte, aber, wie er aus den Personalakten ersehen hatte, seit zwanzig Jahren Sekretärin der Mordkommission war und als sehr tüchtig beurteilt wurde, also das Polizeipräsidium bis in die letzten Verästelungen kennen musste.
„Nun erzählen Sie mir mal: Wie ist die Truppe?“, sagte er, als sie allein zusammensaßen.
Er rührte dabei in seinem Kaffee, den sie ihm mitgebracht hatte und den er mit gehörig viel Zucker aufhübschte. Dabei war er eigentlich Teetrinker und bevorzugte Earl Grey und nicht Apfel–, Lindenblüten– oder sonst was für Tee. Seine Sekretärinnen mussten lernen, den Earl Grey mit möglichst viel Zucker und in genau der richtigen Stärke zuzubereiten. Tee war eine Leidenschaft, die er bei einem Austauschprogramm in London bei Scotland Yard schätzen gelernt hatte.
„Es sind gute Leute“, erwiderte sie loyal. „Ihr Vorgänger, Herr Bichler, wusste sie nur nicht zu nehmen. Er war magenkrank und ein wenig zu streng und nahm alles so ernst, der Gute. Und zum Schluss war er ein wenig verbittert, dass er von oben so wenig Anerkennung erfuhr. Darunter litten das Betriebsklima und die Aufklärungsquote. Aber wir alle haben trotzdem zu ihm gehalten. Pressel und Belsen sind schon sehr lange in der Abteilung.“
„Ja, sie sind bestimmt erfahrene Leute. Schließlich sind sie bereits Anfang Vierzig.“
„Ja. Nur die Maus ist relativ neu, ich meine Elke Mäusel. Sie ist erst achtundzwanzig. Ich bin achtunddreißig. Ich kam mit achtzehn hierher“, fügte sie hinzu und strich sich dabei den unattraktiven karierten Rock glatt.
„Wer ist der zuständige Untersuchungsrichter?“
„Das ist Siegmund Dremmler. Sie werden ihn heute Nachmittag kennenlernen. Ich habe bereits einen Termin für Sie gemacht. Nun, er ist jung und forsch und gilt als sehr tüchtig. Von der Sorte Hoppla, jetzt komm ich!. Der gute Bichler hatte einiges mit ihm auszuhalten.“
Das kann ja heiter werden, sagte sich Huntinger und dachte ein wenig wehmütig an seinen alten Freund und Schachpartner in Bochum, der ihm in seiner Funktion als Untersuchungsrichter so manches Mal hilfreich zur Seite gestanden hatte.
„Und wie sind die Staatsanwälte?“
„Auch alles junge Männer, fest entschlossen, schnellstens Karriere zu machen. Vorsehen müssen Sie sich nur vor Eduard Strenger, der scharfe Eddy, wie wir ihn nennen. Er will immer gleich die Kavallerie losschicken. Strenger versteht sich sehr gut mit dem Herrn Polizeipräsidenten. Sie werden ihn auch bei dem Gespräch mit Herrn Dremmler kennenlernen. Die beiden sind dicke Freunde. Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf?“
„Nur zu!“
„Dremmler und Strenger wollen Sie heute, nun drücken wir es so aus, tüchtig ins Kreuzverhör nehmen. Sie haben unverhohlen ihre Meinung geäußert, dass man auf diesem wichtigen Posten lieber einen jungen dynamischen Mann gehabt hätte und nicht – entschuldigen Sie, so wird es erzählt – einen alten Knacker aus der Provinz. Sie haben durchblicken lassen, dass sie Ihnen das Leben schwer machen wollen, damit Sie bald die Segel streichen.“
„Freut mich, dass Sie so offen mit mir sprechen. Das sollten wir immer so halten. Sie sind schließlich meine rechte Hand.“
„Ich bin mit den beiden arroganten Schnöseln auch schon öfter zusammengestoßen. Aber ich gehöre mittlerweile zum Inventar. Mit mir müssen sie leben. An mich wagen sich die beiden so schnell nicht ran. Schließlich bin ich im Betriebsrat der Polizeigewerkschaft.“
„Wir werden bestens auskommen“, erwiderte Huntinger schmunzelnd.
