Читать книгу Der Tote im Kanzleramt - Heinz-Joachim Simon - Страница 6

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Der Kanzler moderiert, aber regiert nicht

„Meine Dame, meine Herren, die Sache droht außer Kontrolle zu geraten!“, sagte der Kanzler und musterte seine Mitarbeiter wie Schüler, deren Versetzung gefährdet war, von denen er mehr erwartet hatte und die er nun zu einer größeren Anstrengung, wenn nicht sogar zum äußersten Einsatz, herausfordern musste, was das berühmte „Fünf vor Zwölf“ mit einschloss und die Drohung, dass sie bald ihre Posten verlieren würden und damit Mercedes, Dienstvilla und andere Privilegien.

Bundeskanzler Hohenfels, der jüngste Kanzler, den die Republik je hatte, der, wie er selbst nur zu gut wusste, seinen kometenhaften Aufstieg seiner Rhetorik, Eloquenz und vor allem seiner mediengerechten Erscheinung verdankte, breitete die Arme aus, als wolle er sagen „Muss ich denn alles selber machen?“, zeigte die gleiche Pose wie vor Downing Street und vor den Journalisten des Weißen Hauses, als stünde er wieder einmal im Blitzlichtgewitter. Es fehlte nur das strahlende Lächeln, was in Anbetracht der Situation aber fehl am Platz gewesen wäre. Er war knapp über Vierzig und verkörperte so recht die Generation der Jungdynamischen, die wohlbehütet und verwöhnt aufgewachsen war, die die besten Schulen absolviert hatte, was Cambridge oder Harvard bedeutete, in mehreren Sprachen parlieren konnte und in ihren gut geschnittenen Anzügen, ihrem stilsicheren Auftreten sich in der Öffentlichkeit darzustellen vermochte, um druckreif in die Mikrofone Plattitüden abzusondern wie etwa, dass man verantwortungsvoll handle und das Wohl des Volkes im Blick habe und man dumpfem Gemurmel eine Abfuhr erteile und Ähnliches, was geeignet war, von Presse und Fernsehen huldvoll bejubelt zu werden. Mit dem streng zurückgekämmten und gegelten Haar ähnelte er Gordon Gekko aus dem Film Wallstreet, also dem Berufsstand von Finanzjongleuren und Bankern, die die große Krise 2008 losgetreten hatten. Doch das war ein oberflächlicher Vergleich, denn er entstammte einer alteingesessenen Reederfamilie, die seit mehr als einem Jahrhundert ihre Schiffe in die Welt schickte und in Hamburg zum feinsten Hanseatenadel gehörte. Die lokalen Medien sprachen nur von „unserem Reeder“, als hätte dieser selbst noch die Kommandogewalt über eine Armada inne, die Störtebeker und seinen Vitalienbrüdern ihre kommunistischen Träume auszutreiben gedachte. Der Boulevard hatte in dem jungen Kanzler eine Art Großadmiral entdeckt und feierte ihn, als hätte er die Schiffsbrücke der Deutschland geentert, wenn diese auch nur das schlichte Etikett Kanzleramt trug. Er hätte herrlich und mit Freuden regieren können, wenn nicht die erneute Finanz– und Bankenkrise, die sich wieder verschärfende Weltwirtschaftskrise und die riesige Staatsverschuldung das Land durchgeschüttelt, das Heer der Arbeitslosen vergrößert und die bürgerliche Mitte zum Schmelzen gebracht hätte. All dies drohte nun zu eskalieren. Es war zu tumultartigen Demonstrationen und zu brennenden Barrikaden im Ruhrgebiet, Leipzig und Frankfurt gekommen, die an die schlimmsten Wirrnisse der Weimarer Zeit erinnerten und nun mit Recht den Kanzler eine Krisensitzung seiner engsten Mitarbeiter abhalten ließ.

Um ihn herum saßen wie kleine Jungen des „Admirals“ Paladine, die mit gesenkten Köpfen einer Standpauke des gestrengen Lehrers entgegensahen.

„Ich möchte eine klare und schonungslose Analyse!“, sagte der Kanzler und legte die Fingerspitzen seiner schönen Hände vor der Brust gegeneinander. „Gehen wir doch einmal rational durch, womit wir es zu tun haben, welche Faktoren die Lage beeinflussen und welche Optionen sich daraus ergeben. Wer fängt an?“

Die Paladine, die Funktionäre der Partei, die Minister des Äußeren, des Inneren und der anderen Administrationen, sahen sich kalt an. Eine Weile herrschte verlegenes Schweigen. Dann skizzierte Bronner, der Fraktionsvorsitzende der Konservativen, nach vorsichtigem Scannen der Anwesenheitsrunde, das Szenario.

„Es fing 2008 an, mit der Finanzkrise und der daraus resultierenden Wirtschaftskrise sowie der zögerlichen Politik der damaligen Regierungskoalition“, begann Bronner umständlich, was bei dem einen oder anderen ein beunruhigtes Räuspern auslöste, weil Bronner daran rührte, dass einige von ihnen damals dabei gewesen waren, und er nun nicht daran gehindert werden konnte, von Pontius zu Pilatus zu marschieren, die damaligen Versäumnisse durchzuhecheln, dass man zwar mit Milliarden den Banken und der Industrie zu Hilfe kam, aber dem Volk die Hilfe verweigerte, die Sozialleistungen kürzte, was nun, Jahre später, unter noch ungünstigeren Bedingungen, zu brennenden Barrikaden und Unruhen führte, die scharfe Maßnahmen und schwerwiegende Entscheidungen verlangten.

