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1881, Alles gerettet!

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Kommerzialrat Anton Kupferwieser, stolzer Besitzer des Hotels „Zur Eisernen Krone“, war mit der Welt zufrieden und mit sich im Reinen.

Er entstammte einer alteingesessenen Weinhauerfamilie, die ihren Ursprung in Perchtoldsdorf südlich von Wien hatte. Zunächst hatte nichts darauf hingewiesen, dass er einen anderen Weg einschlagen sollte als seine Vorfahren und Verwandten.

Seine Ahnen ließen sich in Perchtoldsdorf bis Anfang des siebzehnten Jahrhunderts zurück verfolgen. Einzelne Spuren führten sogar noch weiter zurück. Im Ursprung waren sie anscheinend Schmiede gewesen. Einer sehr frühen Urkunde zufolge, die nur verstümmelt die Wirren der Zeit überstand, hatten sie ihren ersten Weingarten auf einer Wiese nahe einer Kupferschmiede angelegt. Daher rührte wohl die etwas eigenwillige Namenskombination.

Ende des siebzehnten Jahrhunderts stellte man schon mehr dar. Ein Koloman Kupferwieser war 1683 Marktrichter, somit Bürgermeister von Perchtoldsdorf gewesen. Er wurde freilich gemeinsam mit einem Großteil der Perchtoldsdorfer Bürger von den Türken massakriert, die sich solcherart die Zeit vertrieben, indem sie die umliegenden Dörfer, Märkte und Klöster brandschatzten und plünderten, während sie eigentlich zum zweiten Mal innerhalb von 150 Jahren Wien belagerten.

Ein slowakischer Bursch, so hieß es, der sich in die Burg von Perchtoldsdorf geflüchtet hatte und zwischen Bürgern und Türken als Dolmetscher fungiert hatte, habe des Richters Kupferwiesers einzige Tochter, wohl ein wenig älter als er, vor dem sicheren Tod bewahrt und sich gemeinsam mit ihr verborgen gehalten.

Nach anderen Berichten hatte er eigenhändig einen Janitscharen erschlagen, um die Richtertochter zu retten.

Nach der Entsatzschlacht um Wien jedenfalls, hatten die überlebende Kupferwieser-Tochter und der jugendliche Slowake geheiratet und der Pfarrer von Brunn am Gebirge, ebenfalls ein Kupferwieser, der auch irgendwie überlebt hatte, trug das Ehepaar unter dem alteingesessenen Namen ein.

Derlei geschah oft in jenen Zeiten, um den Anspruch der Überlebenden auf den alten Besitzstand zu sichern.

Um die Erinnerung an jenes Schicksalsjahr wach zu halten, wurde es unter den Kupferwiesers von da an Brauch, über dem Eingang jedes ihrer Häuser einen Türkenkopf anzubringen.

Unter Maria Theresia hatte sich dann ein jüngerer Sohn der damaligen Kupferwiesers in Neustift am Walde niedergelassen und Antons Großvater, ebenfalls ein jüngerer Sohn, hatte schließlich eine der wohlhabendsten Grinzinger Erbinnen geehelicht, freilich nicht ohne auch seinerseits einen Türkenkopf über dem Hauseingang deren Elternhauses anzubringen. Mittlerweile gab es nur mehr in Grinzing Kupferwiesers, aber von Perchtoldsdorf im Süden bis Grinzing im Nordwesten eine ganze Anzahl ehemaliger Kupferwieser-Anwesen an den Hängen des Wienerwaldes, wo sie den für sie so typischen Türkenkopf hinterlassen hatten.

Allem Wohlstand zum Trotz, war die Arbeit im Weingarten hart und krümmte auch den reichsten Weinhauern früher oder später den Rücken. Anton war der einzige Sohn und das älteste Kind vor vier Schwestern, die er nach dem frühen Tod seiner Eltern alle erst verheiraten und ausbezahlen hatte müssen, ehe er selbst auf Brautschau hatte gehen können. Er hatte Neffen und Nichten von Stammersdorf nördlich der Donau bis Gumpoldskirchen weit im Süden Wiens und alle folgten der Familientradition und blieben dem Weinbau verbunden, freilich ohne noch irgendwelche Türkenköpfe irgendwo anzubringen.

Unter Weinhauern galten allgemein nur Erben und Erbinnen anderer Weingärten als zulässige Ehekandidaten. Anton aber hatte die fröhliche, lebhafte Hermine Kampthaler geheiratet, eine rundliche Blondine, die einer Wiener Fleischhauer- und Gastwirtsfamilie entstammte. Ihr Name wies tatsächlich direkt auf die Herkunft ihrer Familie hin, das Kamptal im Waldviertel. Ähnlich wie sich im frühen Mittelalter die Babenberger entlang der Donau immer mehr nach Osten bis eben nach Wien vorgearbeitet hatten, waren die Kampthalers vom Norden her von Generation zu Generation immer näher nach Wien gelangt, bis sich vier von fünf Brüdern mehr oder weniger zeitgleich dort niederließen, als Wirte, als Fleischhauer und im besten Falle als beides zugleich.

Hermines Vater, Albin Kampthaler, war beides, Gastwirt und Fleischhauer und nicht einer der ärmsten. Man hatte schließlich sogar eine eigene Wurstsorte erfunden, die „Kampthaler“ eben, die es in einer feinen und einer groben Variante gab.

Für Hermine hatte es immer etwas eigenartig geklungen, wenn jemand „10 Deka Kampthaler“ bestellte und sie dann fragen musste: „Die feine, oder die grobe, gnä´ Frau?“. Genau genommen, hasste sie es.

In der gutbürgerlichen Kaiserstraße besaß die Familie ein eigenes Haus, links von der Einfahrt die Fleischerei, rechts davon das Gasthaus, das unter dem alten und vorgefundenen Hausnamen „Zum Mohren“ weitergeführt wurde.

Vom Hinterzimmer der Gastwirtschaft gelangte man über eine Wendeltreppe direkt in die Wohnung, die den ganzen ersten Stock einnahm. Die darüber liegenden drei Stockwerke - eben hatte man um eines aufgestockt - waren gewinnbringend vermietet, unterm Dach war das eigene Personal untergebracht. Dass man seitens des Lokals schon über Personal verfügte, war praktisch, denn die Abwäscherinnen konnten gleich auch die Wohnung putzen.

Für die Kinder, Hermine und ihren jüngeren Bruder Herfried, leistete man sich ein Kindermädchen und Magda Kampthaler, Gattin und Mutter, ebenfalls aus einer Gastwirtsdynastie, die sich über ganz Wien verteilte, wachte über allem, vielleicht noch herrischer als ihr Mann.

Magda war sozusagen die grobe und Hermine die feine Kampthaler.

Hermine wurde allgemein Hermi gerufen, bevorzugte es jedoch bald, sich Herma zu nennen. Sie war ganz vernarrt in ihren Toni, aber sie strebte nach Höherem, all ihrer rundlichen Freundlichkeit zum Trotz. Auch war die mühsame Arbeit im Weingarten auf Dauer nichts für sie. Sie liebte schöne Kleider und schöne Möbel zu sehr, dass es ihr auf Dauer im alten Weinhauerhaus gefallen hätte. Sie hatte nur eine mäßige Schulbildung genossen und erweiterte ansonsten ihr Weltbild lediglich mittels gewöhnlichster Kitschromane.

Es passte in ihr einigermaßen beschränktes Weltbild als gottgegeben, dass sie, aus dem Haus des Mohren, sich mit dem Erben des Türkenkopfes verbunden hatte.

Zunächst träumte sie von einem eleganten Kaffeehaus in der Stadt, wo sich Mohrenkopf und Türkenkopf zur höheren Ehre des Kaffees über dem Eingang verbinden würden, dann aber fiel ihr aus dem reichen Erbe ihrer mütterlichen Familie eine ganz andere Möglichkeit in den Schoß.

Im selben Jahr, in welchem Herma den alteingesessenen Gasthof „Zur Eisernen Krone“ in der Herzoghofgasse samt dem dazugehörigen Haus von einer kinderlosen Tante geerbt hatte, welche diesen nach dem Tod ihres Mannes mehr schlecht als recht betrieben hatte, in eben demselben Jahr war Anton das Erbe eines unverheirateten Großonkels zugefallen, ein Weingut in der Wachau.

Da man nur schlecht Grinzinger Weinberge, einen Gasthof in der Stadt und ein Weingut in der Wachau zugleich bewirtschaften konnte, hatte Hermine oder Herma sich durchgesetzt, mit ihren neuen Ideen. Der Wachauer Besitz wurde verkauft, mit dem Erlös wurden zwei Nachbargebäude am Alten Postplatz und in der Herzoghofgasse erworben und für die Altmieter und - andere - ein schlichtes, aber zeitgemäßes Zinshaus in Ottakring erbaut. Auf die Grinzinger Weinberge nahm man eine Hypothek auf und mit einem weiteren Kredit wurde dann das neue Hotel „Zur Eisernen Krone“ errichtet, ein neues, modernes Haus mit altem Namen, auf dem Grund der insgesamt drei Häuser, das man pünktlich zur Weltausstellung von 1873 hatte eröffnen können. Der Türkenkopf fand sich nur mehr auf Antons privatem Briefpapier.

Das Haus war klein, gemessen an anderen der neuen Hotels, wie etwa dem „Métropole“ mit 400 Zimmern, aber fein und immer noch größer als so manches innerstädtisches Hotel älteren Jahrgangs, wie das „Klomser“ oder das Hotel „Zum Römischen Kaiser“. Es verfügte über achtzig Zimmer, ein Dutzend kleinerer Suiten und deren fünf wirklich großen. Dazu kam noch eine Anzahl einfacherer Zimmer für das die Gäste begleitende Personal und eher bescheidene Kammern für das hauseigene.

Im Parterre waren ein Café und ein Restaurant untergebracht, darüber hinaus betrieb man eine ganze Anzahl an Gesellschaftsräumen verschiedener Größe und Ausstattung, die jederzeit für private Runden von der Taufe im Familienkreis bis zu Hochzeiten in großer Runde vermietet wurden, sowie den mittlerweile leidlich bekannten Ballsaal. Auch lieferte man gerne Buffets außer Haus.

Man machte Reklame in allen größeren Bahnhöfen der Monarchie, arbeitete aber auch von Anfang an mit Thomas Cook und anderen internationalen Reisebureaus zusammen, konzentrierte sich etwas mehr auf den Mittelstand der Kronländer, ließ aber die reisenden Kosmopoliten auch nicht außer Acht.

Das Haus lief gut, die Raten konnten pünktlich bezahlt werden und Kupferwiesers vermochten noch einiges an Gewinn einzustreichen. Sie bewohnten eine Zimmerflucht im Hotel und leisteten sich bald eine Villa in Döbling, nahe der Grinzinger Weingärten, das erste Haus der Kupferwiesers ohne Türkenkopf.

Herma war von Anfang an in ihrem Element gewesen und Anton fand sich allmählich in die Rolle als Hotelier hinein.

Jetzt, im Jahre 1881, war Anton bereits fünf Jahre verwitwet und seine Tochter Antonie, allgemein Toni genannt, wie er in jungen Jahren, mit achtzehn Jahren eben aus einem Schweizer Internat nach Wien zurückgekehrt. Herma war schon seit Jahren leidend gewesen, lungenkrank, was so gar nicht zu ihrer rundlichen und lebhaften Freundlichkeit und Neugier passen wollte.

Sie hatte sich so sehr verausgabt in ihrem Streben nach den höheren Gipfeln der Gastronomie, dass es ihr kaum länger denn drei Jahre vergönnt gewesen war, als Hotelbesitzerin und Herrin über 120 Dienstnehmer agieren zu können.

Die Villa hatte sie eben noch fertig möblieren können, als sie starb.

Es war ihr größter Wunsch gewesen, der Toni, dem einzigen Kind, eine fundierte Ausbildung zukommen zu lassen, weshalb man sie in die modernste Hotelfachschule der Schweiz geschickt hatte. Neben den Kenntnissen in puncto Küche und Service, hatte Toni dort vor allem Fremdsprachen gelernt, parlierte fließend Französisch, Italienisch und Englisch, nahm Privatstunden in Russisch.

In zwei Jahren würden die Grinzinger Weinberge schuldenfrei sein, in sieben Jahren das Haus selbst. Dann wäre Toni fünfundzwanzig Jahre alt und er, Anton, der seine Herma spät gefunden hatte, deren fünfundsechzig und würde sich zurückziehen und ihr das Hotel übergeben, so war sein Plan.

Er wollte ihr die Wohnung, vielleicht auch die Villa überlassen und sich in sein Elternhaus zurückziehen, die Weingärten an einen Neffen verpachten. Natürlich würde er sehr darauf achten müssen, dass sie einen geeigneten Ehemann fand, Hoteliersöhne und Weinhauer kamen dabei eher nicht in Betracht, höchstens jüngere, die nicht ihr Erbe über das seine stellen würden.

Seit einigen Jahren war es eine liebgewonnene Tradition geworden, dass der Haushalt der Grafen Arlington das sonntägliche Mittagessen im Hotel „Zur Eisernen Krone“ einnahm. Es war auch zu einer gewissen Gewohnheit geworden, sich die Buffets von dort ins Palais liefern zu lassen.