„Ach, noch etwas. Der Mäusel müssen Sie helfen. Sie ist eine gute Kraft. Aber sie ist überaus empfindlich und fühlt sich ständig benachteiligt. Ihr Vorgänger ist überhaupt nicht mit ihr klargekommen. Dabei ist sie sehr fleißig und klug, aber sie steht sich ständig selbst im Wege. Sie wird für Sie durchs Feuer gehen, wenn Sie sie zu nehmen wissen.“
„Danke. Das ist ein guter Hinweis. Ich hörte bereits, dass sie nicht so ganz einfach ist.“
„Ach? Sicher vom Polizeipräsidenten. Der kann sie nicht leiden, weil sie ihm in aller Öffentlichkeit widersprochen hat. Wie kann eine kleine Kommissarin auch dem großen Manitu widersprechen? Aber die Mäusel ist in Ordnung. Ich habe bereits einmal verhindert, dass sie zur Sitte abgeschoben wird. Aus der wird noch mal was.“
Dann informierte er sie kurz, wie er sich den Tagesablauf wünschte, wann er die Post sehen wollte, wann die „Kleine Lage“ fällig war und welche Eigenheiten er hatte. Sie nahm es hin, als habe sie all dies erwartet, und nach ihrer Miene zu urteilen, war sie mit dem, was sie hörte, sehr zufrieden. Selbst als er sie bat, sich um den Earl Grey zu kümmern und ihn nicht zu lange ziehen zu lassen, nickte sie wie selbstverständlich zustimmend.
„Und wenn Sie rauchen wollen, rauchen Sie nur!“, forderte sie ihn auf und deutete auf seine kalte Pfeife. „Ich rieche Pfeife gern. Rauchen ist zwar offiziell verboten, aber ich mache dann gleich das Fenster auf, und dann wird es schon gehen.“
„Ja, die Reglementierlust dieser Generation kennt keine Grenzen. Als Nächstes werden sie uns noch eine gute Schweinshaxe verbieten und den Alkohol und was weiß ich was sonst noch“, stöhnte Huntinger, der seine neue Sekretärin immer sympathischer fand; da hast du wirklich einen Glücksfang gemacht, dachte er zufrieden.
Dann ließ Huntinger Pressel kommen, dessen Kleidung so aussah, als hätte er gerade die Währungsreform erlebt. Der Anzug schlackerte um sein dürres Gestell, und die Nase stach spitz aus dem ausgemergelten Gesicht. Pressel informierte ihn knapp und professionell über den Stand der anstehenden Fälle und wie man ganz allgemein die Schlagkraft der Abteilung verbessern könnte.
„Na ja, eine Revolution kann man hier im Kommissariat nicht durchführen. Es ist alles ein wenig eingeschliffen, und jeder Änderungsvorschlag scheitert an denen dort oben. Wir würden viel effektiver arbeiten, wenn wir uns nicht dauernd nach oben absichern müssten.“
Er wies mit dem Finger auf das Stockwerk über ihnen.
„Sie haben alle Schiss vor den Medien. Entweder greifen wir zu lasch durch oder zu scharf. Auf jeden Fall haben wir immer den Schwarzen Peter. Und der Oberboss läuft ständig mit zugekniffenem Arsch herum. Am liebsten sind denen da oben die Fälle, wo man den Täter mit einem Schuldgeständnis an den Staatsanwalt abliefert. Zudem erschwert es die Arbeit, dass wir hier in Berlin ständig unter Beobachtung stehen. Jeder hat einen Spezi im Bundestag oder gar im Regierungsapparat, und ständig sind hier alle in Aufregung, weil die Medien geil auf Nachrichten sind. Umso unangenehmer und schlimmer, desto besser.“
Huntinger nickte zustimmend und dachte besorgt: So ist das in dieser Republik, seit man das provinzielle, doch gemütliche Bonn verlassen hat und die Medien wie die Frösche um den Teich hocken und zum Kanzleramt und zum Reichstag hinüberstarren und darauf warten, eine möglichst dicke Fliege zu erwischen.
Huntinger öffnete das Fenster und stopfte sich die Pfeife. Pressel stöhnte erleichtert und holte eine Schachtel Gitanes aus der Tasche. Eine Weile rauchten sie schweigend, und es stellte sich ein gewisses Grundeinverständnis heraus. Es war schon klar, dass sie miteinander auskommen würden.
„Gibt es einen Giftpilz in unserer Umgebung?“, fragte Huntinger offen und drehte sich zu Pressel.
Pressel nickte düster.