„Jetzt haben wir fünf Millionen Arbeitslose, und die Prognosen schließen nicht aus, dass es in Kürze sechs oder sieben Millionen sein können. Die Roten haben zum Sternmarsch auf Berlin aufgerufen. In den nächsten Tagen werden Hunderttausende, wenn nicht Millionen durch die Hauptstadt marschieren. Es ist nicht mehr auszuschließen, dass wir vor einer revolutionsähnlichen Situation stehen.“

Das böse Wort war gesagt. Das Wort, das jeder ordentliche Deutsche fürchtete wie der Teufel das Weihwasser und an den Winter 1918/19 denken ließ, als nur durch den Verrat von Ebert und Noske eine Räterepublik abgewendet werden konnte, und natürlich hatten sie auch den Mai 1968 in Frankreich im Kopf, als de Gaulle zur Armee flüchtete, und andere Umbrüche, die die Freiheit, wie sie das Großbürgertum verstand, bedrohten.

„Alles halb so schlimm!“, wehrte der Kanzleramtsminister Scheffler ab. „Welche Optionen haben denn die Roten und Krawallmacher? Kommunismus und Sozialismus sind diffamiert. Bei den Gewerkschaften sitzen doch nur wenige Scharfmacher. Die meisten von ihnen sind doch Leute von uns, Leute mit Augenmaß, mit dem Status und Habitus von Managern. Es wird Krawall geben, klar. Vielleicht brennen auch ein paar Autos, aber wir sind nicht in Frankreich oder Italien. Unser gutes Volk neigt nicht zu gewaltsamen Umbrüchen. Selbst der Kollaps der DDR geschah durch eine friedliche Revolution und wurde ohne Straßenkämpfe, ohne brennende Städte möglich. Der Deutsche, so ist er nun einmal, will vor allem Ruhe und Ordnung.“

„Wir haben die Oberhoheit über die Meinungsbildung verloren!“, klagte der Kanzler. „Wenn die Presse nicht dauernd das Gespenst einer Abwertung an die Wand gemalt hätte, wäre alles ruhig geblieben.“

„Aber sie ist wegen des Schuldenbergs unvermeidlich. Die Frage ist doch nur, in welcher Form, und wie kriegen wir ganz Europa hinter die Fahne“, erwiderte Festus, der nicht nur Generalsekretär der Konservativen, sondern auch ein Spezi des Kanzlers war, da beide das gleiche Eliteinternat am Bodensee besucht und sich gegenseitig unterstützend durch die Hierarchie gekämpft hatten. Ein Eierkopftyp, brillant und geschmeidig, schrieb die Presse. Das längliche Gesicht, das Pferdegebiss und die hohe marmorne Stirn sowie die Nickelbrille ließen ihn wie einen frühen Gustav Gründgens oder Oswald Spengler aussehen.

„Ob Brüssel mitspielt, ist noch lange nicht sicher“, sorgte sich der Kanzler.

„Ich kann nur warnen!“, mischte sich Staatssekretär Teske ein, der den Wirtschaftsminister vertrat, da dieser gerade in Brüssel weilte. „Ein Währungsschnitt würde das Bürgertum um den Wohlstand, den Mittelstand und die Rentner um ihre letzten Groschen bringen.“

„Wir haben doch in dieser Sache noch keine Entscheidung getroffen“, setzte der Kanzler unwillig dagegen.

„Nein. Natürlich noch nicht“, bekräftigte Bronner salbungsvoll.

„Aber das müssen wir. Ich bin für klare Worte, für einen schmerzlichen, aber notwendigen Schnitt. Wir müssen jetzt die Entscheidung fällen“, erwiderte Festus kalt und sah herausfordernd in die Runde.

Der Kanzler zog die Schultern hoch und starrte düster auf die Tischplatte. Die Rechtspresse hielt Festus längst für den besseren Kanzler und kommenden Mann. Besser, weil er Hohenfels an Wissen, Intelligenz und Tatkraft überlegen war, aber der Partei war gerade diese Intelligenz unheimlich. Deswegen hatte sie sich seinerzeit für Hohenfels als Nachfolger der Kanzlerin entschieden und sich anfangs bestätigt gesehen, da er in den Medien eine gute Figur abgab und in den Meinungsumfragen glänzend abschnitt. Er war mit Abstand Deutschlands beliebtester Politiker. Die Zeiten, wo ein Wehner oder Strauß, Männer ohne telegene Ausstrahlung Politik machen konnten, waren längst vorbei.

„Ich gebe Staatssekretär Teske recht“, mischte sich Kanzleramtsminister Scheffler ein. „Unser Volk ist zwar geduldig, doch eine Währungsabwertung würde nicht nur den Mittelstand, sondern jeden treffen und könnte der Punkt sein, wo im ganzen Land Barrikaden brennen.“

„Ja doch. Ja. Wir haben verstanden“, murrte der Vorsitzende der Schwesterpartei und Präsident des größten Bundeslandes, ein schwergewichtiger, bräsiger Mann, dessen Name Bibelmaier niemand missverstand.

Bibelmaier galt als hart und rauflustig, was ihm aber in der Heimat nicht schadete. Mit populistischen Tiraden brachte er den Kanzler immer wieder in Verlegenheit.

„Es betrifft ja nicht nur uns, sondern ganz Europa. Wir können es bei uns in Deutschland als Brüsseler Entscheidung verkaufen. Unsere Wirtschaft wird dann wieder in Gang kommen, unsere Produkte werden wettbewerbsfähiger sein, und bis zu den nächsten Wahlen ist alles vergessen.“

„Den Amerikanern wird das nicht gefallen“, sagte der Kanzler nachdenklich.