Graf Ludwig Arlington war ein Jahr älter als Kaiser Franz Josef, also schon Anfang Fünfzig. Er war eine stattliche Erscheinung geworden, hatte zugenommen und sich einen würdevollen Vollbart stehen lassen. Gräfin Eugenie, ein Jahre jünger als Kaiserin Elisabeth, war auch mit Anfang Vierzig die schlichte Schönheit geblieben, die sie immer gewesen war. Sie alterte langsam und schnürte sich eng. Komtess Amelie, ein Jahr älter als Kronprinz Rudolf, hatte bereits vor Jahren ein gewisses Erbe angetreten, lebte mit ihren vierundzwanzig Jahren allein mit einer Gesellschaftsdame in einer eigenen Wohnung im familieneigenen Zinspalais am Parkring. Sie führte einen eigenen Salon, noch ungezwungener und weltoffener als der ihrer Mutter und kümmerte sich des weiteren, trotz geringer räumlicher Entfernung, nicht besonders um ihre Eltern oder Brüder. Sie dachte offenbar nicht daran, sich zu verheiraten.

Alle im Haus ahnten, was der Grund dafür war, wenn es auch niemand laut aussprach. Freilich erschien sie jeden Sonntag nach dem Frühstück im Palais, besuchte mit der Familie nicht nur den Gottesdienst in St. Nicola, sondern auch den gewohnten Mittagstisch im benachbarten Hotel.

Anton hatte sich zunächst sehr gefreut, die Arlingtons als Stammkunden begrüßen zu können. Sie speisten nicht nur jeden Sonntag bei ihm, wenn sie in der Stadt waren, sie hatten sich auch angewöhnt, die Buffets für ihre Gesellschaften bei ihm zu ordern und brachten gerne Geschäftsfreunde in seinem Haus unter.

Der Name Arlington-Glas war in den letzten Jahren innerhalb der Kronländer, aber auch im Ausland, ein Begriff geworden und mittlerweile gab es eben auch eine Glasserie mit der Eisernen Krone Italiens aus dem Domschatz von Monza.

Hannes Wotruba war Antons unmittelbare Verbindung zum gräflichen Palais und Anton hatte den jungen Mann, mittlerweile Ende Zwanzig, zunächst sehr zu schätzen gelernt. Hannes´ Vater war kürzlich verstorben, wurde allgemein aber wenig vermisst, seine Mutter und er führten den Haushalt der Arlingtons mittlerweile gemeinsam.

Aber dass er jetzt um die Toni herum scharwenzelte und sie sich das auch noch gefallen ließ, ging entschieden zu weit. Er warf doch seine Tochter nicht einem Grafendiener vor, mehr war der doch schließlich nicht! Er brauchte für seine Toni einen Mann, der Grafen und Gräfinnen in seinem Haus empfangen sollte!

Hannes würde einen anspruchsvollen und dennoch bequemen Posten im Palais antreten, ein Erbe, dass ihm quasi vor die Füße fiel, aber seine Toni wollte Anton nicht im subalternen Rahmen eines gräflichen Haushalts wissen. Außerdem war der Hannes mit all den gräflichen Reisen auch viel zu viel unterwegs.

Seine Mittellosigkeit hätte Anton weniger abgeschreckt, denn ein Sohn aus gutbürgerlichem Haus, der sich ganz auf das Hotel konzentrierte und sich ganz den Interessen der Familie Kupferwieser unterordnete, musste keine eigenes Geld mitbringen. Anton hoffte ganz und gar auf einen geeigneten Aspiranten aus der gehobenen Gastronomie.

Andrerseits konnte und wollte Anton auf das Wohlwollen der Wotrubas nicht verzichten, wovon ja letztendlich das Wohlwollen der Arlingtons unmittelbar abhängig war. Schließlich brachte auch die so seltsam und fragwürdig für sich lebende Komtess Amelie genug Leute bei ihm unter, die in ihrem Haushalt über keine ausreichenden Gästezimmer verfügte. Auch speiste sie des öfteren mit ihren Freunden und Bekannten unabhängig von ihren Eltern bei ihm.

Antons Diskretion verbot ihm, darüber nachzudenken, warum auch der junge Graf Stephan begonnen hatte, fallweise Zimmer bei ihm zu mieten und welcher Provenienz jene jungen Freunde waren, die er dort empfing. Lediglich der erst zwanzigjährige und so eigenbrötlerische Graf Niklas war vorerst für Anton Kupferwieser nicht relevant.

Dazu war Dr. Vorhofer zwischenzeitlich ein treuer Stammgast geworden, der ehemalige Hauslehrer der Arlingtons und mittlerweile Advokat, dem die Arlingtons als Abschieds- und Promotionsgeschenk eine Kanzlei samt dazugehöriger Wohnung im Seitentrakt des Palais in der Herzoghofgasse eingerichtet hatten und viele ihrer adeligen Freunde und Verwandten zuführten. Er ließ sich sein Mittagessen in die Kanzlei liefern, oder speiste mit Klienten bei ihm. Er hatte eine Kürschnertochter geheiratet und kam auch manchmal ganz privat, mit seiner Frau oder seinen Schwiegereltern. Da Frau Vorhofer, geborene Engel, über zahlreiche Verwandtschaft verfügte, wurden des öfteren, vor allem zu gewissen Feiertagen, auch Zimmer gebucht. Dass Schwiegervater Engel erst anlässlich seiner eigenen Hochzeit mit einer evangelischen Pastorentochter konvertiert war und Frau Stephanie Vorhofers so zahlreiche Verwandtschaft zum Großteil immer noch jüdisch war, inkommodierte Anton in keiner Weise.

„Vor Gott sind alle Menschen gleich und vor mir sind alle Gäste gleich, nämlich Gäste.“, pflegte er seinem jungen Personal einzutrichtern.

Wenn er, - mittlerweile stets im schwarzen Gehrock, mit gestärktem Hemd und Perlennadel im Plastron -, Neuankömmlinge in der Halle seines Hauses empfing, konnte er es sich selbst nicht mehr vorstellen, jemals im Weingarten seinen Rücken gekrümmt zu haben.

Vorerst richtete Anton es jedenfalls so ein, dass sich Toni und Hannes Wotruba möglichst wenig begegneten. Alle Gespräche bezüglich Buffets und sonstiger Lieferungen ins Palais liefen ohnehin über ihn.

Sonntags, beim Arlingtonschen Jour Fixe in seinem Haus blieb er lange genug, um Graf und Gräfin samt Tochter, Söhnen, Gesellschafterinnen und den Wotrubas zu begrüßen und fuhr unmittelbar danach mit dem Fiaker in die Döblinger Villa, um dort mit Toni allein zu essen. Die Toni gegenüber gebrauchte und Anton angemessen scheinende Begründung lautete, man nütze die Villa viel zu wenig, könne doch nicht immer in der Stadt sein.

Nach Tonis Geschmack war man freilich viel zu wenig in der Stadt und viel zu häufig in Döbling. Noch dazu achtete ihr Vater sehr darauf, dass sie niemals ohne Begleitung ausging. Natürlich wollte er, dass sie ausging, schließlich sollte sie ja Leute ihres Alters kennen lernen, vor allem irgendwen jenseits von Hannes Wotruba.

Die Stubenmädchen des Hotels kamen als Begleitung freilich nicht in Frage, eine bezahlte Gesellschafterin im Stile einer Arlington erschien Anton übertrieben. Außerdem brauchte Anton für seine Toni einen Wachhund, einen Hausdrachen und dachte nicht im Traum daran, ihr - vielleicht auch noch gegen Bezahlung - eine heimliche Verbündete frei Haus zu liefern. Noch dazu, wo Toni sich zu einem entzückend gutaussehenden Geschöpf entwickeln würde, wie bereits jetzt abzusehen war. Sie hatte die lebhafte Freundlichkeit ihrer Mutter geerbt und die dazugehörige Rundlichkeit stand auch nicht in schlechtem Kurs. Kupferwiesers und Kampthalers waren den Freuden der Küche und einem guten Wein nicht abgeneigt.

Mit Resi Kampthaler, einer Nichte seiner verstorbenen Frau, schien die geeignete Begleitung für Toni gefunden. Resi war Mitte Zwanzig und schien überzubleiben. Achtes Kind von zehn, das sie war, würde sie nur eine geringe Mitgift erhalten, farblos und dürr, wie sie blieb, tendierte sie ohnehin nicht dazu, geeignete Erben von Gasthäusern oder Fleischereien an sich zu ziehen. Anton nahm sie ins Haus auf, verwaltete ihre kleine Mitgift und zahlte ihr ein recht großzügiges „Nadelgeld“.

Anton ahnte nicht, konnte nicht ahnen, welche Natter er da wohlmeinend an seinem Busen nährte, denn Resi, wie so viele alte Jungfern, respektive junge Frauen, denen dieses Schicksal bevorzustehen schien, sollte eine ähnliche Rolle einnehmen, wie Julias Amme. Resi war nämlich - ganz in der Tradition ihrer verstorbenen Tante Herma - ganz und gar ein Opfer billiger Liebesromane geworden, suchte eine Art von Glück, das ihr nicht gegeben schien, im Glück anderer zu finden.

Sie war prinzipiell in alle Liebesgeschichten ihrer Schwestern und Freundinnen involviert und mischte sich von Anfang an, ungefragt und gerne in das Leben ihrer Cousine Toni ein. Vorerst aber folgte sie den Intentionen des Kommerzialrats und war strikt gegen Hannes eingestellt.

Blieb sie mit Toni in der Stadt, kaufte Hannes zur selben Zeit Kaffee bei Julius Meinl, ging sie mit Toni nach Mariahilf, begegneten sie ihm plötzlich und achso unerwartet beim Gerngross, beim Herzmansky oder im Café „Casa piccola“.

Jedes Mal echauffierte sich Resi auf´s Neue und ließ sich dennoch immer wieder von Toni auf deren Rechnung in die nächstgelegene Konditorei oder Buchhandlung, in ein Wäschegeschäft oder ins Restaurant abschieben. Resi leistete dem freilich nie anders Folge, als unter lauten Bekundungen, das niemals wieder zu tun, aber das nächste Mal wirklich nicht, aber eine gediegene Jause, ein neues Nachthemd, oder ein spannender neuer Liebesroman versöhnte Resi jederzeit mit den Geschehnissen.

Hannes war diese Art der flüchtigen Begegnungen, mühsam Kupferwiesers Unwillen abgetrotzt, a´la longue natürlich nicht genug. Er war an sich kein berechnender Mensch, wenn auch als Mann nicht unerfahren. Er mochte die Toni, hatte sie aufrichtig gern, aber zugleich arbeitete es in seinem Kopf ganz ordentlich.

Die Toni war die Traumpartie par excellence! Alle anderen Gspusis, die er sonst noch hatte, konnte er leichten Herzens abschreiben.

Die Kathi, Verkäuferin in einer Confiserie, hatte ihn schon arg genug in Verlegenheit gebracht und es hatte ihn einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner Ersparnisse gekostet, die Frucht ihres Verhältnisses von einer „Engelmacherin“ beseitigen zu lassen. Gottseidank hatte er vom Franz, dem persönlichen Diener des Grafen Ludwig, eine entsprechende Adresse erhalten können, denn der liebe, gute, achso korrekte, vom Grafen überaus geschätzte Franz, richtete unter den Hausmädchen so manchen Schaden an, aber wenn Hannes an jene grausliche Zigeunerin dachte, zu der er die Kathi hatte nolens volens begleiten müssen, wurde ihm jetzt noch schlecht, ganz abgesehen vom sauer verdienten Geld. Hannes fragte sich, wie der Franz derlei finanzieren mochte, dem derlei weitaus öfters widerfuhr, allein, er wollte es nicht wirklich wissen.

Natürlich war die Gschicht` mit der Kathi deswegen in die Binsen gegangen und sie hatte mittlerweile einen anständigen Bankangestellten geheiratet, aber Hannes musste sich einfach fragen, wie es weitergehen sollte in seinem Leben.

Der Vater war tot und die Mutter wurde allmählich alt, das war für niemanden aller Beteiligten zu leugnen. Sie war jetzt Ende Fünfzig und wirkte immer mehr und immer öfter irgendwie unerklärlich erschöpft. Je öfter und je mehr sie erschöpft wirkte oder auch war, desto öfter und mehr lasteten jedoch die Intentionen der Arlingtons auf Hannes´ Schultern, denn ganz selbstverständlich gingen die Gräflichen davon aus, er würde in Mutters Fußstapfen treten und die gräflichen Haushalte mit der selben Verve „schupfen“, wie die Mutter es nun einmal tat.

„Und wer wird mich heiraten?“, dachte Hannes. Unter den Zofen find ich täglich eine und unter den Hausmädchen täglich zwei, die ich haben könnt, unbedarfte Landeier, die kein Französisch können! Und ansonsten? Kleine Verkäuferinnen, wie die Kathi, Schneiderinnen oder Gouvernanten, gut da könnt ich mir wenigstens eine Schweizerin nehmen, die könnt wenigstens Französisch, kleine, alberne Weibsbilder, deren höchstes Ziel es sein könnte, irgendwann eines Tages Vorsteherin eines gräflichen Haushaltes zu sein.

Hannes graute bei dem Gedanken und es schüttelte ihn förmlich in der Erinnerung an all jene Mädchen, die sich ihm nach allen möglichen Vorstadtbällen oder Heurigenabenden hingegeben hatten und noch hingeben würden, lediglich um durch ihn vielleicht einen Hauch gräflichen Glanzes zu erreichen. Nein, das waren nicht die Frauen, die er sich als Frau vorstellte.

Und im Übrigen: wo stand denn, bitte sehr, geschrieben, dass er a tout prix bei den Grafen sein ganzes Leben verbringen sollte, müsste?