„Ich will keinen in die Scheiße reiten. Kriegel macht ständig Ärger. Er war heute Morgen nur nicht dabei, weil er bei der Staatsanwaltschaft Bericht erstatten musste. Man sagt, dass unser Kriminalkommissaranwärter nach oben, nun ja, einen sehr guten Draht hat. Jeder passt auf, was er in seiner Gegenwart sagt. Aber, wie gesagt, machen Sie sich selbst ein Bild. So sieht’s aus. Kein schöner Land in dieser Zeit, wie es so schön heißt.“
„Noch etwas?“
„Unser Fuhrpark ist lausig. Gar nicht daran zu denken, dass wir bei einer Verfolgungsjagd eine Chance hätten. Wissen Sie, Chef, alles ist so … mittelmäßig geworden. Unsere Arbeit, unsere Mittel und unsere … Nun ja, die dort oben. Die Zeit des Rock’n Roll ist vorbei.“
„Verstehe!“
Der Kommissar ging zu seinem Schreibtisch, ergänzte seine Notizen und kringelte das Wort Fuhrpark ein.
Das Gespräch mit dem dicken, kleinen Belsen bestätigte seinen ersten Eindruck. Belsen war jemand, dem seine Gemütlichkeit über alles ging, der vor allem seinen Feierabend schätzte und den seine vielen Hobbys völlig in Beschlag nahmen. Obwohl er vorlaut und nicht sehr helle war, war er im Grunde ein loyaler Mitarbeiter.
Dann ließ er Elke Mäusel kommen, die alle nur Maus nannten, wie er von der Kleinschmidt erfahren hatte. Sie war klein, und in früheren Zeiten hätte man sie einen Blaustrumpf genannt. Ein gedrungener Körper mit einem beachtlichen Busen, über dem ein Engelsgesicht mit langem, blondem Haar thronte, mit den blauesten Augen, die er je gesehen hatte. Irgendwie hatte sich der Herrgott bei der Zusammenstellung dieses Menschen vertan. Sie hatte ein bezauberndes Lächeln, das sie viel zu selten einsetzte. Auf den ersten Blick wirkte sie plump, und ihre sackartigen Kleider verbesserten nicht gerade diesen Eindruck. Make–up hielt sie wohl für Teufelswerk, und ihre schönen Augen zeigten meist Trotz, Ablehnung oder gar Empörung.
Mit zusammengedrückten Beinen saß sie vor ihm. Im trotzigen, fast pampigen Ton berichtete sie ihm von dem Fall, an dem sie gerade arbeitete. Er musste ihr fast jede Information aus der Nase ziehen. Huntinger versuchte sie locker zu machen, indem er sich gemütlich zurücklehnte und die Pfeife anzündete, was sie missbilligend beobachtete. Sie setzte mehrmals an und platzte dann heraus:
„Rauchen ist in den Amtsräumen untersagt.“
Huntinger nickte und paffte weiter.
„Es stört Sie also.“
„Ja. Es stört mich. Die Kollegen halten sich auch leider nicht an das Rauchverbot, und wenn Sie jetzt auch noch …“
„Na schön. Wenn es Sie stört!“, sagte Huntinger und legte die Pfeife auf den Schreibtisch. „Sie wird gleich ausgehen. Ich werde mir Mühe geben, in Ihrer Gegenwart nicht zu rauchen.“
Sie schwieg verstockt.
„Wie fühlen Sie sich in der Abteilung?“
„Schlecht!“, trotzte sie weiter. „Die Kollegen sind alle Chauvis … Machos! Aber das liegt nicht nur an ihnen, sondern an dieser Scheiß–Macho–Gesellschaft, die uns Frauen einfach nicht hochkommen lassen will!“
„Ja, Frauen müssen immer noch doppelt so gut sein, wenn sie sich in einer Männergesellschaft wie bei der Polizei durchsetzen wollen.“
„Ist das gerecht?“, fragte die Mäusel.
„Nein. Aber ich werde an Ihre Leistungen den gleichen Maßstab anlegen wie an Ihre männlichen Kollegen. Es spricht für Sie, dass Sie es in so jungen Jahren bereits zur Kommissarin gebracht haben. Mein Respekt!“
„Sehen Sie, was ist daran so ungewöhnlich? Das ist doch auch nur ein männliches Vorurteil. Ich bin so gut wie die anderen und vielleicht sogar noch besser, das müsste doch reichen.“
„Das müsste reichen!“, stimmte Huntinger zu. „Aber vielleicht gehen Sie ja auch ein wenig streng mit uns Männern um. Wir sind auch keine vollkommenen Wesen.“
„Ha!“, fauchte sie und warf den Kopf hoch.