„Aber sie werden es hinnehmen müssen. Zähneknirschend zwar, aber es ist ja dann eine europäische Entscheidung.“

„Ich möchte Staatssekretär Teske noch einmal hören“, gab der Kanzler diesem das Wort.

„Ich gebe Herrn Festus in einem Punkt recht. In dieser Situation ist ein offenes Wort angebracht. Wir haben dem Volk in dem letzten Jahrzehnt einiges abverlangt. Wir hätten die Vorschläge der Sozis annehmen sollen: Mindestlöhne von zwölf Euro für alle Berufszweige, die Verankerung des Rechts auf Arbeit im Grundgesetz, Entlastung der unteren Einkommensklassen. Aber wir haben dies vom Tisch gewischt. Das rächt sich nun.“

„Unsinn! Utopie! Das wäre auf eine Umverteilung hinaus–gelaufen!“, polterte Bibelmaier. „Das war finanziell gar nicht machbar.“

„Dass wir uns gegen die Masse des Volkes entschieden haben, nur den Banken und der Industrie zu Hilfe gekommen sind, hat uns dem Volk entfremdet. Die Regierung gilt als abgehoben“, fuhr Teske unbeirrt fort. „Die Sozis, die noch vor einigen Jahren bei dreiundzwanzig Prozent herumdümpelten, bekommen nach den letzten Umfragen mehr als dreißig Prozent, und die Linke nähert sich den zwanzig Prozent. Wenn morgen Wahlen wären, hätten wir bestenfalls eine große Koalition mit uns als Juniorpartner – ich betone: bestenfalls. So sieht es aus. Ich sehe unsere einzige Chance darin, ein großes Sozialprogramm auf den Weg zu bringen. Das würde die Gemüter ganz schnell abkühlen.“

„Und woher sollen wir das Geld nehmen?“, fragte die einzige Frau in der Runde, Finanzministerin Lechle, eine gut aussehende Blondine, die hinter ihrem Rücken von den Chauvis wie Bibelmaier, Bronner und Innenminister Gollner nur Moneypenny genannt wurde.

„Nur durch eine erneute Staatsverschuldung wäre das machbar, und das stehen wir politisch nicht durch.“

„Das ist keine Option“, brummte der Kanzler und nickte bekümmert.

„Wir werden die Streiks durchstehen müssen“, sagte Kanzleramts–minister Scheffler dumpf.

Daraufhin war es still. Der Kanzler sah nachdenklich zum Reichstag hinüber.

„Wird man mir das nicht als Schwäche ankreiden?“, murmelte er. „Ist das unsere Entscheidung? Abwarten? Es hinnehmen? Es kann uns die Regierung kosten. Drüben in Frankreich wackelt bereits der Präsident.“

„Nicht hinnehmen, sondern durchstehen!“, korrigierte Festus schneidend. „Ich weiß gar nicht, warum wir so pessimistisch sind. Wir werden Linie zeigen. Herr Innenminister, wie sehen Sie die Lage? Werden wir mit den Hunderttausenden oder wegen mir auch Millionen fertig werden, wenn die nach Berlin kommen?“

„Eine Million Demonstranten sind nicht kontrollierbar“, erwiderte Gollner kopfschüttelnd. „So viel Polizei gibt es nicht. Selbst wenn wir aus dem ganzen Land Einheiten zusammenziehen. Oder wie sehen Sie das, Herr Polizeipräsident?“

Krassel, der zum ersten Mal in so einer hochkarätigen Runde weilte, wurde bleich, räusperte sich nervös und nickte heftig.

„Unmöglich. Bei einer Million, wie die Gewerkschaften angekündigt haben, sind sicher Tausende von Krawallmachern dabei, die Hunderttausende anstecken könnten. Ein Fiasko ist nicht auszuschließen. Berlin könnte brennen.“

„Da haben wir es!“, fauchte der Kanzler.

„Wir könnten den Notstand ausrufen“, hielt ihm Festus entgegen. „Ihre Vorgänger, lieber Gollner, haben doch dafür gesorgt, dass wir sogar die Bundeswehr im Innern einsetzen können.“

Der Innenminister zuckte zusammen und wiegte den Kopf.

„Dafür brauchen wir die Zustimmung des Bundestages. Zwar sind die Notstandsgesetze auch dafür geschaffen worden, Unruhen bekämpfen zu können, aber den Notstand auszurufen, kriegen wir nur schwer durch den Bundestag. Wir haben eine Chance, wenn das Malheur passiert ist, wenn in Berlin Chaos und Terror herrschen. Bekanntlich haben auch die Sozis, wie es uns 1918 lehrt, Angst vor unkontrollierbaren Volksgenossen. Wenn wir sie verdächtigen, mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten, könnten wir sie weichkochen.“

„Mannomann! Können wir die Lage erst bekämpfen, wenn Berlin brennt?“, erregte sich Bronner.

„Der Kanzler sollte die Gewerkschaftsführer einberufen und zur Mäßigung auffordern. Es sind doch unter ihnen ganz vernünftige und verantwortungsbewusste Leute“, meldete sich Teske wieder. „Wenn der Kanzler ihnen versichert, dass eine Währungsreform von uns nicht präferiert wird, werden sie mitspielen.“

„Das vertagt nur das Problem. Bei der Staatsverschuldung in Europa kommen wir an einer Abwertung nicht vorbei“, entgegnete Festus kalt. „Wir sollten die Unruhestifter im Vorfeld in Gewahrsam nehmen. Außerdem könnten wir aufgrund der Vorfälle in Frankfurt und im Ruhrgebiet den Gemeinsamen Ausschuss zum Notstand aktivieren, der sich besser führen lässt. Wir sollten erkennen: Wir stehen vor dem Staatsnotstand!“

„Der Gemeinsame Ausschuss bedarf der Zustimmung des Bundestages“, winkte Gollner ab.

