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DIE KLEINE DRINA




„Es war eine ziemlich melancholische Kindheit “

… VICTORIA …

Am 28. April 1819 erreichte ein in Amorbach in Franken aufgebrochener Konvoi von 20 staubbedeckten Kutschen und Wagen nach 30-tägiger Fahrt die Auffahrt des Kensington Palace in London. Die Reise war ein Rennen gegen die Zeit gewesen, denn es ging darum, dass der erste legitime Nachkomme eines Sohnes von George III auf englischem Boden zur Welt kam.

Die zukünftigen Eltern waren Edward, Herzog von Kent, viertältester der vier Söhne von George III, und seine Gattin Marie Louise Victoire, vor ihrer Heirat Prinzessin des deutschen Herzogtums Sachsen-Coburg-Saalfeld. Das Paar hatte bisher in eher bescheidenen Verhältnissen in Amorbach gelebt, denn der Herzog hatte nach seinem Ausscheiden aus der Armee nur Schulden angehäuft.

Der tragische Tod von Prinzessin Charlotte von Wales (Nichte des Herzogs und Schwägerin der Herzogin) hatte in ihnen die Hoffnung auf ein besseres Leben aufkeimen lassen. Falls der Herzog seine älteren kinderlosen Brüder überlebte, würde er eines Tages König sein. Und das Kind, das seine Frau erwartete, würde bei der Geburt den fünften Rang in der Thronfolge einnehmen.


Im Jahr 1819 war der Herzog von Kent 50 Jahre alt. Wild entschlossen, zu heiraten und einen Erben zu zeugen, hatte er sich im Vorjahr von seiner langjährigen französischen Geliebten Madame St. Laurent losgesagt, sie mit einer großzügigen Pension bedacht, damit sie keine Schwierigkeiten machte, und war auf Brautschau gegangen. Er war sich darüber im Klaren, dass seine Heirat mit Victoire von Sachsen-Coburg alles andere als ideal war, da sie im Rang unter ihm stand und eine Witwe mit zwei Kindern war. Doch war dem Herzog sehr daran gelegen, seinen Anspruch auf den Thron zu untermauern, indem er ein respektabler Familienvater wurde.


In The London Gazette wird die Geburt der kleinen Prinzessin verkündet.

Trotz der anstrengenden Reise gebar die Herzogin von Kent am 24. Mai um 4.15 Uhr ein hübsches, blondes und rundliches Mädchen. Das Baby sah dem Vater bemerkenswert ähnlich und hatte von ihm die großen blauen Augen der Hannoveraner geerbt. Die Geburt löste einen landesweiten Seufzer der Erleichterung aus, denn sie fiel mit einem der Wahnsinnsanfälle von George III zusammen, unter denen dieser während der Regentschaft seines unbeliebten Sohnes George, des späteren George IV, litt.


„Schön und dick“ – Victoria als Säugling.

Die Herzogin von Kent hatte sich geweigert, den Beistand eines männlichen Arztes in Anspruch zu nehmen, und sich bei der Geburt stattdessen von der deutschen Frauenärztin Charlotte von Siebold betreuen lassen, einer der ersten Frauen in Europa, die einen medizinischen Abschluss erreicht hatte. Von Siebold verkündete Victorias Geburt den Würdenträgern, die sich im Vorzimmer eingefunden hatten, um das Ereignis zu bezeugen. Unter ihnen war der Herzog von Wellington, der die Hebamme nach dem Geschlecht des Kindes fragte.

„Ein Mädchen“, antwortete die Ärztin und fügte hinzu: „Ein sehr hübsches Baby. Nicht groß, aber dick. Wenig Knochen, viel Speck.“

Nur drei Monate später half die der Familie sehr verbundene Charlotte von Siebold einem weiteren Baby auf die Welt, diesmal auf Schloss Rosenau bei Coburg: dem Sohn von Ernst von Sachsen-Coburg-Saalfeld, Bruder der Herzogin von Kent und Cousin der kleinen Prinzessin. Von Anfang an hegte Auguste Herzogin von Sachsen-Coburg, Großmutter der beiden Säuglinge, den Plan, dass ihr lieber Enkelsohn Albert und ihre entzückende Enkeltochter eines Tages heiraten sollten. In ihrem Wohnsitz in Ebersdorf schrieb sie begeistert über den kleinen Albert: „Was für einen charmanten Begleiter würde er doch für die hübsche Cousine abgeben.“ Ein sehr langfristig angesetztes Eheanbahnungsprojekt nahm seinen Lauf.