Huntinger wusste, dass er mit ihr ein Sorgenkind haben würde. Sorgenkind nicht wegen ihrer Intelligenz oder ihres Fleißes, sondern wegen der Probleme, die sie mit sich herumschleppte.
„Ich verspreche Ihnen, dass ich mir Mühe geben werde, Sie wie alle anderen zu behandeln“, betonte Huntinger noch einmal. „Und wenn Sie sich einmal ungerecht behandelt fühlen, dann sagen Sie es mir … unter vier Augen. Ich möchte nicht vor den anderen mit Ihnen Wortgefechte führen. Verstehen wir uns?“
„Ich soll kuschen?“, fragte sie und kniff die Augen zusammen.
„Nein. Ich will Ihnen nur ersparen, dass Sie auf Dauer in der Rolle der Rebellin in einer Ecke stehen und ständig einen Flunsch ziehen. Ich brauche Ihre Intelligenz, Ihren Enthusiasmus und Ihre Loyalität. Die verlange ich von Ihnen genauso wie von Ihren Kollegen. Eine Sonderbehandlung gibt es bei mir nicht für weibliche Kollegen. Ich bin ein altmodischer Mensch, und wenn ich manchmal zu höflich zu Ihnen bin, zu chevaleresk, was Sie bestimmt verabscheuen, dann sehen Sie es mir nach. Für mich sind Frauen immer noch anbetungswürdige Wesen, die man mit Höflichkeit und Nachsicht behandelt. Damit müssen Sie sich abfinden. Können wir uns auf dieser Basis einigen?“
Sie starrte eine Weile vor sich hin und nickte schließlich zögernd.
„Kann ich jetzt …?“, fragte sie und deutete auf die Tür.
„Ja. Das wäre es.“
Sie erhob sich ruckhaft. Huntinger kam um den Schreibtisch herum und öffnete ihr die Tür, was ihr wieder ein Schnauben entlockte. Seufzend sah er ihr nach, wie sie durch das Hauptbüro zu ihrem Schreibtisch stampfte. Mit ihren derben Schuhen, die bei einer Bergwanderung sicher angebracht wären, machte sie genug Lärm und signalisierte, dass sie jemand war, dem niemand ans Leder konnte, von anderen Absichten ganz abgesehen.
Später ließ er sich dann noch Kriegel ins Büro schicken. Ein Habitus wie ein Abiturient, schwarze Hornbrille, unausgereifte Gesichtszüge, die sich bei einem Einunddreißigjährigen doch etwas seltsam ausnahmen und im Kontrast zu dem kahlrasierten Kopf standen. Den Notizblock auf den Knien saß er hoch aufgerichtet vor ihm, mit höflich interessierter Miene.
„Ich sehe aus Ihren Akten, dass Sie erst ein Jahr bei uns sind.“
„Ja. Ich habe mich vom Einbruchsdezernat hierher versetzen lassen. Der Herr Oberstaatsanwalt hat mein Gesuch unterstützt, und der Herr Polizeipräsident hat diesem glücklicherweise stattgegeben.“
„Sie haben eine Reihe von Seminaren besucht?“
„Ja. Ich habe mich mit den neuesten Erkenntnissen der Kriminalwissenschaft vertraut gemacht. Leider halten meine Kollegen nicht so sehr viel von den neumodischen Methoden, wie sie diese abfällig nennen. Aber auch der Herr Untersuchungsrichter sowie der Herr Staatsanwalt Strenger bestärken mich immer wieder in meinen Bemühungen. Wir würden bessere Ergebnisse erzielen, wenn wir die forensischen …“
„Ja. Kann ich mir denken!“, unterbrach ihn Huntinger kühl.
Es ist wie bei den Ärzten, dachte er resigniert, die verlassen sich auch immer mehr auf den Computer. Auch bei uns sind die Computerprogramme, die DNA–Analysen, Laboruntersuchungen und das Aufschnippeln der Leichen wichtiger geworden als Menschenkenntnis und Erfahrung. Nun, daran war nichts zu ändern. Aber er konnte sich gut vorstellen, dass Kriegel bald Kommissar und eines Tages in seinem Sessel sitzen würde, wenn er die Skrupellosigkeit und Chuzpe besaß, die Pressel angedeutet hatte.