„Richtig. Aber in dem Gemeinsamen Ausschuss sind nicht nur alle Parteien vertreten, sondern auch Vertreter des Bundesrates, somit haben wir eine respektable Mehrheit. Kann man deichseln, dass die anderen Parteien mitspielen, Bronner?“, fragte Festus.

„Wenn wir es publizistisch vorbereiten, wäre es möglich“, erwiderte Bronner. „Wir brauchen Schützenhilfe von den bürgerlichen Zeitungen. Vielleicht, ich sage bewusst vielleicht, wäre es möglich.“

„Die Bundeswehr einsetzen?“, fragte die Lechle kopfschüttelnd. „Jetzt lauft ihr Männer nun heiß. Das hat es nicht einmal während der Weimarer Republik gegeben.“

„Doch, hat es“, widersprach Festus, sarkastisch lächelnd. „Ich darf der werten Kollegin in Geschichte auf die Sprünge helfen. Die Sozis haben sogar Freikorpsverbände eingesetzt, sei es nun 1918, sei es später in Sachsen.“

„Wie wird das auf das Ausland wirken?“, fragte der Kanzler stirnrunzelnd.

„Das wird kein Problem sein“, wiegelte Festus ab. „Der in Frankreich wird auch bald die Soldaten aufmarschieren lassen. In Italien, Belgien, Griechenland und Spanien sieht es ähnlich aus. Stimmt’s, Herr Gollner?“

Der Innenminister nickte zögernd.

„Wir hatten noch nie eine so brisante Situation“, murmelte der Kanzler. „Ein Sternmarsch nach Berlin mit der kriminellen Androhung eines Generalsstreiks, das gab es noch nie.“

„Wir müssen handeln, eine Entscheidung treffen und unsere Freunde bei den Zeitungen mobilisieren“, drängte Festus.

„Ich kann nur warnen!“, mischte sich Teske erneut ein, der mit seinem silbernen Haar und den markanten Gesichtszügen eher den Eindruck eines Diplomaten denn eines Beamten machte. „Wir legen eine brennende Lunte ans Pulverfass.“

„Ich kann so etwas nicht mehr hören. Das ist doch Defätismus!“, erwiderte Festus verächtlich abwinkend. „Wir müssen Kante zeigen. Gut, es wird ein paar Tage lang hoch hergehen. Ein paar Straßenzüge werden brennen, aber wenn wir Härte zeigen und die Mittel einsetzen, die wir haben, wird schnell Ruhe einkehren. Lassen wir sie kommen. Ich fürchte den Sternmarsch nicht. Im Gegenteil. Wenn sie Randale machen, Autos anstecken, Barrikaden bauen, haben wir die Argumente, um den Notstand durchzudrücken.“

„Wollt ihr einen Staatsstreich?“, fragte Teske scharf.

„Ich muss schon bitten, Herr Teske!“, polterte Bronner mit hochrotem Kopf.

„Unerhört!“, stimmte Scheffler zu.

„Das geht nun wirklich zu weit!“, erwiderte Gollner ärgerlich.

„Ach was, Staatsstreich“, winkte Festus lächelnd ab. „Kommen Sie uns doch nicht mit so linkem Gerede. Schließlich läuft alles demokratisch ab. Wir werden die Sozis der Zusammenarbeit mit den Kommunisten verdächtigen, bis sie dem Notstand zustimmen. Dann haben wir die Mehrheit, die wir brauchen. Die Liberalen sind ohnehin auf unserer Seite, die fürchten um ihre Klientel. Ich habe schon mal andeutungsweise anklingen lassen, dass wir unter Umständen zum Schutz der Leistungsträger auf die Notstandsgesetze zurückgreifen müssen, und ich hatte den Eindruck, dass die mitziehen.“

„Und der Bundespräsident?“, fragte Bronner.

„Ach, der wird wie immer wie ein verängstigter Hase mit den Augen rollen, aber er wird mitmachen. Letztendlich macht er doch immer mit“, sagte Scheffler.

„Ich kann ja die Polizeieinheiten bereits in Bereitschaft versetzen“, bot der Innenminister an.

„Machen Sie das“, stimmte Hohenfels zu. „Aber das mit der Bundeswehr, das lassen wir erst mal. Bronner, Sie prüfen, ob wir das mit dem Notstand bei den Parteien durchkriegen. Gollner, Sie prüfen mal die rechtliche Lage. Aber noch keine Fakten schaffen. Ich fahre nächste Woche nach Brüssel zum Treffen aller europäischen Regierungschefs, und dann sehen wir weiter. Step by Step. Eine ruhige Hand ist jetzt gefragt. Keine übereilten Maßnahmen. Wir fahren auf Sicht. Abwarten, was kommt. Ich danke Ihnen, Frau Lechle, meine Herren.“

Er nickte seinen Paladinen zu und ging hinaus, selbstsicher und in der Überzeugung, dass er ein gutes Bild von einem Kanzler abgegeben hatte und nur bedauernd, dass das Fernsehen nicht dabei gewesen war.

Wie betäubt saßen seine Paladine noch eine Weile schweigend im Sitzungssaal. Nun, nachdem der Chef weg war, machte sich Unmut breit.

„Also, dass war ja wieder … Ja, was war das? Eine Analyse? Eine Entscheidung ist jedenfalls nicht gefallen. Wir haben nur herum–gequatscht!“, brummte Bronner unzufrieden.