Der junge Prinz Albert, Victorias Cousin und späterer Prinzgemahl.

PRINZESSIN CHARLOTTE


„Sie hätte gerettet werden können, wäre sie nicht bereits derart geschwächt gewesen.“

… VICTORIA …

Die 1796 geborene Charlotte war das einzige Kind des Prinzregenten George und seiner Gattin Caroline von Braunschweig, und damit bis zu ihrem Tod einziges legitimes Enkelkind von König George III Die warmherzige junge Frau sollte durch eine Heirat mit Prinz Wilhelm von Oranien eine vorteilhafte dynastische Verbindung eingehen, suchte aber verzweifelt nach einer Alternative. Nachdem sie Leopold von Sachsen-Coburg-Saalfeld kennengelernt hatte, bat sie ihren Vater, diese Ehe zu erlauben. Alexander I. von Russland unterstützte sie, indem er Prinz Wilhelm die Hand seiner eigenen Schwester Anna anbot, und Charlotte und Leopold durften 1816 heiraten. Das Paar schien glücklich zu sein und war beim Volk beliebt. Die 1817 verkündete Nachricht von der Schwangerschaft der Prinzessin löste großen Jubel aus.

Die von Natur aus gesunde Charlotte wurde durch die ihr in der Schwangerschaft verordneten Diäten und Aderlässe allzu stark geschwächt. Nachdem sie zwei Tage lang in Wehen gelegen hatte, gebar sie am 5. November 1817 ein totes Kind und verblutete kurz darauf. Als sie starb, rief das große Bestürzung hervor und galt als nationale Katastrophe, da der Tod zweier potenzieller Thronerben die Monarchie in die Krise stürzen könnte. Nun begann unter den noch lebenden Söhnen von George III eine besondere Art von Wettrennen: Jeder von ihnen versuchte, Thronerben zu zeugen. Adelheid, Gattin des Herzogs von Clarence (der zukünftige William IV), verlor zwischen 1819 und 1822 alle ihre vier Babys.

Nachdem er seine Frau und sein Kind verloren hatte, machte es sich Leopold zur Lebensaufgabe, seine Nichte Victoria auf das Amt vorzubereiten, das eigentlich Charlotte zugestanden hätte.


Prinzessin Charlotte, durch deren Tod Victoria in der Erbfolge nachrückte.


Der stolze Vater beschrieb die neugeborene Prinzessin mit den Worten „rundlich wie eine Wachtel“ und war unglaublich stolz auf sein kleines Mädchen, das er stets zu beschützen trachtete.

„Lassen Sie sie nicht fallen! Sie könnten eine Königin beschädigen!“, sagte er zum Bischof von Salisbury, als dieser kurz nach der Geburt zu Besuch kam und das Baby ungeschickt auf den Arm nahm. Der Herzog, der sich der Position seiner Tochter in der Erbfolge wohl bewusst war, verkündete, dass sie nach der großen Tudor-Monarchin Elizabeth genannt werden sollte. Dennoch nannte der Prinzregent George bei der Taufe den Namen Alexandrina, denn Pate des Kindes war Alexander I. von Russland, der im kürzlich überstandenen Krieg gegen Napoleon Verbündeter Großbritanniens gewesen war. Nach einer kurzen Pause fügte George den zweiten Vornamen Victoire hinzu. Die Prinzessin, die 1837 Königin werden sollte, wurde ihre frühe Kindheit hindurch von ihrer deutschen Mutter und Großmutter zärtlich „Maiblume“ genannt und ansonsten „Drina“ gerufen.

Auf das große Glück folgte ein tragisches Unglück: Im Januar 1820 erkältete sich der Vater bei einem Aufenthalt im Küstenort Sidmouth in Devon und starb in der Folge an Lungenentzündung. Seine letzten Worte waren ein Gebet: „Gott möge seine Frau und sein Kind schützen.“

Obgleich sie sich später kaum noch an ihren Vater erinnern konnte, sagte Victoria von sich: „Ich wurde dazu erzogen, mich selbst als Soldatenkind zu sehen.“ Sie entwickelte ein relativ verklärtes Bild der langen, insgesamt jedoch nicht besonders bemerkenswerten militärischen Karriere ihres Vaters und fühlte sich ihr Leben lang der Armee verbunden; und sie knüpfte immer wieder Beziehungen zu starken Vaterfiguren.