„Ich bin sicher, dass sich unter Ihnen hier einiges ändern wird!“, schmeichelte ihm Kriegel unverhohlen.
„Bisher habe ich nicht den Eindruck, dass sich allzu viel ändern muss. Aber wir werden sehen!“, erwiderte Huntinger abweisend. „Ich verlange gutes Handwerk, Einfühlungsvermögen, klare Motivbestimmung und Beweissicherung. Und ich verlange Loyalität. Nicht nur meiner Person gegenüber, sondern der Abteilung. Wir sind eine Mannschaft, und ihre Leistung kann nur so gut sein wie ihr innerer Zustand ist. Haben Sie mich verstanden?“
„Selbstverständlich. Ihnen gehört meine ganze Loyalität. Absolut!“, beeilte sich Kriegel mit rotem Kopf zu versichern.
Er hatte die Botschaft verstanden, doch Huntinger zweifelte, dass er sich danach richten würde. Doch insgesamt war er mit der Mannschaft sehr zufrieden.
Am späten Nachmittag erinnerte ihn die Kleinschmidt an den Termin mit den Rechtsverdrehern, wie sie sie nannte. Die kalte Pfeife im Mund, ließ er sich von der Fahrbereitschaft zum Justizgebäude hinüberfahren. Er öffnete schwungvoll die Tür zu dem Besprechungszimmer, das ihm die Kleinschmidt genannt hatte, und stand einen Augenblick wuchtig in der Tür, von zwei dunkel gekleideten Herren erstaunt gemustert. Er stellte sich vor, nahm einen Stuhl und setzte sich den beiden Richtern gegenüber. Sie wirkten wie geklont. Dunkle Anzüge, sorgfältig gebundene, dezente Krawatten, glatte, junge Gesichter mit einer Spur Schärfe, die auf Durchsetzungsvermögen schließen ließ.
„Wir freuen uns, Sie kennenzulernen!“ empfing ihn Untersuchungsrichter Dremmler, dessen Gesicht so glatt wirkte wie ein frisch gebügeltes Löschblatt.
Seine mit einem Siegelring geschmückte Hand mit der goldenen Rolex am Handgelenk lag geöffnet auf der Schreibtischplatte und sollte wohl signalisieren, dass sie ihn ohne Vorbehalte empfingen, was – wie Huntinger ja bereits wusste – nun ganz und gar nicht stimmte. Der andere, Staatsanwalt Strenger, der durch seine spitze Nase und die eng beieinander liegenden Augen noch unangenehmer wirkte, nickte bestätigend.
„Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit. Wie wir hören, waren Sie in Bochum überaus erfolgreich. Ihre Aufklärungsquoten sind ja phänomenal, selbst wenn man bedenkt, dass Bochum Provinz ist. Wir hoffen, dass Sie hier bald ähnliche Ergebnisse erzielen werden. Kommt uns schließlich allen zugute“, sagte er und lachte wiehernd, und Dremmler stimmte ein.
Huntinger hatte ein anderes Verständnis von Humor, zumal von Angehörigen des Richterstandes, trotzdem machte er gute Miene zum bösen Spiel.
„Das hoffe ich auch“, antwortete er jovial und steckte seine Pfeife an, was die beiden mit einem eisigen Lächeln quittierten.
Um zu sehen, wessen Kind sie waren, paffte Huntinger ein paar Wolken in ihre Richtung. Dremmler hustete affektiert, ging zum Fenster und öffnete es. Aber er sagte nichts dazu, und Huntinger dachte: Was für Warmduscher.
„Sie haben Ihre Crew bereits kennengelernt?“, fragte Strenger. „Wie ist Ihr Eindruck?“
„Die Mannschaft ist in Ordnung.“
„Na ja, ob Sie das auch noch sagen, wenn Sie erst einmal die Zicke vom Dienst richtig kennenlernen?“
„Wen meinen Sie?“
„Die Mäusel natürlich.“
„Ach ja. Ich halte sie für eine moderne, selbstbewusste Frau, die nur noch ein wenig Erfahrung braucht, um eine hervorragende Kommissarin zu werden.“
„Ach nein“, staunte Dremmler. „Halten Sie sich lieber an den Kriegel, ein fixer Junge. Das hab ich übrigens auch schon dem Herrn Polizeipräsidenten gesagt.“
„Ich habe auch den Eindruck, dass er sehr fix ist!“, stimmte Huntinger zu.