„So macht er es doch immer“, erwiderte Gollner. „Bisher ist er damit durchgekommen. Weiß jemand, was unser Kanzler denkt? Welche Überzeugungen er hat? Er hat moderiert wie immer und wartet darauf, dass ihm irgendetwas, irgendjemand die Entscheidung abnimmt. Gegen ihn war ja unsere … Na ja, lassen wir das.“

„Es war eine Entscheidungsvorbereitung“, erwiderte Festus höhnisch grinsend. „Wir haben uns klar gemacht, wie ernst die Lage ist und welche Optionen wir haben. Das wird er nun durchdenken. Ich kenne ihn. Er wird sich schon noch entscheiden.“

„Aber was wird er entscheiden? Ich halte es für einen historischen Fehler, in dieser Situation auch nur daran zu denken, man könne den Notstand ausrufen. Das zerreißt unser Volk“, meldete sich Teske erneut. „Es könnte sich ähnlich fatal auswirken wie einst Hitlers Berufung zum Kanzler durch den Reichspräsidenten Hindenburg.“

„Ach was, Sie mit Ihrer Schwarzseherei!“, wies ihn Gollner zurecht. „Das ist doch rote Propaganda.“

„Ein völlig hirnrissiger Vergleich. Ich glaube, Sie sind mit der Vertretung des Wirtschaftsministers etwas überfordert“, setzte Festus kühl hinzu, dabei seinen Montblanc vor der Brust drehend.

„Ganz ruhig, Herr Festus“, erwiderte Teske. „Gehen wir vom Ende des Stricks aus, an dem wir uns aufhängen sollen. Was passiert, wenn wir Soldaten im Inneren einsetzen? Es wird Schießereien geben, Tote und Verletzte. Glauben Sie wirklich, dass wir dann noch die nächsten Wahlen gewinnen? Gut, wir werden, sollte es zu Straßenkämpfen und Barrikaden kommen, einen Generalstreik verhindern können. Angenommen, wir können sogar eine Abwertung des Euro durchsetzen. Aber dann?“

Alle schwiegen und starrten bedrückt auf die lange Tischplatte, sie hatten Angst, sich die Frage zu beantworten und dachten daran, was sie selbst verlieren würden. Wenn sie die Macht behalten wollten, dann durften sie nicht gleich wählen lassen, und die Konsequenz daraus wäre, einmal unverbindlich weiter gedacht, dass man den Notstand nicht gleich abschaffen durfte und, zu Ende gedacht, dass dies ein Staatsstreich war, selbst wenn man diesen als Notmaßnahme beschönigen würde.

Die Versammlung löste sich in düsterer Stimmung auf.

„Auf ein Wort!“, wandte sich Festus beim Verlassen des Sitzungsraumes an den Innenminister. „Kriegen wir das rechtlich mit dem Notstand auf die Reihe?“

Gollner wiegte den Kopf.

„Man wird vielen Leuten viel versprechen müssen. Einfach wird das sicher nicht. Mit Winkelzügen und mit genug Vitaminen in Form von Pöstchen könnte es klappen.“

„Das wäre nicht das Problem“, winkte Festus ab. „Testen Sie es einmal ab.“

„Und wenn die Presse davon Wind bekommt?“

„Soll sie ruhig. Wir werden dementieren. Außerdem hat es den Vorteil, dass sich das Volk langsam mit dem Gedanken vertraut macht.“

„Hm, Sie sind ja gefährlich, Festus!“, erwiderte Gollner grinsend. „Aber wird sich der Kanzler zu solch gravierenden Entscheidungen durchringen? Er spielt doch immer nur den Moderator. Wir müssen den Kopf hinhalten und, wenn es schiefgeht, die Suppe auslöffeln! Er entscheidet nicht. Er hat zwar die Richtlinienkompetenz, aber meidet sie wie die Nonne das Liebeslager. So gut er sich auch verkauft. Er ist nur die Projektionsfläche der Erwartungen, ein …“

„Aber, aber, lieber Gollner. Er ist ein besonnener Mann. Er bricht nichts übers Knie. Wir waren doch alle froh, als wir damals den Basta-Kanzler los waren.“

„Der Teske ist ein kluger Kopf. Er hat schon recht: Wenn wir es vom Ende her denken, könnte uns das Volk an den Laternen aufhängen.“

„Ach was, wir sind nicht in Frankreich. Sie vergessen die Medien. Die Kersten und die Lobenau mit ihren Talkshows sind auf unserer Seite, der Boulevard ohnehin. Sie lieben unseren Kanzler, und wenn wir über die Länder auf die Sendeanstalten gehörig Druck machen, können wir dem Volk schon erläutern, warum wir so handeln müssen, wie wir handeln.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr!“

„Manchmal muss man das Volk zu seinem Glück zwingen.“

Lachend schlug Festus dem Innenminister auf die Schulter und ging pfeifend den Flur hinunter zu seinem Büro, das neben dem des Kanzlers lag.

Teske dagegen fuhr mit hängendem Kopf in sein Ministerium. Seine Sekretärin erkannte sofort die Stimmung ihres Chefs und kam besorgt mit einer Tasse Kaffee zu ihm ins Zimmer.

„War es so schlimm?“

„Schlimmer denn je. Die im Kanzleramt sind verrückt geworden. Das reinste Tollhaus. Der Kanzler entscheidet nicht, und Festus spielt den Scharfmacher. Ich fürchte, der bekommt noch seinen Notstand. Festus manipuliert die gesamte Regierungsmannschaft. Der Kanzler moderiert nur und lässt alles treiben. Na ja, rufen Sie mir Wohlstein. Er soll sofort kommen.“

Wenig später betrat Wohlstein das Amtszimmer. Ein verbraucht wirkender, gebeugt gehender Mann mit einem bleichen, faltigen Uhugesicht in einem verknautschten Anzug. Er sah älter aus, als er war, hatte bereits vielen Staatssekretären gedient und war deshalb für Teske unentbehrlich. Die dicken Brillengläser vergrößerten seine Augen auf geradezu groteske Weise.

