Читать книгу Führen Sie schon oder herrschen Sie noch? - Heinz Siebenbrock - Страница 10
Оглавление1 Engagierte Mitarbeiter?
„Ein Buch muss die Axt sein
für das gefrorene Meer in uns.“
Franz Kafka2
Seit über 20 Jahren zeigt die mittlerweile legendäre Gallup-Studie, dass fast 90% aller Mitarbeiter weltweit (Deutschland: mehr als 80%) ein erschreckend niedriges Engagement in ihrer beruflichen Tätigkeit an den Tag legen. Als die Hauptursache wird die Unzufriedenheit mit dem oder den Vorgesetzten benannt.3 Dieser Befund hat sich immer wieder bestätigt, zum Beispiel in einer beachtlichen Studie, die Diana E. Krause und Juliane Simon von der Universität Klagenfurt vorlegten.4 Auch das Portal kununu.com, auf dem Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz bewerten können, stellt in einer groß angelegten Studie mit 300.000 Arbeitnehmern fest: „Generell gehört das Vorgesetztenverhalten zu jenen Faktoren, die Arbeitnehmer am schlechtesten bewerten.“5
Ein Teufelskreis
Der Teufelskreis ist einfach zu beschreiben: Unterdrückung führt zu niedrigem Engagement bei den Mitarbeitern, während niedriges Engagement weitere Unterdrückung durch die Vorgesetzten nach sich zieht. Warum schaffen es nur wenige Manager, diesen Teufelskreis zu durchbrechen? Offensichtlich gibt der wirtschaftliche Erfolg diesem im Grunde menschenverachtenden System (noch) Recht.
Aber es bröckelt: In der Corona-Krise hat sich gezeigt, dass das sich rasant ausweitende Modell ‚Home Office‘ nur dann funktioniert, wenn der Teufelskreis durchbrochen wird. Vorgesetzte müssen, ob sie wollen oder nicht, ihren Mitarbeitern vertrauen, wenn der Arbeitsplatz vom Büro in die eigene Wohnung verlegt wird. Die klassische Kontrolle hat hier ausgedient! Und gerade auch die jungen Mitarbeiter, die „Digital Natives“, fordern zunehmend eine zeitgemäße Mitarbeiterführung. Von der Jugend ausgehende Bewegungen wie ‚Fridays for Future‘ sind ein Nährboden für weitere Anforderungen: Von Unternehmen und Vorgesetzten wird zunehmend erwartet, dass ihre Handlungen in Einklang mit der Umwelt gebracht werden und der Forderung nach Nachhaltigkeit genügen. Außerdem stehen bei den jungen Leuten nicht, wie in früheren Generationen üblich, Geld und Status im Mittelpunkt. Vielmehr können „Unternehmen mit Sinnhaftigkeit und Wertschätzung bei der Generation Z punkten“, sagt der 25-jährige Unternehmensberater Philipp Riederle, der Unternehmen hilft, Mitarbeiter der Generationen Y und Z besser zu verstehen.6
Tatsächlich fordert die herrschende Betriebswirtschaftslehre, an der sich die meisten Vorgesetzten orientieren dürften, implizit zur Unterdrückung, zur Ausbeutung und zur Abzocke, ja sogar zu Geiz und Gier auf! Es ist an der Zeit, die negativen Werte, die diesem Fach traditionell zu Grunde liegen, aufzudecken.7
Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass ein Großteil aller Mitarbeiter in Deutschland ‚Dienst nach Vorschrift‘ schiebt, wie das Internetportal personalwirtschaft.de feststellt: „Derzeit haben lediglich 15 Prozent der Beschäftigten in Deutschland eine emotionale Bindung zu ihrem Arbeitgeber. (…) 16 Prozent und damit fast sechs Millionen Beschäftigte haben gar keine emotionale Bindung zu ihrem Unternehmen und haben bereits innerlich gekündigt.“8
Das Gros derjenigen, die sich in Forschung und Lehre mit der Betriebswirtschaftslehre auseinandersetzen, behauptet zu Unrecht, dass diesem Fach kein Wertegerüst zu Grunde liegt; es handele sich angeblich um eine wertfreie Wissenschaft. Ohne die Fundamentalkritik Alfred Nobels an der Wissenschaftlichkeit dieses Fachs aufgreifen zu wollen, sei zumindest die angebliche Wertefreiheit in Frage gestellt. Der auch politisch einflussreiche tschechische Ökonom Tomáš Sedláček bemerkt dazu: „Es ist paradox, dass ein Gebiet, das sich vorwiegend mit Werten beschäftigt, wertfrei sein will.“9
Die der Betriebswirtschaftslehre impliziten Aufforderungen zur Gewinnmaximierung, zur Wettbewerbsorientierung und zum Wachstum sind alles andere als wertfrei! Wie nachfolgend zu zeigen sein wird, wirken sich gerade diese Leitbilder äußerst ungünstig auf das Mitarbeiter-Vorgesetzten-Verhältnis aus.