In die Gastronomie einzuheiraten, war Hannes´ erklärtes Ziel und zwar relativ rasch. Er - Ende Zwanzig - wurde nicht jünger, vor allem aber würde es die Mutter nicht und gesünder auch nicht. Er musste eine geeignete Braut finden, bevor die Mutter sich zurückziehen würde, oder vielleicht auch müsste. Sonst pick´ ich bei den Grafen fest bis zum Ende, wie der alte Ferdinand! Jener war Ende des Vorjahres hochbetagt verstorben, während die Gräflichen Weihnachten im Prager Palais gefeiert hatten.

Ich weiß, dass mich der alte Kupferwieser nicht mag, dachte er. Falsch, korrigierte er sich, er mag mich sogar, aber nicht als Bräutigam von der Toni. Ich bin ihm zu subaltern, ein Grafendiener, nichts weiter.

Dabei, trotz all dem Geld, wo kommt er denn her? Er, der sich seit kurzem mit dem schönen Titel „Kommerzialrat“ schmücken durfte? Ich hab mir noch nie den Rücken im Weingarten krumm gemacht, wenn ich schon einmal gebuckelt hab, dann wenigstens in einem Salon voll rotem Brokat und weißgoldener Vertäfelungen.

Ich werd´ kämpfen um die Toni, denn damit kämpf´ ich um meine Zukunft! Und wenn das heißt, dass ich der Resi Theaterkarten und Bonbonieren sonder Zahl zukommen lassen muss, dann soll es mir das wert sein.

Theaterkarten, durchzuckte Hannes plötzlich eine Idee, Theaterkarten, das ist es! Die Resi lebt doch eh in einer Welt des Romans, der Bühne, der Oper, einer Welt der dramatischen Liebe, wie sie ihr ganz offensichtlich niemals gegeben sein würde!

Ich erfind´ jetzt einfach was, entschied er. Ich besorg´ der Toni und der Resi ab jetzt alle möglichen Karten für alle möglichen, möglichst kitschigen Stücke, - sind halt von der Gräfin und die Gräfin kann halt nicht. Ich geh´ aber nie mit, mach´ das einfach zu einer Gewohnheit für die zwei, bring´ sie höchstens hin und hol´ sie wieder ab.

Und irgendwann dann einmal hab´ ich die zwei soweit, dass die Resi allein ins Theater geht und die Toni dann ... allein zu mir kommt.

Schließlich hab´ ich zwei schöne Zimmer in der Falknergasse und reichlich weit weg von den Zimmern der Mutter und kann mir alles aus der Küche und sonst woher aus dem Haus besorgen.

Ich muss nur für gedämpftes Licht sorgen, einen kalten Aufschnitt, Cognac, einen dampfenden Samowar, eine Flasche Champagner vielleicht, mindestens aber guten, französischen Rotwein, die Toni ist ein Qualitätsmensch, die Toni erwartet ein gewisses Niveau, um die Toni zu erobern, muss ich hier noch einiges organisieren.

Während Hannes so vor sich hin überlegte, so im September 1881, saß er übrigens im Arbeitszimmer des Grafen Ludwig, trank dessen Cognac und hatte ganz selbstherrlich seine Füße auf dessen Schreibtisch gelagert, während jener samt Gattin beim Grafen Garfield in der Bukowina zur Jagd weilte und die Mutter außer Haus war.

Theaterkarten, das war es, das war wichtig, um die Resi zu beschäftigen, ganz einfach! Hannes genehmigte sich noch einen tüchtigen Schluck und nahm sich vor, ab morgen mehr in die Kulturseiten der Zeitungen des Grafen Einblick zu nehmen. Was für ein Glück, dass die Arlingtons nicht besonders interessiert waren an der Theaterlandschaft Wiens und ihm und der Mutter fallweise auch tatsächlich Karten überließen, für Vorstellungen zu denen sie eingeladen waren.

Hannes musste nur dafür sorgen, dass diese Karten künftig hauptsächlich bei ihm landeten und tunlichst verhindern, dass die Mutter mit Mademoiselle Louise oder sonst wem jene Gaben in Anspruch nahm. Hannes entschied, den nächsten Cognac aus der Karaffe in der Bibliothek zu entnehmen, um Mutter wie Grafen ob seines eigenen Bedarfs weiterhin im Unklaren zu lassen.

Den ganzen Sommer war er mit mäßigem Erfolg hinter der Toni her gewesen, jetzt im Herbst aber, wo die Theater wieder geöffnet hatten, würde er diese Politik der kleinen Schritte verwirklichen. Außerdem musste er natürlich die wöchentlichen Gewohnheiten des Herrn Kommerzialrates mehr in Augenschein nehmen.

Hannes versicherte sich der Bundesgenossenschaft vom Franz, der zur Zeit ein Gspusi mit einem der Stubenmädchen aus dem Hotel hatte, da sich im „eigenen“ Haus offenbar im Moment kein lohnenswertes Opfer für ihn finden wollte.

Die Cilly, Franzens Auserwählte bediente nämlich auch in den privaten Räumen der Kupferwiesers und wohnte auch hier am Platz. Hannes gab Franz zu verstehen, er würde darüber hinweg sehen, falls die Cilly ihre freien Abende hier im Palais bei ihm verbringen würde. Dafür fragte Franz sie ganz nebenbei über die Gewohnheiten des Kommerzialrats aus. Noch lieber wäre es Hannes gewesen, er hätte den Franz für die Resi interessieren können, aber die Cilly, mit ihren barocken Formen und dem lustigen, böhmischen G´sichterl war halt mehr nach seinem Geschmack.

Der Cilly war es einerlei, denn ein Verhältnis mit einem Grafendiener erschien ihr allemal lohnenswerter als sich vielleicht mit einem der Kellner im Hotel einzulassen.

So ging es dahin, in jenem Herbst, die Cilly plapperte mit dem Franz, der Franz gab alles Wissenswerte an Hannes weiter und Hannes wusste über jede Abwesenheit des Kommerzialrats Bescheid, oder wann immer jener besonders in Anspruch genommen war. Solcherart konnte er die Zeitpunkte seiner scheinbar so zufälligen Begegnungen mit der Toni immer besser planen und die Theaterabende immer gezielter platzieren.

Die neue Theaterleidenschaft seiner Tochter fiel Anton nicht unangenehm auf. Die Toni verfügte zwar noch über keine definierte Position im Haus, da sie überall aushalf, um alles kennenzulernen, jedoch zahlte ihr Vater bereits ein festes Gehalt und sie war dazu angehalten, ihre privaten Vergnügungen und den Grundstock ihrer Garderobe davon zu bestreiten. Außerdem war es ganz in Antons Sinne, dass seine Tochter ausging, denn ihm persönlich machte dies schon lange keine rechte Freude mehr. Auch schien ihm, dass jener Hannes sich die letzten Monate deutlich zurück genommen hatte und verbuchte vorerst alles zwischen den beiden als kleine Sommerliebelei.

In der nächsten Ballsaison geh´ ich mit ihr mehr aus, nahm er sich vor. Schließlich gab es einen Gastgewerbeball genauso wie einen Kaffeesiederball und das waren die geeigneten Orte, um für Toni den geeigneten Mann zu finden.

Kupferwiesers ganzer Stolz war, seine Speisekarte jeden Monat neu zu gestalten, jeweils der Saison gemäß. Nur wenige Gerichte blieben das ganze Jahr über Standard. Jeweils zur Monatsmitte wurde das Gros des Angebots gewechselt, die sogenannte „Monatskarte“ richtete sich also nicht ganz nach dem Kalender.

„Die Gastronomie hat ihre eigene Zeitrechnung,“ pflegte der Herr Kommerzialrat seinen Angestellten zu dozieren, „denn sie muss immer der Zeit voraus sein.“

Zur Monatskarte gab es immer noch eine Wochenkarte für preiswertere Menus und darüber hinaus täglich ganz besondere Empfehlungen des Hauses, die sich nicht auf der Karte fanden, sondern nur in den Köpfen der Kellner. Tagesspezialitäten und wöchentliche Menus blieben dem Maître Brix, dem Schweizer Chefkoch und dessen Gespür für das aktuelle Angebot der Märkte überlassen.

Die Monatskarte hingegen wurde im Rahmen einer gemeinsamen Verkostung gestaltet, richtete sich freilich auch nach der Saison, berücksichtigte Feiertage und präsentierte allgemein auch gänzlich neue Creationen, denn Maître Brix experimentierte gerne. Kupferwieser hatte Brix sogar ein eigenes Spesenkonto eingerichtet und dieser verbrachte die meiste freie Zeit, um die Menufolgen und saisonalen Spezialitäten anderer Restaurants und Hotels zu verkosten.

Zum Beginn jedes Monats, nicht immer am selben Wochentag, aber immer so zwischen fünften und zehnten, lud der Kommerzialrat daher die leitenden Angestellten seines Hauses zum gemeinsamen Abendessen ein.

Der Ablauf war stets in etwa derselbe. In einem der kleineren Privatsalons im Mezzanin präsidierte Anton Kupferwieser. Zu seiner Rechten saß Frau Schwaninger, die Hausdame, dann folgte Herr Altwirth, der Buchhalter, sowie Herr Haberzettl, der Oberkellner; zu Antons Linken nahm Frl. Amon Platz, die Wirtschafterin, neben ihr Herr Nekowitsch, der Empfangschef und Herr Löschnig, der Sommelier.

Dem Kommerzialrat gegenüber thronte Maître Brix, der freilich die wenigste Zeit wirklich saß und aß, weil er immer damit beschäftigt war, die Speisen vorzustellen, beim Servieren mithalf und eventuelle letzte Handreichungen, wie etwa Flambieren am Tisch, selbst durchführte. Es gab immer eine Fülle an verschiedenen Gängen, alles aber nur in eher kleinen Kostproben, damit man die verschiedensten Gerichte probieren konnte, etwa drei kalte Vorspeisen und zwei warme, dann drei Suppen, zweimal Fisch, dreimal Geflügel, zweimal Rind und so weiter, vor allem aber eine unglaubliche Fülle an Desserts, des Maîtres ureigenstes und liebstes Gebiet.

Das im Haus lebende Personal liebte diese Abende, denn alles übriggebliebene landete direkt vom Salon im Personalspeiseraum, dessen Küche ansonsten einem eigenem und eher bescheidenen Speiseplan folgte.

Die Damen Schwaninger und Amon zogen sich allgemein nach den Desserts zurück. Frau Armine Schwaninger, zuständig für die Stubenmädchen und die Pflege nicht nur der Zimmer, sondern der gesamten Räumlichkeiten, kümmerte sich auch um Kupferwiesers Privatwohnung. Sie wohnte ebenfalls im Haus, aber in keiner gewöhnlichen Kammer, sondern einem eigenen kleinen Appartement, das direkt an die Familienzimmer anstieß, denn abgesehen davon, dass die fesche Witwe von Mitte Vierzig eine Dame war, teilte sie seit einiger Zeit auch andere Interessen des Kommerzialrats. Sie war seine Geliebte geworden.

Er hatte ihr auch schon einen Antrag gemacht, aber sie hatte sich der Toni nicht gleich nach deren Rückkehr aus dem Schweizer Internat als Stiefmutter vor die Nase setzen wollen. Man würde nächstes Jahr weitersehen.

Sie stammte aus einer armenischen Familie aus Lemberg, ihr Vater handelte mit Orientteppichen. Ihr Mann war leitender Bankangestellter gewesen, die Ehe war kinderlos geblieben, die Witwenpension hätte zwar für ein gemütliches Auskommen gereicht, aber Frau Schwaninger war weder gewillt gewesen, sich zum alten Eisen werfen zu lassen, noch hatte sie den Wunsch verspürt, ins Familiengeschäft zurück zu kehren. Daher hatte sie sich nach einer lohnenderen Beschäftigung umgesehen.

Fräulein Amon, zuständig für die gesamten Bedarf des Hauses an Gütern, die nicht gegessen oder getrunken wurden, also von der Bettwäsche bis zum Briefpapier, war noch einigermaßen jung, etwas farblos und lebte mit ihrer verwitweten Mutter und zwei kleinen Brüdern nahe der Stadt, in der Ungargasse.

Ihr Vater war Schuhmacher gewesen und hatte ein eigenes kleines Geschäft besessen, war jedoch frühzeitig verstorben, bevor einer der Söhne den Betrieb hätte übernehmen können. Wilma Amon ernährte jetzt mit Anfang Zwanzig die ganze Familie. Die Mutter litt an irgendwelchen unerklärlichen Krankheiten und schien gerade noch imstande, den Haushalt zu führen. Wilma sprach wenig von ihr, was insofern auffiel, weil sie viel von ihren Brüdern erzählte.

Konrad Altwirth, der Buchhalter, verabschiedete sich regelmäßig gemeinsam mit den Damen. Er war Familienvater und mittlerweile bei vier Sprösslingen, zwei Mädchen und zwei Buben angelangt und eines der Kinder war mit Sicherheit immer krank oder hatte einen Unfall und wenn es nicht eines der Kinder war, dann war etwas mit Frau Altwirth, oder der im gemeinsamen Haushalt lebenden Schwiegermutter.

Herr Altwirth beteuerte stets, er würde gerne noch länger bleiben, aber die Familie ...

Man glaubte ihm gerne und bedauerte ihn. Manchmal fragte Kupferwieser sich, ob Altwirth nicht auf dem Heimweg in die Schottenfeldgasse in der einen oder anderen Weinstube anhielt, aber solange seine Zahlen stimmte, fochten ihn derlei Gewohnheiten seines Buchhalters nicht an.