„Ich habe schon allerhand erlebt“, fing Teske an. „Aber wenn Festus so weitermacht, stehen wir kurz vor einem Staatsstreich.“

„Ja. Festus zieht die Fäden. Als einziger Duzfreund des Kanzlers ist er unangreifbar“, bestätigte Wohlstein düster.

„Er ist ein unverbesserlicher Scharfmacher. Was verspricht er sich denn davon? Er muss doch wissen, dass er seinen Freund unter Umständen ums Kanzleramt bringt.“

„Könnte er nicht selbst nach dem Kanzleramt schielen? Könnte er Hohenfels nicht in eine Situation bringen wollen, die dessen Unfähigkeit offenbart?“, fragte Wohlstein mit listigem Lächeln.

„Sie meinen, damit es ersichtlich wird, dass unser großer Moderator gar nicht in der Lage ist, Krisenzeiten zu managen?“

„Genau. Und wen wird die Partei aufs Schild heben, wenn sich dies erweist? Natürlich die Intelligenzbestie, den scharf formulierenden, stets selbstsicheren Festus, der schon längst die Fäden zieht und überall seine Amigos sitzen hat. Er ist doch bereits mächtiger als der Kanzler, doch seinem Freund gegenüber spielt er den unentbehrlichen Gehilfen, seinen Mann im Hintergrund. Ich habe daher durchaus den Eindruck, dass sein Ziel die Kanzlerschaft ist.“

„Sie glauben, er reitet den Kanzler in das Dilemma, nur um ihn zu desavouieren?“, fragte Teske.

„Genau das meine ich. Er braucht den Staatsnotstand, um Hohenfels’ Unfähigkeit zu demonstrieren und um dann von seiner Partei gerufen zu werden.“

„Wohlstein, Wohlstein, manchmal sind Sie mir unheimlich. Hoffen wir, dass Sie unrecht haben.“

„Ist natürlich reine Spekulation. Doch nun erzählen Sie mal, was war im Kanzleramt los?“

Währenddessen beugte sich ein paar Kilometer weiter, im Stadtteil Steglitz, Hauptkommissar Huntinger über die Leiche. Wie die Kleinschmidt ihm am Telefon gesagt hatte, wies der Tote zwei Schusswunden auf. Von den beiden Wunden abgesehen, sah er aus, als würde er schlafen.

„Muss aus kurzer Entfernung passiert sein“, sagte Wurmser, der Arzt von der Pathologie, ein kauziger Mann mit Spitzbart und melancholischen Augen, der im Kommissariat nur Sauerbruch genannt wurde.

„Also möglich, dass der Tote den Mann kannte, der ihn erschossen hat“, mutmaßte Huntinger.

Natürlich konnte es etwas Privates sein, aber er machte sich bereits darauf gefasst, dass mehr dahintersteckte und dann hatte er sich warm anzuziehen, denn er kannte noch nicht das Machtgefüge, die Verbindungslinien hier in Berlin. Ein Überfall, ein Mord aus Gier oder Leidenschaft, das waren die Motive, mit denen er Erfahrung hatte und wo er keine Entscheidungsabläufe kennen musste. Aber das hier konnte eine politische Sache sein, und so, wie es zurzeit in Deutschland stand, kurz vor dem Sternmarsch auf Berlin, war es nicht ausgeschlossen, dass er im Begriff war, in ein Schlangennest zu greifen. Aber war er nicht nach Berlin gekommen, um noch einmal eine große Herausforderung anzunehmen? Er zündete sich die Pfeife an und sah Wurmser nachdenklich an.

„Und?“

„Ich würde sagen, dass er seit gestern Abend tot ist. Näheres kann ich erst sagen, wenn ich ihn in der Pathologie habe.“

„Schön. Habt ihr die Wohnung durchsucht?“, fragte er Pressel.

„Wir sind noch dabei.“

Huntinger besah sich die Einrichtung. Moderne Möbel, schlicht, von billigem, wohlfeilen Zuschnitt, wie man sie in den Katalogen von Versandhäusern oder bei IKEA sah. Er ging an das Billyregal, um sich ein Bild von der Persönlichkeit des Toten zu machen: Kriminalromane und Thriller. Überwiegend Ludlum, Grisham und Ähnliches. Wertvoll in der Wohnung waren nur der Fernseher und die Stereoanlage von Bang & Olufsen. Die DVDs waren ebenfalls überwiegend Thriller. Alte Filme mit Robert de Niro, Clint Eastwood und Al Pacino.

„Tolle Filme“, kommentierte Pressel.

„Ist der Mann verheiratet? Eine Freundin?“

„Wir sind noch am Recherchieren.“

Die Mäusel kam rein, stapfte zu Huntinger und verkündete triumphierend:

„Ich habe vorhin mit seinem Vorgesetzten gesprochen. Der redet in den höchsten Tönen von ihm. Einer seiner besten Männer, sagt er.“

„Was ist das für ein Kerl? Ich meine, der Vorgesetzte?“

„Ein Oberst. Spezialeinheit zum Schutz des Kanzlers und der Regierungsmannschaft. Von ihm weiß ich, dass Fleming ledig ist. Von einer Freundin weiß man nichts.“

„Das ist wenig. Belsen soll die Eltern aufsuchen, damit wir uns ein Bild von Fleming machen können. So jemand hat doch eine Waffe?“

„Wir haben bisher nichts gefunden. Allerdings liegt in einer Schublade Munition“, warf Pressel ein, der gerade in den Schubladen eines Wohnschrankes stöberte.