Das bisherige Leitbild: Unterdrückung
Statt eine ernsthafte Wertediskussion zu führen, tragen die Fachvertreter der betriebswirtschaftlichen Theorie weiterhin unbeirrt ihre ‚Lobgesänge‘ auf Gewinnmaximierung, auf Wettbewerbsorientierung und auf Wachstum vor. Das hat Konsequenzen für die Praxis: Viele Unternehmen folgen diesen falschen Leitbildern und setzen damit letzten Endes auf ein Gegeneinander, auf Kampf und auf Unterdrückung.
Eine auch in wirtschaftswissenschaftlichen Kreisen mittlerweile ernstgenommene Gegenbewegung macht erfreulicherweise Hoffnung: Die Rede ist von ‚New Work‘. Dieser Begriff geht auf den austro-amerikanischen Sozialphilosophen Frithjof Bergmann zurück.10 Dabei geht es um eine Arbeitswelt, in der sich der Mensch verwirklichen und seine Potenziale entfalten kann. „Die zentralen Werte des Konzepts von New Work sind die Selbstständigkeit, die Freiheit und die Teilhabe an der Gemeinschaft.“11 ‚New Work‘ besteht aus fünf Bausteinen:
1. Die Mitarbeiter werden in die Unternehmensentwicklung (Strategie) einbezogen.
2. Die Mitarbeiter legen ihre Leistungs- und Lernziele selbst fest; dazu gehört, dass sie die Arbeitszeit mit ihren operativen und kreativen Phasen selbst bestimmen.
3. Arbeitsorte, Arbeitszeiten und Arbeitsaufgaben wechseln (Flexibilität).
4. Moderne Bürokonzepte mit kreativen Work-Spaces und notwendigen Rückzugsräumen kommen zum Einsatz.
5. Es wird eine hierarchiearme, demokratische Führungskultur mit gleichwohl schnellen Entscheidungsprozessen angestrebt.12
Eine Arbeitswelt, in der sich Mitarbeiter verwirklichen und ihre Potenziale entfalten können, wird auch mit dem in diesem Buch vorgestellten Führungsmodell angestrebt. Während ‚New Work‘ die sichtbare, die technische und organisatorische Seite dieser neuen Arbeitswelt beschreibt, hilft das Modell ‚Faires Management‘ aktuellen und zukünftigen Führungskräften, den entscheidenden Hintergrund zu einem guten und erfolgreichen Miteinander zu liefern. Frederic Laloux hat mit seinem Buch „Reinventing Organizations“ ein Modell für die Entwicklungsstufen von Organisationen entwickelt. Die höchste Entwicklungsstufe bezeichnet er als „integrale, evolutionäre Organisation“. In seiner empirischen Untersuchung hat Laloux 12 Unternehmen gefunden, die diese Stufe vielleicht noch nicht vollständig erreicht haben, aber auf dem besten Weg dorthin sind bzw. waren. Diese Beispiele lassen erahnen, dass ‚New Work‘ nur eine von mehreren möglichen Ausprägungen dieser (aus heutiger Sicht) höchsten Evolutionsstufe darstellt. Nach Laloux weisen integrale, evolutionäre Organisationen die Merkmale Selbstführung, Ganzheit und evolutionärer Sinn auf.13
1.1 Führung: Eine Frage der Einstellung
Über erfolgreiche Führung ist bereits in Büchern und auf Veranstaltungen so viel geschrieben und gesagt worden, dass der Leser mit Recht eine Begründung für dieses Buch erwartet. In den Wirtschaftswissenschaften, in der Soziologie, in der Psychologie, in der Anthropologie und in der Philosophie ist Führung schon lange Gegenstand der Untersuchung, ohne dass dieses Thema erschöpfend behandelt wird. Jedes Jahr wartet mit neuen Erkenntnissen und neuer Literatur in den unterschiedlichsten Disziplinen auf. Wozu dient nunmehr dieser weitere Beitrag?