Solcherart blieben die Herren Gastronomen nach der Verkostung noch eine ganze Weile für sich und dann entspannte sich auch Maître Brix, während der nun folgenden Weinkost Herrn Löschnigs, des Sommeliers.

Benno Löschnig, ein gebürtiger Kärntner, war schon in die Jahre gekommen, seine Frau stammte ebenfalls aus der Gastronomie, arbeitete abends ein paar Stunden im Buffet des Stadttheaters, denn auch der Sohn war Abendkellner, nämlich im Café „Zum Fenstergucker“, verdiente sich auch noch fallweise etwas tagsüber dazu, wenn Ausstellungen in den Gartenbausälen waren. Frau Löschnig hätte nicht arbeiten müssen, der Sommelier verdiente gut, aber allein daheim zu sitzen behagte ihr nicht und so konnte sie sich über die abendlichen Arbeitszeiten von Mann und Sohn wenigstens nicht beklagen. Man wohnte mit Dienstmädchen in vier Zimmern mit Blick in den Augarten.

Weder Maître Brix, der weitgereiste Schweizer, für sein Metier überraschend schlank, noch der Oberkellner Haberzettl, hatten jemals Zeit und Muße gefunden, eine Familie zu gründen, vielleicht auch nie Lust dazu gehabt.

Maître Jean-Claude Brix hauste möbliert in einer Dreizimmerwohnung in der nahen Wollzeile, schlief aber im Grunde nur dort, frühstückte sogar im Hotel. Zum Putzen kam ihm Hausbesorgerin, die sich auch um seine Wäsche kümmerte. Über seine privaten Gewohnheiten war selbst den größten Tratschen im Haus nichts bekannt, so dass man sich stillschweigend darauf geeinigt hatte, er habe keine.

Ignaz Haberzettl, der Oberkellner, schon nahe der Pension, eine soignierte, aristokratische Erscheinung, wiewohl aus einem schlesischen Nest stammend, logierte in einem schlichten Zimmer im Hause zweier gutbürgerlicher alter Jungfern draußen im Grünen, in Ober St. Veit und würde bei den alten Damen, die ihn aus unerfindlichen Gründen vergötterten, innerhalb einer seltsamen wenn auch hochanständigen Menage a´ trois, wohl auch seinen Lebensabend verbringen. Haberzettl hatte sein ganzes Leben im Service verbracht und stelle sich seine letzten Jahre nicht anders als lesend vor dem Kamin vor. Er hatte immer recht anspruchslos gelebt und Berge an Trinkgeldern für seine alten Tage zur Seite gelegt.

Jakob Nekowitsch, der Empfangschef, der sich gerne Jacques nannte, eine untersetzte, etwas effeminierte Person, mit pomadisiertem Haar und stets sorgfältig gewichstem Schnurrbart, teilte sich eine Wohnung in der Porzellangasse, mit einem etwas mysteriösem Cousin, angeblich Theaterfriseur, während diverse, möglichst noch fragwürdigere Burschen, sich darin abwechselten, den beiden ihnen den Haushalt zu führen, ihrerseits einem steten, fast monatlichen Wechsel unterworfen.

Den Kommerzialrat focht auch das nicht an, Nekowitsch dieser besondere Sprössling aus dem Krakauer Judenviertel Kazimierz, beherrschte acht Sprachen fließend und vier „einigermaßen“, - das hieß, besser als er zugab -, und das war die Hauptsache. Außerdem wusste Kupferwieser sehr genau, dass die Gastronomie eine Zuflucht für viele Männer dar stellte, die familiäre Bindungen scheuten - aus welchen Gründen auch immer.

Die Toni wurde - vorerst noch - nicht zu diesen Abenden hinzugezogen, denn Anton befand sie noch für zu jung, dass sie etwa ihre Meinung vor den leitenden Mitarbeitern hätte äußern sollen und stumm wie ein Fisch wollte er sie auch nicht dabei haben. Freilich wurde sie von ihrem Vater immer auf die ausgewählten Gerichte hingewiesen, kostete sich ihrerseits innerhalb weniger Tage durch alles durch, sobald die neue Karte gedruckt war und kommentierte auch alles im Nachhinein aus ihrer Sicht der Dinge.

Sie lernte, worauf es bei Neuheiten auf der Speisekarte ankam und sie achtete auch darauf, wie das Publikum reagierte.

An einem solchen „Menu-Abend“, wie er genannt wurde, - auch im Hotel gab es einen eigenen Jargon für die hauseigenen Gebräuche - an einem solchen Abend, musste Hannes zuschlagen!

Nicht nur, dass der Kommerzialrat bis spät in die Nacht beschäftigt war, zog er sich nach dem Umtrunk mit seinen Herrn noch dazu meist reichlich angeheitert zurück. Es würde ihm nicht auffallen, wenn die Resi allein aus dem Theater zurück käme und die Toni detto allein und hoffentlich später.

Es gab einen eigenen schmalen Seiteneingang, der direkt in die Familienwohnung und zu den Personalzimmern weiter oben führte und beide Mädchen hatten ihren eigenen Haustorschlüssel. Für den 8. Dezember war wieder ein solcher Menu-Abend einberufen worden und Hannes hoffte sehr, dass all seine Investitionen in puncto Theaterkarten und anderen Dingen während des Herbstes sich bald lohnen würden.

Er kannte alle handelnden Personen durch seine Kontakte mit dem Hotel persönlich, auf dem Umweg über Franz konnte er dank Cillys allwöchentlicher Erzählungen den bereits gewonnenen Eindruck arrondieren, die Resi hatte er bereits halb und halb gewonnen, jetzt musste er nur noch die Toni gewinnen. Zunächst schickte er ihr mittels eines unauffälligen Dienstmannes zwei Karten für „Hoffmanns Erzählungen“, am 8. Dezember im Ringtheater.

Er musste die Karten kaufen, denn für die Woche um jenen 8. Dezember war die Freiin Helene Belasi-Wrenkhfeldt im Hause angesagt, die Cousine der Gräfin.

Die Baroness schien auch nicht heiraten zu wollen und trat neuerdings verstärkt in Begleitung eines Rittmeisters de Millstein auf, den man gegenüber der Dienerschaft immer ihren Verwalter nannte, für den die Gräfin jedoch stets ein Zimmer direkt neben der Baroness herrichten ließ. Auch verzichtete die Freiin auf die Mitnahme einer sonst so üblichen Gesellschafterin.

Hannes hielt den Rittmeister-Titel nicht für echt, - der Mann war so unsoldatisch und immer in Zivil -, und der Name klang ihm weniger adelig, denn nach besserem Juden, holländisch oder so. Jedenfalls hatte er einen undefinierbaren Akzent.

Nun, man machte sich darauf so seinen Reim zwischen Küche und Wäscheboden, nicht besonders laut freilich.

Für Hannes war jedoch klar, dass die Gräfin in jener Woche etwaige per Zufall anfallende Theaterkarten wohl gemeinsam mit ihrer Cousine konsumieren, oder diese - noch viel eher - ihr und dem Rittmeister einfach überlassen würde.

Gut, dachte Hannes, dann kann ich der Resi nur einen Logenplatz im Zweiten Rang gönnen und hoffen, dass ein anständiges Ehepaar bei ihr sitzt, denn das schwör´ ich mir, diesmal geht die Resi allein!

Zunächst brachte die Ankunft der Baroness die übliche Unruhe ins Palais, als sie eintraf, mit ihrem Rittmeister, dessen Burschen, der Zofe und dem Dienstmädchen, die Kutscher nicht zu vergessen, denn man reiste mit gleich zwei Droschken.

Helene Freiin Belasi von Wrenkhfeldt, war es gewohnt, mit großem Gepäck zu reisen. Außerdem stellte Wien nur eine Station auf einer längeren Reise dar. Man kam aus Mähren, wo man bei Gräfin Wassiliew zur Jagd gewesen war und man würde anschließend weiter reisen nach Salzburg, um sich über Innsbruck und Meran, - wo sie überall Freundinnen zu besuchen hatte -, nach Riva am Gardasee zu begeben, wo Helene den Großteil des Winters in einer gemieteten Villa zu verbringen gedachte.

Im Hotel „Zur Eisernen Krone“ verursachte die Ankunft der russischen Operndiva Margerita Potapova, etwa zur selben Zeit etwa ebenso viel Aufregung, oder vielleicht sogar noch mehr. Die Potapova war auf dem Weg an die Riviera, reiste jedoch gemütlich, blieb in jeder Stadt auf ihrer Route vier oder fünf Tage, manchmal auch eine ganze Woche, je nachdem wie viele „private“ Einladungen ihr Impresario arrangieren hatte können.

Sie war schon jenseits vom Zenit ihres Ruhmes, ihre große Zeit hatte sie vor zwanzig Jahren begonnen, ihre größte Zeit vor zehn Jahren gehabt.

Mittlerweile gab sie nur mehr Liederabende in kleinen Konzerthäusern, Kurhotels oder Privatpalais und sie, - oder besser, ihr Impresario -, verstand es meisterhaft, jede ihrer privaten Reisen mit einer Anzahl gewinnbringender Auftritte zu verknüpfen.

Sie reiste freilich mit großer Entourage, bewohnte eine der großen Suiten mit ihrer Gesellschafterin, Mlle. Kurtz, während sie die zweite große Suite für einen Grafen „Romanik“ gebucht hatte, hinter welchem Pseudonym sich ihr großfürstlicher Liebhaber verbarg - Kupferwieser hatte also einen waschechten Romanow im Haus!

Das zählte viel und noch viel mehr, gerade weil jener Großfürst nicht als Angehöriger des russischen Kaiserhauses, sondern inkognito reiste. Vor seinem geistigen Auge sah der Kommerzialrat Scharen an russischen Großfürsten mit ihren Ballerinen in seinem Haus Station machen, bevor man an die Riviera reiste.

Ungestört wollten sie sein und der lästigen Pflicht entkommen, dem Kaiser in der Hofburg die Aufwartung machen zu müssen, was man ansonsten ja auch nur tat, wenn man mit Gattin oder Mutter reiste.

Dazu hatte die Potapova noch eine ganze Anzahl von Zimmern für Impresario, Garderobiere, Friseur, Pianisten und einen jungen baltischen Baron ohne näher definierten Aufgabenbereich reserviert, weiters noch Räume für das Gefolge des sogenannten Grafen Romanik, nicht zu vergessen, bescheidene Kammern für Kutscher und niedere Lakaien. Alles in allem reiste sie mit vierzehn Personen und übertraf damit die Baroness im benachbarten Palais bei weitem.

Die Potapova war undefinierbaren Alters, hatte Haare von unglaublichem Rot, trug märchenhaften Schmuck und war schon zum Frühstück geschminkt, als ginge es auf die Bühne. Der angebliche Graf und wirkliche Großfürst war eine abgeklärte, würdevolle Erscheinung Anfang Sechzig, wirkte stets etwas weltfern, was vielleicht durch gewisse Injektionen seines willfährigen Arztes verstärkt wurde.

Der jugendliche Baron, mit dem schönen Namen Lichtenstern, war eine lebhafte blonde, blasse Erscheinung, mit den strahlendsten blauen Augen, die man sich nur vorstellen konnte.

Madame erkundigte sich jedenfalls nach „irgendeiner Operette“, die der Kommerzialrat empfehlen könne, und Anton - jeglichen Theaterbesuchs abhold - , weil er eben von der Toni davon gehört hatte, empfahl „Hoffmanns Erzählungen“ im Ringtheater am 8. Dezember. Madame orderte Karten für sich, den „Grafen“, den Baron, Leutnant Fedin, den großfürstlichen Adjutanten, Dr. Moroz, Mlle. Kurtz, Cavaliere dei Sciffi, den Impresario, sowie für Mr. Beckworth, den Pianisten, denn die Reisegruppe war ebenso zahlreich, wie international.

Einige Tage später also begann das Schicksal offenbar Hannes in die Hände zu arbeiten, denn der Kommerzialrat war vom Aufbruch der Diva vollkommen in Anspruch genommen, immerhin benötigte man zwei Wagen, für sie und ihr Gefolge und es entstand ein gewisses Durcheinander, bis all jene Leute sich auf Russisch, Französisch, Deutsch und Englisch verständigt hatten, wer mit wem in welchem Fiaker saß, so dass er gar nicht die Zeit hatte, sich um den gleichzeitigen Aufbruch ins selbe Theater von Resi und Toni zu kümmern.

Toni stieg beim Seiteneingang mit Resi in den bestellten Fiaker - die beiden hoteleigenen Wagen waren der Potapova überlassen worden - und stieg auf der anderen Seite gleich wieder aus, wo Hannes sie bereits erwartete. Sie kam sich ungemein kühn und abenteuerlustig vor, als sie kichernd an Hannes´ Hand am Palais vorbei zur Falknergasse eilte, während der Wagen die Resi ins Theater brachte.

Beim Portal vom Palais gab es noch eine kurze Schrecksekunde, weil natürlich ausgerechnet in diesem Moment die Baroness Helene mit ihrem Rittmeister in den Wagen der Arlingtons einstieg, aber sie war tief in ihren Pelz gehüllt und so sehr damit beschäftigt, ihre Abendschuhe so wenig wie möglich mit dem Schnee in Berührung zu bringen, dass sie weder Hannes, noch seine Begleitung bemerkte.

Jetzt erst recht kichernd, starteten die beiden jungen Leute erneut los, bis sie endlich um die Ecke in der Falknergasse waren.