Huntinger nickte und kaute an seinem Pfeifenstiel.

„Wie sieht es mit Fingerabdrücken aus?“, fragte er und wies auf die Männer der Spurensicherung.

„Jede Menge. Ich befürchte nur, die meisten stammen von Fleming.“

„Checken!“

„Wird gemacht, Chef!“, erwiderte Pressel.

Huntinger ging ins Schlafzimmer. Die Mäusel folgte ihm.

„Das Bett ist nur für eine Person“, stellte sie fest und wies auf die schmale Bettstelle. Sie wollte zur Schublade des Nachttisches greifen. Huntinger brummte und wies auf seine Gummihandschuhe. Die Mäusel bekam einen roten Kopf, griff in die Jacke und streifte sich die Handschuhe über, zog die Schublade auf und nahm ein paar Pornohefte heraus.

„Der Kerl war ein Homo“, sagte sie pikiert. „Alles Jungs.“

„Das macht es nicht leichter. Also werden wir im Milieu herumhorchen müssen.“

„Also doch eine Beziehungsgeschichte, Chef?“, fragte die Mäusel.

„Eher nicht. Die Sache hier ist mir zu professionell abgelaufen. Aber ausschließen können wir es nicht.“

„Soll ich mich darum kümmern?“, bot sich die Mäusel eifrig an.

„Nein. Das soll Belsen machen. Eine Frau wird in den Gaykneipen selbst mit dem Polizeiausweis ihre Schwierigkeiten haben.“

Die Mäusel zog beleidigt einen Flunsch.

„Wir fahren jetzt beide zu Flemings Vorgesetzten“, beruhigte Huntinger sie.

Der Chef der Spurensicherung schaute rein. Der Hauptkommissar wies auf das Bett.

„Prüfen Sie das Bett auf Spuren. Haare, Sperma, etc. Wir brauchen seine DNA.“

Nachdenklich sah Huntinger auf das Bild über dem Bett. Es zeigte einen Kopf, um den sich Schlangen ringelten. Das Gesicht war schreckverzerrt, der Mund weit aufgerissen. Die Medusa von Caravaggio.

„Kein Bild, das sich jemand ins Schlafzimmer hängt, der mit sich im Reinen ist“, kommentierte Wurmser, der sich nun auch ins Schlafzimmer drängte.

Huntinger zuckte mit den Achseln. Da sein Steckenpferd antike Geschichte war, wusste er, dass die Griechen die Medusa auf ihren Rüstungen als abweisendes Schutzzeichen getragen hatten.

„Seltsamer Geschmack!“, fuhr Wurmser fort. „Wenn er ein Homo war, wäre doch das Bild des Bacchus von Caravaggio viel angebrachter gewesen.“

Wurmser entdeckte auf einem Sideboard ein Schachspiel mit einer nicht zu Ende gespielten Partie.

„Stümper!“, kommentierte er abfällig. „Spielen Sie auch Schach?“, wandte er sich an Huntinger, der gerade mit einer Pinzette feine Härchen in ein Plastiktütchen schob.

„Ja. Ich bin sogar ein leidenschaftlicher Schachspieler.“

„Dann kommen Sie doch mal bei mir vorbei. Ich freue mich immer, wenn ich auf einen guten Gegner treffe. Wie wäre es mit Freitag Abend?“

„In Ordnung“, stimmte der Kommissar zu.

Huntinger schmunzelte. Er freute sich auf das Spiel und hoffte auf ein gutes Gespräch, so wie er es mit Steinbock in Bochum gehalten hatte. Er öffnete den Kleiderschrank, klopfte die Kleider ab und durchsuchte die Taschen. Es waren meist dunkle Anzüge. In einer Tasche fand er die Visitenkarte eines Gayklubs. Er nickte und rief nach der Mäusel.

„Geben Sie das Belsen. Er soll dort mal nachforschen. Haben wir ein Bild von dem Toten?“

„Haben wir!“, bestätigte die Mäusel. „Nackt und nicht nackt und ziemlich aktuell.“

„Er soll dort das Bild mal rumzeigen. Vielleicht bringt es was.“

„Ich habe ihn schon informiert.“

„Gut. Ich glaube, dann können wir abziehen. Den Rest erledigt Pressel.“

Er ging ins Wohnzimmer zurück, wo Pressel noch immer den Schrank durchstöberte.

„Irgendwas Interessantes? Irgendwelche Aufzeichnungen?“

„Wir haben einen Einsatzplan gefunden. Er war sogar für den Kanzler eingeteilt.“

„Interessant. Mach hier weiter. Wir treffen uns um sieben im Kommissariat. Dann tragen wir zusammen, was wir haben.“

„Wird nicht so viel sein.“

„So sieht es am Anfang immer aus“, beruhigte Huntinger ihn.

Eine halbe Stunde später saßen sie im Büro des Securitychefs.

„Ich bin erfreut Sie kennenzulernen, auch wenn es ein so schlimmer Anlass ist!“, sagte der hochgewachsene, austrainiert wirkende Mann mit einem militärischen Bürstenhaarschnitt, der sich als Major Hagen vorgestellt hatte. „Einen Kaffee?“

„Ja, gern“, sagte die Mäusel.

Huntinger schüttelte den Kopf, zog seine Pfeife aus dem Mantel und sah Hagen fragend an.