„Das freut uns“, bekräftigte Strenger. „Das freut uns sehr. Daran erkennen wir, dass auch Sie gewillt sind, in der Mordkommission die Methoden moderner Kriminalistik gelten zu lassen. Sagen wir es frei heraus: Mit Ihrem Vorgänger hatten wir so unsere Schwierigkeiten. Er hat nicht einmal Emails verschickt. Das muss man sich mal vorstellen! Nicht einmal zu SMS konnte er sich durchringen.“
Sie schlugen sich beide lachend auf die Schenkel, überzeugt von ihrer Jugend, mit dem Hochmut derjenigen, die der Morgenröte entgegenmarschieren, ohne zu bedenken, dass Vergangenheit und Gegenwart in der Zukunft zusammenfließen.
„SMS werden Sie von mir auch nicht bekommen.“
„Haben Sie denn kein Handy?“, fragte Dremmler und sah Strenger mit einem Blick an, als wollte er sagten: Da haben wir es!
„Bisher komme ich auch ohne Handy ganz gut zurecht“, schwindelte Huntinger, der zwar ein Handy besaß, aber den Untersuchungsrichter nicht dauernd auf der Pelle haben wollte. Weiß Gott, in Bochum hatte er es besser gehabt, wusste er nun. Da war wenigstens Steinbock, der Untersuchungsrichter und Freund, ein Mitstreiter gewesen, mit dem sich manches Problem abends bei einem Schachspiel und einem guten Glas Bordeaux besprechen und ausräumen ließ. Nun, du hast es dir ausgesucht, sagte er sich. Nun mosere nicht, sondern nimm die Kerle, so wie sie sind.
„Sie können doch auf ein Handy heute nicht mehr verzichten!“, entrüstete sich Dremmler. „Es erhöht doch unbedingt die Schnelligkeit und die Schlagkraft der Abteilung.“
„Wie meine Aufklärungsquoten belegen, hat man sich über meine Schlagkraft nie beschwert.“
„Herr Huntinger, ich will ganz ehrlich sein“, fing Strenger umständlich an und rückte auf seinem Sessel fast bis auf die Kante. „Wir haben unter Ihrem Vorgänger genug gelitten. Er war partout nicht dafür zu haben, die modernsten technischen Methoden zu nutzen. Ein Gestriger, über den die Zeit hinweggegangen ist. Man hätte ihn schon vor Jahren pensionieren sollen. Ich hoffe nicht, dass Sie aufgrund Ihres … Alters ähnlich denken wie dieser Bichler.“
Huntinger kniff die Augen zusammen und unterdrückte ein Schmunzeln. Er beschloss, die beiden noch ein wenig mehr zu provozieren, damit man von Anfang an klare Fronten hatte. Er wusste längst, dass die beiden nie zu seinen Freunden zählen würden. Diese beiden „Pochers“ mit ihrem fehlenden Respekt vor Erfahrung, Wissen und Alter verkörperten genau das, was er für das Unglück dieses Landes hielt, und er konnte es sich nicht verkneifen, den beiden etwas einzuheizen.
„Ich weiß nicht, wie mein Vorgänger dachte. Doch bei aller Technik und den neuesten medizinischen Analysemethoden kommt es doch immer noch auf die Spürnase und Erfahrung an.“
„Spürnase?“, fragte Dremmler entsetzt und blickte ratlos zu seinem Kollegen.
„Ja. Das Jucken meiner Nase und eine gehörige Portion Menschenkenntnis sind mir immer noch die besten Seismografen, wenn es darum geht, das Mysterium zu ergründen, warum der Mensch einen Menschen tötet.“
„Das Jucken der Nase!“, ächzte Strenger.
„Mysterium!“, wiederholte Dremmler fassungslos.
Sie waren sich, nach ihren entsetzten Blicken zu urteilen, herzlich einig und nun sicher, dass sie es mit einem Gestrigen zu tun hatten und vom Regen in die Traufe gekommen waren. Offensichtlich war der neue Hauptkommissar noch schlimmer als der alte.
„Sie werden schon sehen, dass es hier bei uns in Berlin ein wenig anders läuft!“, antwortete Dremmler feindselig.
„Wir haben hier die besten Labors. Wir haben Zugriff auf alle Datenbanken in ganz Deutschland. Dabei scheuen wir nicht den Zugriff auf die Internetüberwachung. Jedenfalls nutzen wir alle Möglichkeiten.“
„Wir sind schnell. Bei uns geht es ratzfatz!“, ergänzte Strenger.