Im Theater angelangt, nahm Resi etwas missmutig in ihrer Loge im Zweiten Rang Platz. Vier Plätze waren von einem Ehepaar in mittleren Jahren in Anspruch genommen, das von einem Sohn in Kadettenuniform und einem Mädchen von etwa zwölf oder dreizehn Jahren begleitet wurde. Der junge Mann half ihr höflich aus dem Pelzcape und richtete ihr den Sessel, das Ehepaar nickte ihr freundlich zu, wenn auch die Dame einen etwas befremdeten Blick auf den frei bleibenden letzten Sessel warf und ihrem Mann etwas zuflüsterte, woraufhin der allerdings nur mit den Achseln zuckte. Das Mädchen, in einem pastellfarbenen Prinzesskleidchen, war an Resi völlig desinteressiert und musterte ausgiebig alle Anwesenden durch ihr Opernglas.

Resi wusste nichts von der Baroness und ihrem Rittmeister in der dritten Reihe Parkett, sie wusste nichts von der Potapova, die sich mit ihrer Entourage über zwei Logen im Ersten Rang verteilte, bis sich ein gewisses Raunen im Publikum bemerkbar machte, weil man die Berühmtheit, die oft genug in Wien gastiert hatte, erkannte.

Das Wiener Kulturpublikum verneigte sich vor der Potapova und jene nahm die Referenz huldvoll entgegen, erwiderte die Verneigung und winkte leutselig mit ihrem Fächer aus Brüsseler Spitzen. Resi und ihre Nachbarschaft lehnten sich ebenfalls neugierig nach vorne und blickten nach unten, um einen Blick auf die gefeierte Diva zu ergattern. Resi hatte natürlich mitbekommen, dass die Potapova im Haus Quartier genommen hatte, war ihr aber nicht begegnet.

Na wenigstens hab´ ich irgendwas zu erzählen, dachte die Resi und entschied, ansonsten der Toni tunlichst zu zürnen. In was ich mich da hineintheatern hab´ lassen, der Onkel wird uns alle noch umbringen, oder - was noch schlimmer wär´ - ins Kloster stecken!

Im Palais spielte Graf Ludwig mit Franz eine Partie Schach. Gräfin Eugenie saß über ihrem Tagebuch und überlieferte ihr letztes Dîner kommenden Generationen, Mademoiselle Louise gab sich der Seidenmalerei hin, ihrer allerliebsten Freizeitbeschäftigung, außerdem dachte sie bereits an Weihnachten und hatte noch einige Präsente fertig zu stellen. Man hatte vorerst nur ein leichtes Nachtmahl eingenommen und würde mit der Baroness und dem Rittmeister nach dem Theaterbesuch noch ausgiebig soupieren.

Frau Wotruba hatte sich diesmal früher denn je zur Ruhe begeben. Das Souper war bei der Köchin in besten Händen und für die eine oder andere Flasche Rotwein danach oder dazu bedurfte es niemanden mehr als den Franz. Ja, die Wotruba konnte beruhigt alle heute Abend noch anfallenden Angelegenheiten dem Franz und den niederen Geistern des Hauses überlassen.

Im Hotel konnte der Kommerzialrat sich endlich - und heute etwas verspätet - seinem geliebtem Menu-Abend widmen. Gemeinsam mit Nekowitsch begab er sich nach oben, wo Frau Schwaninger schon alles vorbereitet hatte, wo der Tisch eingedeckt war, mit Silber von Berndorf, Augarten Porzellan und Arlington Glas, wo die Cilly bereit stand, die das Servieren überwachte und zwei Kellnerlehrlinge.

Anton ließ bei diesen Gelegenheiten immer zwei Kellnerbuben servieren. Sie waren zwar immer nervöser denn sonst, weil sie Angst hatten, ausgerechnet in Gegenwart des „Chefs“ etwas falsch zu machen, andrerseits korrigierte sie Kupferwieser angesichts der intimen Runde auch immer etwas sanfter, weil es dort auf weniger ankam und „die Burschen um so mehr lernen können“, wie er meinte.

Die Herren Altwirth, Löschnig und Haberzettl, sowie Frl. Amon hatten bereits Platz genommen. Frau Schwaninger und Maître Brix hantierten sachlich und leise im Hintergrund. Wie üblich begann Anton den Abend mit einer kleinen Ansprache, die an „die Burschen“ gerichtet war. „Schani, Poidl, paßt´s mir heut extrem gut auf. Denn heut´ is´ mehr zum Lernen als sunst in aner ganzen Woch´n. Und, wenn heut´ was zu Bruch geht, siacht´s kaner außer uns.“, er setzte sich, „Cilly, Maître, wir beginnen. Womit beginnen wir?“

Toni schälte sich oben in Hannes´ zwei Zimmern aus ihrem Pelz. Sie war überrascht, wie nobel er eingerichtet war, aber natürlich verfügten er und seine Mutter über die reiche Auswahl an ehemaligen Arlington-Möbeln, die gemäß diverser Moden im Laufe der Zeit wohl ausgemustert worden waren.

Frau Wotruba hatte ihre zwei Zimmer in reinstem Rokoko ausstatten können, bei ihr war alles Weiß und Golden wie in den großen Gesellschaftszimmern, bei Hannes hatten sich eher Biedermeier und Empire, breitgemacht, die Möbeln waren Mahagoni, Kirschholz oder schwarz lackiert, die Polster und Bespannungen hielten sich in Grau und Blau. Während bei Mutter Wotruba an den Wänden eher Madonnenbilder oder andere Bilder allgemein religiösen Inhalts hingen, hatte sich Hannes zumeist für Stilleben und Landschaften entschieden.

Eine andere junge Frau in Tonis so wagemutiger Situation hätte sich gedacht, ihr Verehrer habe weder Kosten noch Mühen gescheut, Toni hingegen ahnte, dass Hannes lediglich keine Mühen gescheut hatte und dass dieses Rendezvous einzig und allein auf Kosten der Gräflichen ging.

Der Aufschnitt bestand aus kaltem Schweinsbraten, Beinschinken, Roastbeef und Bündner Fleisch, die Käseplatte ließ keinen Wunsch offen Gouda, Emmentaler, Bries, alles war vertreten; Toni fand Räucherlachs ebenso vor, wie neumodischen Kaviar, dazu geröstetes Schwarzbrot und Jourgebäck. Die Süßigkeiten stammten unübersehbar vom Demel, die Obstschale krönte eine ganze Ananas - und das im Dezember! Eine Flasche steirischer Rosé war neben einem Bordeaux placiert, exzellenter Jahrgang, wie Toni fachkundig konstatierte, im Sektkübel wartete eine Flasche Champagner. Sherry und Cognac standen im Hintergrund bereit.

Ein Samowar dampfte fröhlich vor sich hin und in einer Silberkanne wartete vermutlich Kaffee. Krüge aus Kristallglas, unverkennbar Arlingtonscher Provenienz, mit Orangensaft und Mineralwasser rundeten das Arrangement ab.

Toni war einigermaßen beeindruckt. Bis heute hatte sie Hannes´ Avancen noch nicht so sehr ernst genommen, jetzt beunruhigte sie dieses unerwartete Angebot und sie wurde ein wenig verunsichert. Worauf hab ich mich da eigentlich eingelassen?, fragte sie sich und entschied, ganz Dame zu bleiben.

„Fräulein Toni“, begann Hannes, „was darf ich Ihnen anbieten?“

„Vielleicht, ... für´s Erste ... einen Tee. Es ist so grauslich kalt geworden.“, meinte sie - plötzlich vorsichtig geworden?

„Kommt sofort. Milch? Zucker? Honig? Zitrone?“, fragte Hannes, „Ich hoffe, ich hab´ an alles gedacht.“

„Danke, einfach schwarzen Tee.“, Toni entspannte sich etwas, als ihr Hannes die Tasse reichte, „Wissen´s, der Papa behauptet, man darf alles nur pur trinken.“

Sie senkte die Stimme und deklamierte: „Tee ist Tee, alle Zutaten entweihen ihn. Das selbe gilt für Kaffee. Entweder schwarz, oder gar net´.“

Dann setzte sie hinzu: „Behauptet wenigstens der Papa.“

Beide lachten, weil sie den Kommerzialrat so gut imitiert hatte.

„Toni, liebste Toni“, Hannes ließ plötzlich das „Fräulein“ weg, „Ich weiß, Ihr Herr Papa halt´ mich für an´ Mitgiftjäger, aber ich bitt´ Sie, mir wirklich zu vertrauen. Meine Absichten sind absolut ehrenhaft, ich wollt´ sie einfach nur ein einziges Mal allein seh´n, ohne die Resi, ohne die Gräflichen. Es is´ immer so schwierig, mit all den Leuten drumherum.“, sein Seufzen klang ehrlich.

„Lieber Hannes,“ meinte Toni, „ich glaub´, ich hab´ Ihnen mein Vertrauen genug bewiesen, dadurch, dass ich einfach da bin, heut´, und – sur place.“

Und dann bat sie - allen Regeln ihres Vaters zum Trotz, die sie ohnehin schon gebrochen hatte - um etwas Rum für ihren Tee.

„Zürnen Sie dem Papa nicht. Ich bin das einzige Kind und damit die Erbin. Deswegen passt er so auf mich auf.“

Nach dem Tee - mit Rum - nahm sie einen Rotwein, aß etwas von dem Aufschnitt und beschloss, sich wohlzufühlen, nachdem sie immer mehr von dem Rotwein genommen hatte. Hannes schlug schließlich vor, den Champagner zu öffnen, Toni willigte ein, bemühte sich, mondän zu wirken.

Nach dem einen oder anderen Glas, während sich die beiden über dies und über das unterhielten, meinte Toni, plötzlich kühn und kokett: „Ich muss aber schon sagen, mein Lieber, Sie lassen dieses Rendezvous die Gräflichen aber einiges kosten. Trotzdem aber, alle Achtung, Sie beweisen mindestens Stil.“, sie nippte wieder am Champagner.

„Offen gesagt,“ Hannes seufzte, „liebe Toni, war es mein ganzer Ehrgeiz, diesen Abend selbst zu bezahlen.“

Toni zuckte beschämt zusammen, aber dann beeilte Hannes sich und sprach rasch weiter: „Aber ebenso offen gesagt, es is´ ma´net´so ganz gelungen. Die Ankunft der Baroness hat zuviel Aufregung verursacht und ich hab´einfach ka ´ Zeit net´g´habt.“

Ich gebe also offen zu, dass ein Teil von all diesem Angebot nicht von mir bezahlt ist, sondern von den Gräflichen.“

Toni entschuldigte sich für ihre Taktlosigkeit.

„Aber meine liebe Toni, wenn Sie ein Mann wären in diesem wunderbaren Hotel, hätten Sie nicht auch Küche und Keller Ihres Vaters ausgeräumt, um ein junges Mädchen zu beeindrucken?“

„Oh, mein Lieber, ich hätte noch zu ganz anderen Kalibern gegriffen, das sei uns gewiss!“

Man näherte sich einander fast bis zu einem Kuss, da zog sich Toni wieder in die bequemen Polster ihrer Couch zurück: „Sagen´S´, das ist doch net´ Ihr einziges Zimmer, oder?“

Im Hotel war Maître Brix eben beim Wild angelangt, - präsentierte zum Beispiel Trappe a´la daube, Wildschweinkoteletts mit Trüffeln und Sauce a´la Cumberland, Hirschrücken mit Madeirasauce, Filets sautés von Fasanen, Chaud-froid vom Reh, sowie Hasenfilets mit Pfeffersauce und Pilzen, Pastetchen a´la Russe, Erdäpfel- und bayrische Knödel, Kroketten, Speckfisolen, Rotkraut, gebackene Erbsen, Croutons, serbisches Kraut, Schwarzwurzelsalat und ein ganz neues Kompott aus Preiselbeeren und Orangen, - als in der Halle eine gewisse Unruhe ausbrach, die sich bald in den Salon im Mezzanin fortsetzte.

Einer der Pagen, der Lorenz hieß, sich besonderer Protektion vom Nekowitsch erfreute, der ihn seinerseits stets Laurent nannte - und entsprechend gutaussehend war - platzte plötzlich in die geruhsame Vorkostrunde.

„Es brennt,“ stieß er atemlos hervor, „es brennt, die Potapova is´ grad´ vom Theater retour! Meineherrn, es brennt!“

„Laurent,“ räsonierte Nekowitsch nasal „Was brennt, wo brennt´s?“

„Die Potapova?“, rätselte Löschnig, „Die is´ doch im Ringtheater, oder net´?“

„Ja eben,“ stieß Lorenz, oder Laurent hervor, „Das Ringtheater brennt!“

„Waaas?“, Kupferwieser, eine Erdäpfelkrokette halb im Mund, erbleichte.

„Es hat g´heißen „Alles gerettet“, aber des stimmt net´, ich weiß es vom Baron, der was mit der Potapova reist.“, Laurent bemühte sich, wieder Schriftdeutsch zu werden, „Es is´ ein Feuer ausgebrochen im Theater, dann sind soundsoviel Leute raus´ und dann hat wer gerufen, „Alles gerettet“ , weil keine Leut´ mehr raus´ ´kommen sind. In Wirklichkeit gibt´s aber soundsoviel Tote, weil alle möglichen Leut ´leicht noch drin´sind! Herr Kommerzialrat, Entschuldigung, es will sicher niemand wen nervös mach´n , aber die Potapova ist retour, aber sonst net wer …?“

„Schon gut, danke, Lorenz,“ Anton Kupferwieser, Hotelbesitzer und Kommerzialrat wirke plötzlich sehr sachlich, „Is´der Baron Lichtenstern noch in der Halle?“

Lorenz bejahte dies und meinte noch, von der ganzen Entourage der Potapova sei der Baron der einzige, der noch einigermaßen bei Sinnen sei, alle anderen hätten sich völlig aufgelöst auf ihre Zimmer zurück gezogen und außerdem hätten alle so entsetzlich nach Rauch gestunken ...