Sechs Tage nach dem Tod des Herzogs starb dessen Vater, König George III. In weniger als einer Woche war die kleine Drina dem Thron ein ganzes Stück nähergerückt.


Victorias Vater, der Herzog von Kent, vierter Sohn von George III.


Kensington Palace, in dem Victoria ihre Jugend verbrachte.

KENSINGTON PALACE

„Mein liebes altes Zuhause“

… VICTORIA …

Der ursprüngliche, 1661 am westlichen Rand des Hyde Park erbaute Kensington Palace war ein Herrenhaus aus roten Ziegeln im jakobinischen Stil und von einem Park mit Rosskastanien und Buchen umgeben. Das Königshaus erwarb das Anwesen 1689 für William III, weil dessen Asthma in der bisherigen feuchten Residenz Whitehall schlimmer geworden war. William ließ die Innenräume von Architekt Sir Christopher Wren neu gestalten. Königin Anne liebte den Kensington Palace so sehr, dass sie 1704 eine Orangerie errichten ließ; die schönen Gärten hatte der Landschaftsgärtner William Kent 1723 bis 1727 im Auftrag von George I angelegt.

In die eigentliche Erhaltung des Gebäudes wurde jedoch nur wenig investiert, und nach dem Tod Georges II diente es nicht länger als königliche Residenz.

Nachdem Buckingham House im Zentrum Londons fertig war, zog es George III vor, dort zu residieren, und Kensington Palace wurde zum Wohnsitz rangniederer Mitglieder des Königshauses. Dem Herzog von Kent wurden 1798 zwei Stockwerke des Gebäudes zugewiesen, und er richtete sie aufwändig mit neuen Polstermöbeln und Vorhängen ein. Die teuren Stoffe konnten jedoch wenig am düsteren Charakter der Räume ändern, und der Herzog musste ohnehin bald vor seinen Gläubigern ins Ausland fliehen.

Als Victoria geboren wurde, war der einzige Bewohner von Kensington Palace ihr exzentrischer Onkel, Augustus Herzog von Sussex. Später erinnerte sie sich:

Im Mittelpunkt meiner frühesten Erinnerungen steht Kensington Palace, wo ich auf einem eigens für mich ausgebreiteten, gelben Teppich herumkrabbelte. Man sagte mir, wenn ich unartig sei und weinte, würde mein Onkel Sussex mich bestrafen. Deshalb schrie ich jedes Mal vor Angst, wann immer ich ihn sah.

VICTORIAS ERINNERUNGEN AN IHRE FRÜHE KINDHEIT, AUFGESCHRIEBEN 1872

Onkel William und Tante Adelaide schicken der lieben kleinen Victoria herzliche Grüße und Glückwünsche zu ihrem Geburtstag und hoffen, dass sie nun, da sie drei Jahre alt ist, ein sehr braves Mädchen sein wird. Onkel William und Tante Adelaide bitten die kleine Victoria auch, der lieben Mamma und der lieben Sissi in ihrem Namen einen Kuss zu geben, und auch der großen Puppe. Onkel William und Tante Adelaide bedauern sehr, an diesem Tag abwesend zu sein und ihre liebe, liebe Victoria nicht besuchen zu können, aber sie sind sicher, dass Victoria an diesem Tag sehr artig sein und der lieben Mamma gehorchen wird. Außerdem hoffen sie, dass die liebe kleine Victoria sie nicht vergisst und wieder erkennt, wenn Onkel und Tante zurückkehren.“

BRIEF DER HERZOGIN VON CLARENCE AN PRINZESSIN VICTORIA, 24. MAI 1822

Mein liebster Onkel – ich wünsche Ihnen viele glückliche und gesunde Jahre. Ich denke sehr oft an Sie und hoffe, Sie bald wiederzusehen, weil ich Sie sehr gern hab. Ich sehe meine Tante Sophie häufig. Ich benutze jeden Tag Ihren hübschen Suppenteller. Ist es in Italien sehr warm? Hier ist es so mild, dass ich jeden Tag nach draußen gehe. Ihre Sie liebende Nichte Victoria.

PS:Ich bin sehr böse auf Sie, Onkel, denn seit Ihrer Abreise haben Sie mir kein einziges Mal geschrieben, und diese ist schon lange her.