Zunächst einmal richte ich mich nicht an ein Fachpublikum oder an Spezialisten. Dies ist eher ein populärwissenschaftlicher Beitrag, der sich um einfache Sprache bemüht und kein Vorwissen voraussetzt. Andererseits verspreche ich keine Rezepte, denen nur noch die Anwendung folgen muss.
Darum dieses Buch!
Dieses Buch inspiriert zum Nachdenken. Es fordert zur eigenen Arbeit, zur eigenen Überprüfung, Veränderung und Entwicklung des Führungsverhaltens auf und zeigt, welche Aspekte dabei zu beachten sind.
Ich bin der grundlegenden Auffassung, dass Führung eine Frage der persönlichen Einstellung ist. Selbstreflexion und Selbstpositionierung sind notwendig, um ein individuelles, wirksames Führungsverhalten zu entwickeln.
Mein zentrales Anliegen besteht darin, die aktuellen und zukünftigen Vorgesetzten in ihrer positiven Grundeinstellung zu ihren Mitarbeitern zu unterstützen und zu bestärken. Hierauf aufbauend wird es ihnen gelingen, ihre Mitarbeiter situationsgerecht, erfolgreich und mit Freude zu führen.
Gut oder böse? Etwas dazwischen!
Die Führungspraxis sieht, wie gezeigt wurde, eher düster aus. Gerade einmal einer von zehn Führungskräften wird ‚gute Führung‘ im Sinne eines ethisch einwandfreien, humanen Führungshandelns attestiert. Folgt man dem Grundgedanken des Führungskontinuums14, so kommt man zu dem Schluss, dass es auf der anderen Seite auch nur eine von zehn Führungskräften verdient, als wirklich ,schlecht‘ oder gar ,böse‘ bezeichnet zu werden. Zwischen diesen beiden Polen finden wir vielfältige Schattierungen, die sich allerdings, so bestätigt es die Gallup-Studie, tendenziell an dem inhumanen Pol zu orientieren scheinen. Spricht man solche Führungskräfte ‚aus der Mitte‘ auf inhumane Praktiken an, werden diese gern als selbstverständliche Notwendigkeiten attribuiert. Als Beispiele dienen einige der oft gehörten Ausflüchte:
• Wo gehobelt wird, da fallen Späne!
• Ein bisschen Druck hat noch niemandem geschadet!
• Nur unter großem Druck entstehen Diamanten!
• Man kann nicht immer Rücksicht nehmen!
• Wenn du nicht frisst, wirst du gefressen!
• Der Ehrliche ist der Dumme!
• Die anderen sind auch nicht besser!
• Der Erfolg heiligt die Mittel!
Mir ist klar, dass ich mit diesem Buch den Überzeugungstäter unter den ‚bösen‘ Managern kaum erreichen kann. Schlimmer noch: Mit einem ‚Bodensatz‘ böser Menschen im Management werden wir auch in Zukunft leben müssen, wenngleich es durchaus gelingen sollte, durch ein geeignetes Recruiting, das auch die ‚ethische Qualifikation‘ einbezieht, einen wichtigen Beitrag zum fairen Management zu leisten.
Orientierung?
Zu fragen bleibt aber vor allem, warum sich Manager ‚aus der Mitte‘, die sich weder als gut noch als böse bezeichnen würden, tendenziell stärker an Beispielen inhumaner Führung orientieren. Eine Schlüsselantwort darauf gibt die Enthüllung der fragwürdigen impliziten Werte der Betriebswirtschaftslehre. Damit verbinde ich die Hoffnung, dass sich die deutliche Mehrzahl der Manager ‚aus der Mitte‘ an den durchaus vorhandenen guten Beispielen orientiert und mit Hilfe der nun vorliegenden ‚Anleitung zum fairen Management‘ ein Führungshandeln entwickelt, das auf der Grundlage einer humanen Einstellung aufbaut und ethischen Ansprüchen genügt.