Kupferwieser ging nach unten, seine leitenden Angestellten im aufgeregtem Gefolge. Er wirkte würdevoll und ganz Herr seiner selbst, in Wirklichkeit war er wie gelähmt.

Baron Lichtenstern saß in der Halle, einen Whisky in der Hand und erzählte eben einer aufgeregten Schar an Hotelgästen und Personal von seinen Erlebnissen.

„Das Feuer brach ganz plötzlich aus, links im Parkett, eine Frau in der ersten Reihe verwandelte sich sofort in eine lebende Fackel. Und dann brach da unten ein unglaublicher Tumult aus, alles drängte zu den Türen, aber die Türen öffneten sich nur nach innen. Die Menschen müssen sich dort schrecklich verkeilt haben, Wir waren glücklicherweise im Ersten Rang, wir sind über den Balkon entkommen, über Leitern und Sprungtücher. Aber unten und oben auf den Galerien herrschte unvorstellbares Chaos, es wurde plötzlich finster und ...“

Der Baron brach ab, wiewohl man ihm anmerkte, dass es ihm gut tat, wieder und wieder vom Erlebten zu sprechen.

Kupferwieser baute sich vor ihm auf.

„Verzeihen Sie, Herr Baron, Sie waren im Ersten Rang?“

Was der Baron bejahte, dessen ganze jugendliche Lebhaftigkeit plötzlich von ihm gewichen war. Und wie Lorenz oder Laurent wahrheitsgemäß berichtet hatte, stank er entsetzlich nach Rauch.

„Was können Sie mir vom Zweiten Rang sagen? Baron, meine Tochter und meine Nichte sind dort!“, der Kommerzialrat packte den Baron am Frackrevers, da fiel ihm Frau Schwaninger in den Arm.

„Der Zweite Rang hat auch einen Balkon nach draußen.“, versuchte sie ihn zu beruhigen, wiewohl sie wusste, dass es nur ein kleiner Balkon an der Ecke war.

Der Kommerzialrat ließ den verschreckten Baron los und starrte seine Freundin verständnislos an.

„Es wird am besten sein,“ schaltete sich Frl. Amon ein, „wenn wir einen Wagen zum Theater schicken und ansonsten abwarten.“

„Einen Wagen, ja,“ der Kommerzialrat war nicht mehr Herr seiner Stimme, „einen Wagen, sofort! Schwaninger, sie bleibt da, Nekowitsch, Lorenz, ihr kommt´s mit. Ich muss weg! Und Cognac und Wodka in die Zimmer der Potapova, frei Haus! Und einen Doktor. Einen Arzt, rasch. Der Neuländer soll kommen und sich die Leut anschau´n. Und bleiben, bis ich wieder da bin.“

Als das Feuer ausbrach und die Panik unten im Parkett und im Parterre losging, war Resi zunächst völlig erstarrt, absolut konsterniert. Die Dame neben ihr schrie auf, das Mädchen saß da, mit weit offenem Mund, der Herr umarmte die Dame, die Tochter fiel ihm angsterfüllt um den Hals. Der Sohn, der Kadett, erhob sich und sagte tonlos: „Der Balkon, wir müssen zum Balkon.“, dann sah er Resi an und meinte, seltsam förmlich, „Mein Fräulein, wollen Sie sich uns bitte anschließen?“

Ehe Resi noch nicken konnte, hatte der junge Mann alle drei Pelze der Damen im Griff und öffnete die Logentür. Im selben Moment wurde es vor der Tür, in den Gängen stockdunkel, während im Zuschauerraum das Feuer immer heller loderte und die Menschen panisch und blöde schrieen.

Auch die Dame und das Mädchen kreischten entsetzt, aber da herrschte der Kadett sie an: „Still! Hört mir zu! Ich kenn´ das Haus, ich weiß den Weg. Wir müssen zum Balkon am Eck. Ich geh ´voraus. Maman, Sie haltet sich an meiner Hose fest, die Lena haltet sich bei Ihnen an, Papa, Sie schieben mir die Lena und achten auf das Fräulein und Sie, mein Fräulein, halten sich am Papa fest. Keine falsche Scham, meine Liebe, ich will nicht grob erscheinen, aber – zum Kuckuck - halten Sie sich an seiner Hose fest.“, der Kadett lachte beinahe, während er bereits husten musste, wegen des Rauchs und zu brüllen hatte, wegen des absurden Geschreis im Parterre und in den Gängen.

„Mes amis, vor allem eines: achtet nicht auf die andern. Wir sind rücksichtslos und denken nur an uns!“

Und dann bugsierte sie alle der junge Kadett, - ganz so, als hätte er nie in seinem Leben etwas anderes getan, oder geübt - , durch eine Dunkelheit voll jammernder, wimmernder, namenloser, drängender und tobender Gestalten, nach draußen, während sich hinter, neben, unter und über ihnen hundertfach Wahnsinn und Tod brüllend breit machten.

Endlich auf dem Balkon angelangt, half der Kadett seiner Mutter, seiner Schwester und danach Resi auf die Leiter, bevor sein Vater und er sich darauf schwangen.

Ächzend und keuchend fiel Resi einem Feuerwehrmann in die Arme, der sie vorsichtig vis-a-vis zur Börse geleitete, auf deren Stufen ein improvisiertes Lazarett eingerichtet worden war, durch die Arkaden wenigsten einigermaßen vor Wind und Schnee geschützt.

Dort saß sie jetzt, - ihren Pelz im Arm, ohne Handtasche, ohne Schal und Handschuhe. Der Pelz und die Federn ihres Haarschmucks rochen scheußlich versengt, konstatierte sie, verblüfft ob der eigenen Sachlichkeit.

Ihren Retter verlor sie aus den Augen. Dafür bemerkte sie, dass allmählich niemand mehr aus dem Theater heraus kam. Irgendwer lief mit den Worten „Alles gerettet!“ durch die Gegend, aber sie schenkte dem keine weitere Aufmerksamkeit.

Sie hatte gesehen, wie eine Frau in der ersten Reihe sich in eine lebende Fackel verwandelt hatte, sie hatte gesehen, welches Chaos sich daraufhin im Parkett und im Parterre entwickelt hatte und sie wollte gar nicht an all die armen Menschen in den oberen Galerien denken, die so plötzlich der Dunkelheit in den Gängen ausgeliefert waren.

Sie wollte nur nach Hause. Aber wie sollte sie das tun? Wo doch die Toni nicht bei ihr, sondern beim Hannes in der Falknergasse war? Ächzend und hustend gab Resi auf der Freitreppe vor der Börse schwarzen Schleim von sich, irgendein Feuerwehrmann labte sie mit einem Schluck Wasser, sie lehnte sich dankend und einigermaßen entspannt zurück. Eine Dame, den Pelz lose über das Hauskleid geworfen, - offenbar aus einer der umliegenden Wohnungen -, ging zwischen den Menschen auf und ab und bot Tee an, den ihr Dienstmädchen aus der silbernen Kanne in dickwandige Gläser einschenkte, die ein alter Diener im Korb hinterher trug. Ein Pfarrer stand da und malte ratlos Kreuzzeichen in die Luft.

Dann sah Resi, - die Rücken zu ihr gewandt -, den Onkel Kommerzialrat, Nekowitsch und den Pagen Lorenz, den die Hälfte der Leute Laurent nannten, ebenso ratlos zwischen den Alleebäumen vor der Börse stehen. Betroffen blickten sie auf das immer noch brennende, rauchende Theater. Es befanden sich keine Menschen mehr auf den Balkonen und Fensterbrüstungen, aber zwischen Theater und Börse war immer noch überall Lärm und Geschrei.

Ich hab jetzt nur zwei Möglichkeiten, dachte sie, entweder ich schlag´ mich allein zum Hotel durch ... Wird es sehr auffallen, dass ich nach Rauch stink´, und sie nicht? ... Oder ich geh´ in die Falknergasse zur Toni ... Oder aber ich schenk´ dem Onkel reinen Wein ein. Aber wie soll ich das machen, ohne dass der Nekowitsch oder der Lorenz was spitz kriegen?

Resi raffte sich auf, griff nach ihrem Pelz, - alles andere hatte sie ja ohnehin verloren und näherte sich von hinten ihrem Onkel.

Der fiel ihr um den Hals: „Resi, oh Resi, was bin ich froh!“, der Kommerzialrat hatte gar seinen Spazierstock fallen gelassen, der Zylinder fiel ihm in der Umarmung vom Kopf, „Verzeih´, mein Kind, wenn i´ so gach frag, aber wo is´ die Toni?“

„Onkel, schicken´S die Leut´ weg“, flüsterte Resi ihm ins Ohr, „die Toni war nicht im Theater, die Toni hat ein Rendezvous.“

Anton befreite sich aus Resis Umarmung, hielt sie fest, sah ihr tief in die Augen, die Resi begann zu weinen, „Oh Herr Onkel, ich bin an allem Schuld. Ich hätt´ das nie zulassen soll´n!“

Der Kommerzialrat straffte sich und meinte, um Leichtigkeit bemüht, in Richtung Nekowitsch und Laurent: „Der Toni geht´s gut. Sie is´ mit der Resi raus´, aber dann haben sie sich verloren. Sie is´ sicher schon am Heimweg. Geht´s zum Hotel. Ich kümmer´ mich um die Resi.“

Dann setzte er sich mit Resi auf die Stufen vor der Börse. „Kind, du musst mir jetzt alles beichten, ja?“ Resi nickte schluchzend.

Da kam der Kadett: „Oh, was bin ich froh, mein Fräulein, dass ich Sie wiederfinde. Und man hat Sie gefunden, das is´ fein. Mein Fräulein, mein Herr, darf ich anbieten? Schärfster Slibowitz. Das tut jetzt gut.“, Und er winkte vorgeblich lässig mit einem silbernen Flakon, „Schickt der Papa.“

Resi nahm dankend an und Anton tat desgleichen, dann erklärte Resi ihre Rettung, Anton wollte sich anerkennend erheben, aber der Kadett winkte ab, jetzt wirklich lässig, und meinte, er müsse jetzt wieder zu seiner Familie, überreichte Kupferwieser seine Visitenkarte. „Kalman Oistic von Castua“

Anton verabschiedete den jungen Mann, sich nochmals bedankend. Dann zu Resi: „Also, von Anfang an.“, Resi nützte ihr ganzes Schluchzen nichts mehr.

Etwa eine halbe Stunde später klingelte Kommerzialrat Anton Kupferwieser sehr energisch beim Seiteneingang des Palais Arlington in der Falknergasse.

Er hatte Resi im Hotel abgeliefert, hatte kundgetan, die Toni befinde sich wohlauf, sei aber noch in der Wohnung eines Arztes am Schottenring, er ginge jetzt zu ihr.

Er schickte alle leitenden Angestellten dankend nach Hause zum Schlafen und die luxuriösen Wildspezialitäten in den Personalspeisesaal, gab Order, der Potapova und ihren Leuten weiterhin Champagner, Cognac, was auch immer sie wünschten, in die Suiten und Zimmer zu bringen und ließ sich zugleich bei Madame entschuldigen. Dann küsste er Frau Schwaninger die Hand und expedierte sie und die Cilly mit Resi nach oben. Den beiden werd´ ich eh nix vormachen können, dachte er noch, ehe er ging, bestrebt allen anderen sehr wohl was vorzumachen.

Als er den Platz überquerte, am Hauptportal des Palais vorbei, hatte er den Eindruck, auch dort sei eine gewisse Unruhe ausgebrochen. Der Wagen stand angespannt vor dem sperrangelweit offenen Tor, die Einfahrt war hell erleuchtet, in beiden Ecksalons brannte Licht und andauernd schien irgendwer die wenigstens beiläufig beleuchteten Gesellschaftsräume hin und her zu durchqueren.

Allein, er konnte sowieso nicht den Haupteingang benutzen, konnte nicht die Gräflichen heraus läuten, denn Hannes Wotruba bloßzustellen, hieße auch, seine Tochter bloßzustellen. Er musste lange und oft läuten, in der Falknergasse, bis ihm endlich ein verschüchtertes Dienstmädchen öffnete. „Kupferwieser, Kommerzialrat Kupferwieser, vom Hotel nebenan. Ich muss sofort zum Hannes Wotruba.“

Die Nachricht vom Brand war mit einiger Verspätung im Palais eingetroffen.

Lothar, der Kutscher, hatte im Wagen vor dem Theater ganz nach Kutscherart vor sich hin gedöst, als mit einem Male rund um ihn das Chaos ausgebrochen war.

Vorsichtig hatte er zunächst – ganz nach Kutscherart - sein Gespann in die gegenüber liegende Nebenfahrbahn vor der Börse geführt, wo er in sicherem Abstand auf die Baroness und den Rittmeister warten wollte.

Später hatte er einem Dienstmann die Zügel in die Hand gedrückt und direkt vor dem Theater Aufstellung genommen, bis er von den Feuerwehrleuten zurückgewiesen worden war. Nach einer angemessenen Zeit der Ratlosigkeit und als niemand mehr aus dem Theater kam und all die hustenden und aufgeregten Menschen rund um ihn allmählich von Kutschern und Angehörigen aufgelesen worden waren, war er schließlich zum Palais zurück gekehrt und hatte sich beim Grafen melden lassen.