BRIEF VON PRINZESSIN VICTORIA AN PRINZ LEOPOLD, 25. NOVEMBER 1828

Die meiste Zeit verlief der Alltag in Kensington Palace ruhig und ereignislos:

Wir lebten ein sehr einfaches Leben: Um halb neun gab es Frühstück, um halb zwei Mittagessen, um sieben Abendessen, und zu Letzterem aß ich stets (wenn gerade keine große Abendgesellschaft gegeben wurde) Brot mit Milch aus einer kleinen Silberschüssel. Tee durfte ich erst später, und auch dann nur zu besonderen Gelegenheiten, trinken.

~VICTORIAS ERINNERUNGEN AN IHRE FRÜHE KINDHEIT, AUFGESCHRIEBEN 1872

Der Herzogin war es ein wichtiges Anliegen, ihre Tochter vor den schädlichen Einflüssen bei Hof und ihren gierigen Hannoveraner Onkeln zu schützen. Sie ließ Drinas kleine chintzbezogene Wiege neben ihr eigenes Bett stellen. „Ich wurde auf sehr schlichte Weise aufgezogen. Ich bekam mein erstes eigenes Zimmer erst, als ich schon fast erwachsen war, und schlief im Zimmer meiner Mutter, bis ich den Thron bestieg“, schrieb Victoria später.

Auf der anderen Seite des Bettes der Herzogin schlief Feodora, ihre Tochter aus erster Ehe. Drina, die nur sehr wenige handverlesene Spielkameraden hatte, hing sehr an ihrer Halbschwester. Feodora verwöhnte sie, holte sie morgens oft in ihr eigenes Bett und zog sie gern in einem Handwagen über die Gartenwege. Doch weil Victoria so sehr im Mittelpunkt stand, wurde Feodora wenig beachtet; sie selbst bezeichnete sich später als „scheue Zuschauerin“ im Leben ihrer umso vieles wichtigeren Schwester.

Victoria liebte Feodora heiß und innig: „Meine allerliebste Schwester war mir Freundin, Schwester und Spielgefährtin, in all unseren Gefühlen und Vorlieben stimmten wir so sehr überein“, schrieb sie später, und es verletzte sie, dass „Fidi“, wie sie die Halbschwester nannte, so wenig Aufmerksamkeit abbekam. „Warum ziehen so viele Herren vor mir den Hut, aber nicht vor Feodora?“, fragte sie einmal.


DIE HERZOGIN VON KENT

– VICTORIAS MUTTER –

„Es ist, als hätte man einen Feind im Haus“

… VICTORIA …

Die Herzogin von Kent kam 1786 als Marie Louise Victoire, Tochter des Herzogs von Sachsen-Coburg-Saalfeld und seiner Frau Auguste zur Welt. Sie war die Schwester von Leopold I., König von Belgien, und Ernst I., Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha, Vater von Prinz Albert. Im Alter von 17 Jahren heiratete Victoire den 23 Jahre älteren Emich Carl, 2. Fürst zu Leiningen, dem sie zwei Kinder schenkte: Karl 1804 und Feodora 1807. Nach dem Tod ihres Gatten machte ihr ehrgeiziger Bruder Leopold sie mit dem unverheirateten Herzog von Kent bekannt, der darauf aus war, einen Erben für den britischen Thron zu zeugen. Auf dem Papier bedeutete diese Ehe für Victoire einen gesellschaftlichen Aufstieg; tatsächlich aber war das kurze Zusammenleben mit dem Herzog von finanzieller Not und der endlosen, sie quer durch Europa führenden Flucht vor den Gläubigern geprägt. Der plötzliche Tod des Herzogs 1820 ließ Victoire arm und gesellschaftlich isoliert zurück, bis Leopold, der seine Nichte auf dem britischen Thron sehen wollte, ihr eine jährliche Apanage gewährte.

Die Herzogin hatte am britischen Hof weder Freunde noch Verbündete, und der König konnte sie nicht leiden. Sie kapselte sich mit ihrer Tochter im Kensington Palace vom Hof ab und geriet dabei zunehmend unter den Einfluss des Nachlassverwalters Sir John Conroy, der sie anstachelte, sich um die Regentschaft zu bemühen. Victorias Onkel, William IV, war diesem Ansinnen derartig abgeneigt, dass er es mit schierer Willenskraft schaffte, so lange am Leben zu bleiben, bis Victoria im Mai 1837 mit ihrem 18. Geburtstag ihre Volljährigkeit erreichte.