1.2 Aufbau des Buches
Ein Führungsmodell der Anständigkeit
Mit diesem Buch wird der Leser eingeladen, die impliziten Werte der Betriebswirtschaftslehre zu erkennen und zu überdenken. Ich setze dieser Orientierung ein Leitbild entgegen, das auf einem menschenorientierten Wertegerüst gründet. Dabei stehen die Begriffe Wertschätzung, Nachhaltigkeit, Erfüllung und Vertrauen im Mittelpunkt. Dieses Wertegerüst wird nicht jeder Leser exakt für sich übernehmen wollen, vielmehr stellt es eine Anregung dar, eine individuelle, positive und vor allem humane Einstellung zum unternehmerischen Handeln und den dort tätigen Personen (Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten) zu entwickeln.
Wertegerüst
Auf der Grundlage dieses Wertegerüstes wird sodann ein Führungsmodell entworfen, mit dem die praktische Umsetzung dessen, was Hans Küng in seinem gleichnamigen Buch mit „Anständig Wirtschaften“ bezeichnet, gelingen kann. In diesem Führungsmodell werden in Anlehnung an Fredmund Maliks Werk „Führen, Leisten, Leben“ allgemein gültige Leitlinien, Aufgaben und Instrumente der Führung vorgestellt und vor dem Hintergrund des alternativen Wertegerüstes diskutiert.
Die vorzustellenden Leitlinien sollen im Sinne von Leitplanken dafür sorgen, die eigene humane Einstellung abzusichern. Immer wieder gerät man in Situationen, in denen der ‚innere Schweinehund‘ zu einem Verhalten rät, das mit einer humanen Führung nicht vereinbar ist. Die Leitlinien der Führung leisten einen wichtigen Beitrag, nicht in konventionelle, auf Unterdrückung setzende Einstellungen zurückzufallen.
Mit den Aufgaben der Führung wird die eigentliche Zuständigkeit eines Vorgesetzten beschrieben. Dabei kommt es nicht darauf an, möglichst viele Aufgaben an sich zu reißen, sondern die wenigen Aufgaben zu erkennen, die mindestens von einem Vorgesetzten wahrzunehmen sind. Schließlich wird mit einer detaillierten Beschreibung von geeigneten Führungsinstrumenten praxisnah gezeigt, wie die Führungsaufgaben im Sinne eines humanen Managements umgesetzt werden können.
Der Darstellung des Führungsmodells folgt ein Kapitel über die ‚Eckpfeiler‘ einer guten Führung: Die dort formulierten ‚Anstandsregeln‘ runden das Bild fairer Führung nicht nur ab, sondern diese geben auch Hinweise darauf, wie faires Führungshandeln gemessen werden kann.
Gegen den ,Mainstream‘?
Ein Einwand drängt sich vorab geradezu auf: Wenn sich doch die meisten aktuellen Manager (wohl mehrheitlich unbewusst) an einem eher inhumanen, dunklen Leitbild orientieren, ist es dann besonders klug und erfolgversprechend, gegen den ,Mainstream‘ einen alternativen Ansatz zu wählen und ,anständig‘ zu wirtschaften und zu führen? Dieser in vielen Gesprächen immer wieder gestellten Frage soll in den letzten beiden Kapiteln begegnet werden.
Gängige Managementkonzepte und humane Führung
Mit einer Einordnung gängiger Managementkonzepte wird verdeutlicht, dass es in der Praxis durchaus bereits Muster gibt, die wichtige Bestandteile einer humanen Führung aufgreifen. Dazu gehören zum Beispiel die Konzepte ‚Wissensmanagement‘, ‚Change Management‘ sowie das Streben nach ‚Agilität‘ und einer ‚positiven Fehlerkultur‘. Andererseits ist in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuweisen, dass überaus bekannte und in der Praxis weit verbreitete Konzepte wie ‚Lean Management‘ und ‚Qualitätsmanagement‘ einer humanen Führung eher im Wege stehen.
Anhand von Fallbeispielen wird abschließend gezeigt, dass dieser alternative Ansatz der konventionellen, auf Unterdrückung ausgelegten Führungspraxis mindestens ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen ist, auch mit Blick auf den wirtschaftlichen Erfolg. In jedem Fall bringt dieser Ansatz mehr Freude in das Leben aller Beteiligten.