Der saß noch immer mit dem Franz beim Schach.

Bevor der Graf noch viel sagen konnte, hatte der Franz die Situation schon im Griff, schickte ein Mädchen nach der Gräfin, nach Mademoiselle und Frau Wotruba, schickte den Burschen des Rittmeisters und einen der Hausdiener zum Theater und befahl Lothar, sich mit der Kutsche vor dem Palais in Bereitschaft zu halten.

„Ich bin sicher, die Baroness und der Rittmeister haben in einer benachbarten Wohnung Zuflucht gefunden. Der Rittmeister wird uns sicher bald einen Dienstmann mit einer Nachricht schicken.“, meinte Franz noch zum Abschluss, dann blickte er Graf Ludwig fragend an, „Herr Graf... ?“

„Ja ja, schon gut. Passt alles so. Danke, Franz. Wir schon gut werden. Werden schon heimkommen.“, er sprach seltsam abgehakt, wie man es noch nie von ihm gehört hatte, „Es muss wer beim Theater sein, aber es hat doch kan´ Sinn, wenn wir alle zugleich hinrennen, oder?. Wenn ich nur wüss´t, wen man fragen könnt´?“

Lothar schlug vor, noch jemanden zur nächsten Polizeiwache Am Hof zu schicken, dort sei doch auch die Feuerwehr, dort solle man Vermisstenanzeige machen und die Adresse hinterlassen.

„Danke, Lothar, ausgezeichnete Idee.“, lobte der Graf, „Franz, das soll der Hannes machen.“

Vorher aber kamen noch die Damen, die Gräfin, Louise und die Wotruba. Letztere bot in Nachthemd und Schlafrock einen so ungewohnt unkorrekten Anblick, es schien ihr wirklich nicht gut zu gehen, wenn sie sich so früh schon zu Bett begeben hatte. Louise war außer sich und Gräfin Eugenie so fassungslos, dass sie es nicht über sich brachte, die Fassung auch wirklich zu verlieren.

Graf Ludwig schickte Franz noch um Kaffee für alle und beorderte die Wotruba ins Bett, niemand könne im Augenblick etwas tun. Man müsse abwarten und beten.

Das Tête-à-tête der beiden jungen Leute hatte sich zunächst ganz nach Hannes´ Geschmack entwickelt, auch wenn die Toni sich nach einem kurzen Blick ins Schlafzimmer wieder darauf besonnen hatte, eine Dame zu sein und im Fauteuil Platz genommen hatte, wo sie etwas unangreifbarer war als auf der Couch.

Sie tranken weiterhin Champagner, aßen reichlich und unterhielten sich über Gott und die Welt.

Toni erlaubte Hannes zu rauchen und traute sich selbst über eine Zigarette zu, was ihr aber nicht schmeckte.

Ob er es wagen könnte, sich ihr beim nächsten Mal Einschenken auf einen Kuss zu nähern?

Der Samowar dampfte, ein verglimmender Kerzendocht knisterte in einen Moment der Stille hinein ...

... als Franz, ohne anzuklopfen, die Tür aufriss und gleich halb im Zimmer stand, dicht an Toni und Hannes, der empört hoch fuhr: „Bist du von allen guten Geistern verlassen! Siehst net´, dass ich a´ Rendezvous hab?!?“

Natürlich hatte Franz die Situation in weniger als einer Sekunde erfasst, aber jetzt musste er Hannes in die Parade fahren und ihm im Telegrammstil alles Geschehene vortragen.

Toni sprang auf, erbleichte und begann wie ein Tiger im Käfig auf und ab zu gehen. Ganz mechanisch schenkte sie sich ein Glas Champagner ein, trank es auf einen Schluck aus und platzte ins Ende von Franzens Ausführungen:

„Das is´ eine Katastrophe! Das is´ eine Katastrophe! Der Papa bringt mich um, steckt mich ins Kloster, ich kann mich erschießen! Nein, kann ich auch net´! Womit denn? Wie soll ma´sich denn erschießen, wo ma´nix hat; Herrgottnochamal!“

Franz machte große Augen, als zweifle er am Verstand der Hoteliertochter, da meinte Hannes schlicht: „Das Fräulein Toni hätt´ eigentlich auch im Ringtheater sein sollen. Und ihre Cousine is dort.“

Herrgottsakrament,“ stöhnte Franz, „da setzt´di´ nieder.“

Und er tat es, sank im Fauteuil zusammen, wo eben noch Toni gesessen hatte und weil es für den Moment ohnehin schon egal war, schenkte Hannes ihm und sich einen Cognac ein.

„Was mach´ ich jetzt? Was mach´ ich denn nur? Herrje, wo ich net´ weiß, was mit der Resi is´, wie soll ich denn da nach Haus´?“, Toni war schier am Verzweifeln.

Franz wusste für den Moment auch keinen Rat und entschuldigte sich, nachdem er rasch den Cognac geleert hatte, er müsse zurück zu den Gräflichen. Er ließ die Tür irgendwie halb offen als er ging.

Hannes zog Toni auf die Couch, sie saßen einander gegenüber, er hielt ihre Hände und sah sie an. „Fräulein Toni, verzeihen Sie mir die unmögliche Situation, in die ich Sie gebracht hab. Ich werd´ das alles schon wieder g´rate rücken, aber als erstes müssen wir direkt zu ihrem Herrn Papa. Es gibt keine andere Möglichkeit, wir müssen direkt zu ihm und ihm alles gestehen. Er wird krank vor Sorge sein und dass Sie leben und unbeschadet sind, ist ihm wohl wichtiger als alles andere?“

Das lassen Sie ruhig meine Sorge sein, junger Mann!“, dröhnte der Kommerzialrat und trat ins Zimmer, „Obwohl ich zugeben muss, dass Ihre Worte Sie ehren. Ihr Vorhaben weniger ...“ , Kupferwieser warf einen Blick auf das arrangierte Buffet, die Weine, den Samowar, eine gewisse Anerkennung konnte er nicht ganz verbergen.

„Herr Papa ...“, mehr brachte Toni nicht hervor und stand auf.

„Herr Kommerzialrat, ich übernehme für alles die volle Verantwortung.“, stellte Hannes sich schützend neben Toni.

„Die Resi ...?“, fragte Toni.

„Womit wir beim wichtigsten Teil des heutigen Abends sind. Kind, der Resi geht’ s gut, sie is´ über den Balkon hinaus. In ihrer Loge war ein junger Kadett mit seinen Eltern oder so ähnlich, jedenfalls hat er alle sauber ´rausgebracht, die Resi hat sogar ihren Pelz, nur ihre Handtasche ist perdu.“

Kupferwieser legte Zylinder, Stock und Handschuhe ab, schlüpfte aus dem Stadtpelz und nahm souverän Platz: „Setzt euch Kinder, setzt euch, wir haben was zu bereden. Gibt´s für mich vielleicht auch einen Cognac?“

Hannes beeilte sich und der Kommerzialrat entspannte sich tatsächlich etwas.

Er war immer noch wütend auf den Hannes und böse auf die Toni, aber ein Blick auf die geschlossene Tür, hinter der nur Hannes´ Schlafzimmer liegen konnte, beruhigte ihn schließlich wieder etwas. Die Situation hätte schlimmer sein können. Sehr viel schlimmer.

Kurz und gut, erläuterte Kupferwieser, seine Tochter sei kompromittiert, jetzt rätselten schon alle im Hotel, wieso die Resi zurück gekommen sei und sie, die Toni, immer noch nicht, er habe seinerseits keine Lust, Frau Schwaninger etwas vorzumachen und dass die Cilly hier im Palais ein und aus ginge, sei ihm auch bekannt. Außerdem kenne man ja die Resi, die habe einen Schock für´s Leben, wiewohl sie zunächst sehr kaltblütig reagiert habe. Jedenfalls ließe sich auf Dauer gar nichts verheimlichen.

„Daher, mein lieber junger Mann, erwarte ich noch morgen Ihren Antrag.“, so der Kommerzialrat, „Und ebenfalls morgen geh ich dann gleich zu ihrem Grafen, denn Sie werden natürlich bei mir im Haus einsteigen.“

Die jungen Leute fielen sich nach kurzem, erstauntem Zögern in die Arme und Hannes versicherte, dem Kommerzialrat in allen Wünschen sogleich nachkommen zu wollen, nur ... vielleicht, nicht gleich morgen, wegen der Baroness ...

Dann erzählte er, wie man im Palais vom Brand erfahren hatte und dass er eigentlich schon längst bei der Polizei im Wachzimmer Am Hof sein sollte.

„Gut,“ meinte Anton Kupferwieser, „dann erwarte ich Sie bei mir, sobald sich die Aufregungen hier im Haus gelegt haben und sich hier alles hoffentlich auch zum Guten geklärt hat. Aber ich will dann gleich nachher zum Grafen gehen, um alles Weitere zu klären. Und jetzt ab zur Polizei. Und wir, mein Kind gehen jetzt nach Hause und bereden alles morgen in aller Ruhe, beim Frühstück.“

Hannes ließ es sich nicht nehmen, Toni und ihren Vater bis zum Hotel zu begleiten, Toni verschwand durch den kleinen Seiteneingang, nachdem Hannes ihr noch formvollendet die Hand geküsst hatte.

Ihr Vater verneigte sich einigermaßen kühl vor Hannes und ging noch einmal ins Hotel, um Nachricht zu hinterlassen, dass seine Tochter nun auch wohlbehalten heimgekehrt sei. Für einen Moment sah er Hannes noch nach, während sich dieser durch die kalte Nacht zur Polizei begab. Kupferwieser war nicht ganz zufrieden, aber ganz und gar unzufrieden war er auch nicht.

„Hätt´ schlimmer kommen können,“ sagte er halblaut zu sich selbst, während er die Drehtüre zur Halle in Bewegung setzte, wo ihn Dr. Neuländer erwartete, „Hätt sehr viel schlimmer kommen können!“

Am nächsten Morgen standen alle irgendwie verspätet auf, in der Wohnung der Kupferwiesers. Am übernächsten Morgen schließlich berief Anton auch Frau Schwaninger und die Cilly zum Frühstück und verkündete, ohne die näheren Umstände zu erwähnen, den bevorstehenden Antrag Hannes Wotrubas und seinen Wechsel aus dem Palais hier ins Haus.

Die Frauen gratulierten Toni, die abwechselnd rot und bleich wurde, vor Verlegenheit.

Dann wandte sich der Kommerzialrat an Cilly: „Ich hab´s dir gleich gesagt, damit du nicht erst Länge mal Breite deinen Franz ausfragen musst.“ - und als Cilly daraufhin rot und bleich wurde - „Ja glaubst denn, ich merk´s nicht, wie du dauernd in der Falknergasse verschwind´st? Aber das hört sich jetzt auf mit den Gspusis quer über den Platz. Schau´ zu, dass er dich heiratet, oder mach´ Schluss mit ihm, hörst?“

„Sehr wohl, Herr Kommerzialrat,“ Cilly druckste etwas herum, „Wir müssen vielleicht eh. Es is nämlich was passiert. Ich glaub´, es is was unterwegs bei mir.“

Kupferwieser seufzte, ja, dachte er, hätt´ schlimmer kommen können, sehr viel schlimmer, jedenfalls solle sie sich keine Sorgen machen, er werde auch das beim Grafen in Ordnung bringen und im außerdem solle Frau Schwaninger gleich einen Termin für die Cilly beim Dr. Neuländer ausmachen.

Später, als sie allein waren, fragte Toni ihren Vater geradeheraus: „Wann genau haben Sie sich entschieden?“

„Ehrlich gesagt, wie ich den Aufschnitt gesehen hab´, die Käseplatte, die Obstschale. Da hab´ ich das erste Mal das Gefühl g´habt, der Mensch würd´ in unser Haus passen. Vorher war ich noch so wütend, wie noch nie und wenn du nur eine Tür weiter gewesen wärst, hätt´ ich sie mit meinem Stock eingeschlagen, das lass´ dir gesagt sein, mein Kind!“

Dann vertraute er ihr an, dass er ohnehin vorgehabt hätte, Frau Schwaninger im nächsten Jahr zu heiraten, was für Toni auch keine große Überraschung war. Jedenfalls habe er sie sowieso statt der Schwaninger zur Hausdame machen wollen und wenn der Haberzettl nächstes Jahr in Pension ginge, könne der Hannes ja vorerst einmal das Restaurant übernehmen. Und wenn es wirklich soweit käme, dass die Cilly und dieser Franz heirateten, dann hätte der Graf sogleich die richtigen Nachfolger für die Wotrubas.

Wenige Tage später war es dann soweit. Hannes hatte formvollendet und begleitet von einem großen Strauß Rosen um die Hand Tonis angehalten, der Kommerzialrat hatte coram publico und begleitet von einer einzigen, dafür sündteuren Orchidee, um die Hand von Frau Schwaninger angehalten, beide Anträge wurden angenommen und man hatte im Hotel einige neue Wildspezialitäten des Maître Brix verkostet, von denen man eine gewisse Anzahl, - diesmal ohne groß darüber nachzudenken -, in die Monatskarte aufgenommen hatte. Dr. Neuländer hatte Cillys Schwangerschaft bestätigt und Franz hatte sich nicht gegen eine Ehe gewehrt, wie Hannes glaubhaft versichern konnte. Der Hallodri wollte wohl ehrbar werden.