„Ich bin für alles zu haben, was im Rahmen der Gesetze abläuft!“, sagte Huntinger.
„Im Rahmen der Gesetze, natürlich!“, erwiderte Dremmler mit einem Gesicht, das darauf schließen ließ, dass er nicht so gern mit dem Gesetzbuch unter dem Arm herumlief.
„Das bedarf doch keiner Frage!“, setzte Strenger pikiert hinzu.
„Aber schön, dass Sie sich nicht weigern, sich der modernen Kriminalistik zu bedienen!“, krächzte Dremmler.
Seine Arme waren nun vor der Brust verschränkt, als müsse er sich zwingen, sich zurückzuhalten, um nicht aufzuspringen und Huntinger zuzurufen: „Alter Sack, was willst du eigentlich hier in Berlin?“
Das Telefon klingelte. Dremmler nahm ab und reichte Huntinger den Hörer.
Huntinger nickte, als habe er den Anruf erwartet.
Es war die Kleinschmidt.
„Uns wurde eben ein Mord in Steglitz gemeldet. Wie der zuständige Beamte von der Bezirkswache mitteilte, wurde ein Mann mit zwei Revolverschüssen getötet. Sieht wie eine regelrechte Hinrichtung aus.“
„Gut. Ich komme. Unterrichten Sie die Spurensicherung.“
„Ist schon geschehen.“
„Sagen Sie Mäusel und Pressel, dass sie sich bereithalten sollen. Noch was?“
„Ja. Der Mann war beim Bundeskanzlerbegleitschutz. Hat die Mäusel bereits gecheckt.“
„Sie soll sich dort noch mal erkundigen, was er für einen Leumund hat beziehungsweise seit wann er dabei ist.“
„Gut, Chef. Sie kommen gleich?“
„Stante pede!“
„Was für eine pede?“
„Ich komme sofort.“
Er drückte auf den Knopf und reichte Dremmler den Hörer zurück.
„Meine Herren, ich muss fort. Ein dringender Fall. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Wir werden in nächster Zeit ja öfter miteinander zu tun haben, und ich bin sicher, dass wir uns schon zusammenraufen werden. Ich habe eine Ahnung von Ihren Intentionen und ich konnte meine vielleicht ein wenig beleuchten.“
„Ich hoffe auch, dass wir beide Einstellungen in Übereinstimmung bringen können“, erwiderte Dremmler mit einem Gesicht, das erkennen ließ, dass er keineswegs daran glaubte.
„Ein neuer Fall?“, fragte Strenger mit genauso finsterer Miene.
„Ja. Ein Mord in Steglitz.“
„Ein Raubüberfall?“
„Kann ich noch nicht sagen. Aber der Mann ist beim Begleitschutz im Kanzleramt.“
„Oha!“, stieß Strenger aus, und auch Dremmler wirkte wie elektrisiert.
„Das ist ja hochinteressant!“, keuchte er. „Ein Mordfall im Umfeld des Kanzlers? Wissen Sie, was das bedeutet?“
„Höchste Publizität!“, sagte Strenger fast ehrfürchtig. „Die Presse wird sich überschlagen. Ich wünsche, dass Sie uns anschließend sofort Mitteilung geben, wie Sie den Fall einschätzen. Wir dürfen keine Fehler machen.“
„Nein. Wir müssen äußerst präzise und sorgfältig vorgehen“, stimmte Dremmler zu. „Keine Fehler. So ein Fall kann ungeheure Weiterungen haben, in jeder Richtung!“
Er meinte nichts anderes, als dass es eine Möglichkeit war, die Karriereleiter rauf– oder runterzufallen. Und Huntinger wusste, dass sie ihm nun wie Windhunde am Rockzipfel hängen würden.
„Sie werden von meiner Frau Kleinschmidt sofort unterrichtet“, antwortete Huntinger trocken und stand auf.
„Doch nicht von einer … Nein, wir wollen von Ihnen persönlich Bericht erhalten!“, widersprach Dremmler schneidend.
„Sie erhalten schon meine Berichte“, konterte Huntinger lapidar und ging hinaus.
Bereits der erste Tag bescherte ihm einen Fall, wie er ihn in Bochum niemals haben würde, freute er sich. Ein Toter aus dem Begleitschutz des Kanzleramtes. Das war doch was. Es konnte losgehen.