„Ja. Rauchen Sie ruhig.“

Es folgten die üblichen Fragen, was er von Fleming wusste, wie lange er bei der Truppe war, wie man ihn einschätzte und ob ihm etwas Persönliches bekannt war.

„Nun, Herr Fleming wurde von uns sehr geschätzt“, sagte Hagen und legte die Finger gespreizt gegeneinander. „Absolut zuverlässig. Ein hervorragender Sportsmann und guter Kollege.“

„Wie lange ist er schon bei Ihnen?“

„Seit zwei Jahren. Etwas Persönliches weiß ich nicht über ihn. Natürlich wurde er vom militärischen Abschirmdienst auf Herz und Nieren geprüft, ehe er bei uns den Dienst aufnahm. Ich habe vorhin auch seine Kollegen befragt, aber das erbrachte nicht viel. Er war, sagen wir mal, ein sehr verschlossener Mensch. Sprach nicht viel über sich. Aber im Dienst stets sehr korrekt.“

„Was für eine Waffe hatte er?“

„Eine Beretta. Er war ein vorzüglicher Schütze. Im Nahkampf hervorragend. In Jiu–Jitsu und Karate gehörte er zu den Besten. Versäumte keine Trainingsstunde.“

„War er mal in einer dienstlichen Situation, die gefährlich war?“

„Nein. Keine besonderen Vorkommnisse. Nur das Übliche, meistens Abschirmarbeit, mal eine Drängelei. Einmal musste er einen Fanatiker, der dem Kanzler zu nahe kam, zur Räson bringen. Er tat dies absolut unauffällig und situationsgerecht. Er war ein Profi. Ich gebe Ihnen die Akte mit.“

„Wussten Sie, dass er homoerotisch veranlagt war?“

„Nein!“, sagte Hagen überrascht. „Das kann ich mir bei ihm eigentlich gar nicht vorstellen.“

„Es deutet aber vieles darauf hin“, erwiderte die Mäusel spitz.

„Ich wusste jedenfalls nichts davon. Aufgefallen ist er mir deswegen nicht. Außerdem ist es natürlich seine Privatsache.“

„Natürlich“, bestätigte Huntinger trocken.

Von der Mäusel kam ein Klingelton, der sich nach der Abba–Melodie The Winner takes it all anhörte. Sie bekam einen roten Kopf und drückte nach einem kurzen Blick auf das Handy das Gespräch weg.

„Hat er irgendwelche Feinde gehabt? Haben seine Kollegen etwas davon berichtet?“, fragte Huntinger weiter.

„Nichts. Nein. Das habe ich meine Leute auch gefragt. Nein. Es ist allen ein Rätsel.“

„Na schön. Frau Mäusel, nehmen Sie doch bitte die Namen der Kollegen auf. Ihre Männer sollen sich morgen bei uns auf dem Kommissariat einfinden.“

„Selbstverständlich. Aber Sie werden verstehen, dass sie Dienst haben. Ich schicke sie Ihnen vorbei, sobald sie frei sind.“

„Hauptsache, sie kommen!“, stimmte Huntinger zu.

Als sie wieder im Auto saßen, befeuerte Huntinger seine Pfeife.

„Hm, sieht bis jetzt alles sehr koscher aus, nicht wahr? Doch wir sollten uns auch einmal seine Bankunterlagen ansehen.“

„Haben Sie bemerkt, dass hinter uns in der Ecke des Büros eine Kopie von Michelangelos David stand und der Major einen Ring trug, der auch den Davidskopf zeigte?“

„Sehr gut, Mäusel!“, freute sich Huntinger. Die Kleine war so klug, wie er sie eingeschätzt hatte. „Was könnte uns das sagen?“

„Nun, vielleicht ist er auch homoerotisch veranlagt.“

„Ausgezeichnet. Geben Sie das an Belsen weiter. Er soll sich mal beim BKA über den Mann erkundigen und auch mal schauen, ob er in der Szene etwas über Hagen erfährt. Schade, dass wir kein Bild von ihm haben.“

„Haben wir!“, sagte die Mäusel und grinste verschmitzt: „Ich habe vorhin mit dem Handy eine Aufnahme von ihm gemacht.“

„Sie sind ein guter …, ich meine, Sie sind eine verdammt gute Frau!“, lobte Huntinger.

„Sie sind der Erste, der das merkt!“, grinste die Mäusel. „Weit sind wir heute trotzdem nicht gekommen“, setzte sie seufzend hinzu.

„Ach, das ist doch am Anfang immer so“, erwiderte Huntinger gelassen.

„Aber es heißt doch, dass die ersten vierundzwanzig Stunden entscheiden, ob man den Täter zu fassen kriegt.“

„So heißt es. Aber diesmal wird es nicht so schnell gehen. Wir sind auf Fehler angewiesen.“

„Aber wir haben doch gar nichts. Rein gar nichts.“

„Nein? Wir können annehmen, dass es ein Profi gewesen sein muss. Ich bin mir sicher: Der Mann hat nicht zum ersten Mal getötet. Außerdem war das Opfer ein Bodyguard im Kanzleramt. Das lässt darauf schließen, dass es sich um eine politische Sache handelt. Vielleicht können wir schon bald ausschließen, dass es eine Beziehungsgeschichte war. Fleming war ein introvertierter und, wie wir hörten, sehr disziplinierter Mann. Nein, ich glaube nicht, dass er sich in irgendwelche Leidenschaften verwickeln ließ. Ein bisschen haben wir schon zusammenbekommen.“

„Wenn Sie das so sehen wollen!“, sagte die Mäusel.

Der Tote im Kanzleramt

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