Jetzt saß der Kommerzialrat dem Grafen Ludwig in dessen Arbeitszimmer gegenüber. Der Graf trug einen Trauerflor am Arm, jeder Spiegel im Haus war schwarz verhängt,

am Tor hing ein Trauerbukett.

„Eine Tragödie, des alles,“ der Graf warf eben eine Zeitung auf einen Stapel anderer, „und wie immer in Wien, ist keiner schuld d´ran. Sie wissen von der Cousine?“

Der Kommerzialrat nickte und drückte sein Beileid in konventionellen Worten aus.

„Die Baroness und der Rittmeister hatten gar keine Chance. Sie hatten Karten ganz vorn, dort wo offenbar der Brand ausgebrochen is´, oder was. Man kann nur hoffen, dass es schnell gegangen ist. Wussten Sie, dass es eigentlich unsere Karten waren, also für meine Gattin und mich?“

Kupferwieser verneinte, wiewohl er auch das wusste, und ließ den Grafen einfach weiter reden, während er am Cognac nippte.

„Ich musste sie identifizieren. Ich hab´ sie nur an ihren Juwelen erkannt. Und den Rittmeister halt an der Uhr. Originelles Modell, Schweizer Sache, hat er mir vorher eben erst präsentiert. Furchtbare Sache, wünsch´ ich meinem ärgsten Todfeind nicht. So wie es ausschaut, wird meine Gräfin die Erbin sein. Trotzdem net´ angenehm. Muss ihr alles abnehmen. Und wer nicht aller gestorben ist. Die Schwiegertochter vom Stadtrat Lueger ..., der junge Vetsera, erst siebzehn, hübscher Bub, soviel ich weiß, schrecklich, einfach schrecklich. Kennen Sie vielleicht die Baronin Vetsera, seine Mutter? Sie wissen schon, die Schwester von diesen Levantinern, den Baltazzi-Brüdern, eine mysteriöse Schönheit von zweifelhaftem Ruf. Wunderschönes Palais in der Salesianergasse, freilich gekauft, nicht geerbt, ihr Mann ist ja bloß Legationsrat. Aber sowas verdient die zweifelhafteste Frau nicht. Hat ja Gottseidank noch zwei Töchter, die eine, die Marie oder Mary, oder was, sie ist erst acht oder so, aber die wird noch von sich reden machen, jaja, die Mary Vetsera, die wird noch schöner werden als ihre schöne Mama. Schönes Geschlecht, die Vetseras, feine Monarchiemischung, wenn auch fragwürdig. Was sich heutzutage alles zum Hof drängt, … . Aber Hauptsache, die Potapova gibt immer noch launige Interviews.“

Der Graf fischte eine Zeitung aus dem Stapel und hielt sie Kupferwieser hin.

Der kannte diesen Artikel natürlich und alle anderen auch.

Eine Zeichnung von Madame Potapova, flankiert von Mlle. Kurtz, Baron Lichtenstern, Cavaliere dei Sciffi, dem Impresario und Mr. Beckworth, dem Pianisten war eines der am häufigsten abgebildeten Bildnisse gewesen.

Sie war die berühmteste Überlebende.

Der vorgebliche Graf Romanik, Dr. Moroz und Leutnant Fedin hingegen hatten sich unsichtbar gemacht, wiewohl es im Grunde der Leutnant gewesen war, der alle geistesgegenwärtig gerettet hatte. Seinerseits naturgemäß in keiner Weise vertraut mit den Gegebenheiten des ihm völlig unbekannten Theaters, hatte er instinktiv den Stiegenhäusern misstraut und die ganze Gesellschaft relativ rasch auf den großen Balkon und damit ins rettende Freie geführt.

Der Cavaliere hatte sich beim Absprung den Fuß verstaucht und Mr. Beckworth zog sich eine Platzwunde und eine leichte Gehirnerschütterung an einem Türstock zu. Ansonsten war man unversehrt geblieben.

Kupferwieser bestätigte, die Artikel zu kennen und meinte, sein Haus sei von Madame lobend erwähnt worden, wie sehr man seitens der Direktion ihr und ihren Freunden behilflich gewesen sei. Angesichts der Mengen an Champagner und Wodka, welche die geschockten Russen und Nichtrussen in jener Nacht noch auf Kosten des Hauses konsumiert hatten, schienen Kupferwieser Madame Potapovas lobende Äußerungen allerdings auch mehr recht als billig zu sein.

Im Gegenzug hatte Kupferwieser es auch verstanden, den Großfürsten aus sämtlichen Ermittlungen heraus zu halten. Seitens des Hofes war gar angedeutet worden, er könne mit einer gewissen Ordensverleihung rechnen, denn der Hof, die beteiligten Ministerien und andere, geheimnisvollere Behörden waren natürlich bestens unterrichtet über die wahre Identität jenes vorgeblichen Grafen Romanik.

„Alles gerettet“, der Graf schnaufte verächtlich, „Wer hat bloß als erster diesen Satz von sich gegeben? Der blöde Taaffe hat es sogar so dem Kaiser nach Gödöllö telegraphiert. Peinlich, wirklich peinlich. Ich hör´, Ihre Mädchen waren da?

Kupferwieser nickte etwas betreten, „Ja und bei allem Respekt gegenüber Ihrer Familie, Herr Graf, ich danke Gott jeden Tag, dass uns nix passiert is´.“

„Und jetzt ihre Toni also unseren Hannes heiraten?“, Graf Ludwig lächelte und Anton straffte sich, jetzt kam man der eigentlichen Sache näher.

„Muss ich mir da irgendeinen kausalen Zusammenhang denken? Oder is´ es einfach so, dass zwei junge Leute angesichts des drohenden Todes plötzlich d´raufkommen sind, was sie einander bedeuten?“

„So ist es Herr Graf, genauso. Der Hannes hat sich noch in der Nacht nach meiner Toni erkundigt, nachdem er wegen der Baroness auf der Polizeiwache war.“

Anton betonte die Reihenfolge sehr sorgfältig.

„Die Karten waren sein Geschenk an meine Tochter und meine Nichte und er hat bis dahin nur gehofft, dass ich ihm bald erlauben würde, die beiden auch amal zu begleiten. Ich hätt´s ihm auch bald amal erlaubt, oder wenigstens irgendwann, aber angesichts der Ereignisse hat sich halt alles rascher entwickelt.“

„Bei meiner Gattin war´s ein Reitunfall. Nur war ich der Verunfallte.“, der Graf lachte, „Entre nous, sagen Sie´s ja nie der Gräfin, aber sie kokettierte mit mir, hatte andere Verehrer. Ich war zornig, so richtig an´g´fressen und deshalb wohl auch nicht ganz bei der Sache, während dem Parforceritt. Ich bin noch nie in meinem Leben so dermaßen bled vom Pferd g´fallen, wie damals. Sowas ist mir weder davor noch danach jemals wieder passiert. Die erste, die mich am Krankenbett besucht, ist sie, die so zurückhaltende Freiin Eugenie und macht mir die schwersten Vorwürfe, wie ich ihr so was antun kann. Ich hab´ ihr auf der Stelle einen Antrag g´macht. Sie hat mich „Scheusal“ genannt und erst am nächsten Tag angenommen.

Jaja, wenn man sein Liebstes in Gefahr sieht, will man erst recht nicht mehr davon lassen.“ Der Graf lächelte in der Erinnerung.

„Nun, meinen Segen haben sie. Obwohl es natürlich auch mein Verlust ist. Mir ist klar, dass Sie Ihre Tochter nicht zu mir ins Haus geben wollen, sondern au contraire, den Hannes für ihr Haus gewinnen wollen, hab´ ich recht?“

Entweder hatten Wotrubas den Grafen schon vorbereitet, oder jener stand den Befindlichkeiten seiner Mitmenschen gar nicht so gleichgültig gegenüber, wie er gerne vorgab.

„Er wär´ tatsächlich ein Gewinn für mein Haus.“, gestand Anton.

„Ja, schön,“ sagte der Graf, „aber net´ gleich. Vor Weihnachten geht´s sowieso net´ mehr. In der Fastenzeit heiratet man nicht, wenn man nicht muss. Man muss doch nicht, oder?“, und als Kupferwieser verneinte, „Gut, dann sagen wir, nach Ostern. Es braucht ja auch noch eine Zeit, bis der Hannes alles dem Franz übergeben kann.

Hab´ ich schon erwähnt, dass seine Mutter, die Frau Wotruba, sich auf eines unsere Güter in der Steiermark zurückziehen wird? Ja, ich werd mir den Franz zum Majordomo aufbauen. Ich hoff´ nur, der find´t auch bald die passende Frau. Ich hab´ nix dagegen, wenn mein Personal heiratet und Kinder kriegt, jedenfalls solang sie verheiratet sind, wegen der Kinder, mein´ ich.“

Wagemutig und weil der Graf schon so entspannt war, preschte der Kommerzialrat jetzt vor: „Hat er schon, der Franz, und ich verbürge mich für seine Wahl. Aber er wird wohl noch während der Fastenzeit heiraten müssen.“

Dann erzählte er von der Cilly und nachdem der Graf zunächst etwas atemlos zugehört hatte, war er amüsiert.

„Ich muss schon sagen, mein lieber Kommerzialrat, die Verbindungen zwischen unseren Häusern treiben ja interessante Blüten. Ich glaub´, sowohl der Hannes, wie auch der Franz wissen derlei in Zukunft aus eigener Erfahrung zu unterbinden.“

Der Graf läutete und orderte bei einem der Dienstmädchen Sekt. „Lassen Sie uns anstoßen, auf die Ehen, die wir unabsichtlich verschuldet haben. Ich bin mir sicher, dass ein Mädchen, das bei Ihnen was gelernt hat, sich eines Tages auch an der Spitze dieses Haushalts gut machen wird. Na, und vom Hannes brauch´ ich ihnen ja nix mehr zu erzählen.“

Dann saßen sie noch eine Weile da und tranken Sekt und unterhielten sich über Hannes, Toni, Franz und Cilly und sonst so allerhand. Kommerzialrat Anton Kupferwieser hatte das deutliche Empfinden, in den Augen des Grafen aufgestiegen zu sein, in dessen Welt, er wusste bloß nicht so genau warum?

Am Ende kam der Graf noch einmal auf den fatalen Ringtheaterbrand zurück: „Kennen Sie die Geschichte vom Banquier von Glünau und seiner Frau?“

Wiewohl Anton sie kannte, ließ er freundlicherweise Graf Ludwig erzählen.

„Der Banquier war auf einer Abendgesellschaft gewesen und die Gattin im Theater, im Ringtheater nämlich. Als der Banquier vom Brand hört, eilt er nach Hause.

„Sie wird tot sein. Sie wird tot sein“, ruft er immer wieder, dabei stand die Ehe gar nicht zum Besten. Als er heimkommt, findet er die liebende Gattin schon vor, im Negligé, , im Boudoir, einen Likör in der Hand. „Du bist schon da?“, fragt er verblüfft, da beginnt sie von der Vorstellung zu erzählen, herrliche Aufführung, alles was Rang und Namen hatte, sei im Theater gewesen, et cetera, et cetera. „Du warst bis zum Schluss?“, fragt Glünau. „Natürlich.“, so die Gattin. „Und es ist nichts passiert?“

Was soll denn passiert sein?“ Da schreit er auf, der Banquier, nennt sie „Kanaille“, schlägt ihr den Likör aus der Hand, schlägt sie selbst, wirft sie aus der Wohnung, zerrt sie an den Haaren die Stiege hinunter, weckt den Hausmeister: „Schmeißen Sie dieses Luder ´raus, und lassen Sie sie nie mehr ´rein. Ich will sie nie mehr sehen! Nie mehr!“ Und dann steht die Frau von Glünau im hellblauen Negligé, auf der Straße und geschneit hat´s auch wieder.

Lässt sich nicht verheimlichen, die Sache, weil das halbe Haus wegen dem Geschrei ins Stiegenhaus gelaufen is´. Außerdem will´s der Glünau gar nicht verheimlichen, lässt sich scheiden und beruft sich auf den Brand. Einzigartig, dass ein Brand als Anklagebeweis bei einem Scheidungsprozess herhalten muss.“

Kupferwieser lächelte etwas schmallippig und dachte daran, wie einer seiner Kellner aufgrund der mittlerweile oft und öfter kolportierten Geschichte gemeint hatte, der Banquier sei auch kein Heiliger, sei nämlich in einem Bordell gewesen, wenn auch einem der teuersten, an jenem Abend, und nicht auf irgendeiner ehrbaren Abendgesellschaft. Jener Kellner, der Jodok, ein sommersprossiger Steirer, ein echter Bauernbua, verdiente sich nämlich dort und da was schwarz was dazu, er wettete zu gerne, auf Hunde, Pferde und so weiter. Im Haus der Madame Virginie, am Tiefen Graben, - geboren als Zilla Bleich in Lemberg, tatsächlich verheiratet gewesen mit einem portugiesischen Fidalgo -, gingen viele, sehr viele einflussreiche Herren ein und aus und allgemein erkannten diese den Jodok nicht wieder, denn im Hotel, am Platz, trug er Frack mit schwarzem Mascherl, bei Madame Virginie jedoch agierte er mit roter Echthaarperücke und im Abendkleid und war dort solcherart eine kleine Sensation.

„Hätt´ schlimmer kommen können.,“ dachte Kommerzialrat Anton Kupferwieser, als er sich vom Grafen verabschiedete, „Hätt´ sehr viel schlimmer kommen können. “

Alter Postplatz

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