Sobald sie Königin geworden war, verbannte Victoria ihre Mutter aus ihren Privaträumen, und erst viel später und durch Vermittlung von Prinz Albert söhnten sich die beiden Frauen miteinander aus.

CATHERINE H. FLEMMING SPIELT DIE HERZOGIN.

„Angesicht der politischen Strategien, in deren Mittelpunkt die junge Victoria stand, wollte ihre Mutter verhindern, dass ihre Tochter den falschen Weg einschlug. Conroy war der Einzige, dem die Herzogin vertraute. Sie lebte am Hof, wo sie weder Freunde noch Verbündete hatte. Zu den erlauchten Kreisen dort fand sie keinen Zugang. Sie war eine Außenstehende, die alles genau beobachtete, um ihre Tochter zu schützen.“

Als Drina vier Jahre alt wurde, stellte die Herzogin auf Anraten des Nachlassverwalters Sir John Conroy einen Erziehungsplan auf, der später die Bezeichnung „Kensington System“ erhielt. Conroy war zuvor persönlicher Assistent des Herzogs von Kent gewesen und nach dessen Tod zum Verwalter seines Nachlasses ernannt worden. Indem das kleine, beeinflussbare Kind gezielt von der Außenwelt abgeschirmt wurde, sollte Victorias Loyalität der Mutter gegenüber erhalten und sichergestellt werden, sodass die Prinzessin ihren Anspruch auf den Thron nicht gefährdete. Außerdem strebte die Herzogin an, selbst zur Regentin ernannt zu werden, falls Victoria die Krone erbte, bevor sie mit 18 Jahren volljährig wurde.

Conroy und der Herzogin war es wichtig, Victoria zu kontrollieren und zu verhindern, dass der König sie als seine Erbin zu sich an den Hof holte. Doch indem sie dem kleinen Mädchen eine strenge Isolation aufzwangen, sorgten sie auch dafür, dass sich dessen Liebe in Groll und schließlich in Hass verwandelte.

Drinas Tagesablauf wurde streng bewacht und aufgezeichnet. Nach dem Frühstück wurde sie hinaus in den Garten gebracht. Hier durfte sie bis zehn Uhr auf ihrem Esel reiten oder in einer kleinen Ponykutsche herumfahren. In den folgenden zwei Stunden erhielt Drina Unterricht von ihrer Mutter und Baronin Louise Lehzen (die ursprünglich Fidis Gouvernante gewesen war und 1824 zu Drinas Hilfsgouvernante ernannt worden war). Die Kinderschwester Mrs Brock, „liebe Boppy“ genannt, stellte für zwei Uhr ein einfaches Mittagessen zusammen. Danach gab es wieder zwei Stunden Unterricht, um vier durfte Drina hinaus in den Garten. Um sieben gab es Brot und Milch zum Abendessen, um neun Uhr abends wurde das Kind ins Bett gesteckt. Tag und Nacht wurde es bewacht und vor allen nur denkbaren Gefahren geschützt. Drina durfte nicht einmal allein die Treppe hinauf- und hinuntergehen.


Die junge Victoria.

Als Drinas reguläre Schulausbildung begann, warnte ihre Mutter den Privatlehrer Reverend George Davys: „Ich fürchte, Sie werden feststellen, dass mein kleines Mädchen sehr dickköpfig ist, denn die Damen des Hauses verwöhnen es.“ Später gab die Königin selbst zu, im Schulunterricht nicht besonders eifrig gewesen zu sein, und gestand: „[Ich] sabotierte bis zum Alter von fünf Jahren jeden Versuch, mir die Buchstaben beizubringen; erst dann gestattete ich, dass sie [auf ein vor mir liegendes Blatt Papier] geschrieben wurden.“

Davys war beauftragt worden, Drina das Alphabet und die Redekunst nahezubringen. Zudem sollte er den harten deutschen Akzent abschleifen, den die Prinzessin von ihrer Mutter übernommen hatte. Auch Feodora half der Halbschwester beim Schreibenlernen und beim Verfassen der ersten, explizit formulierten Briefe, wie diesen an Reverend Davys:

SEHR GEEHRTER HERR, ICH WERDE DIE BUCHSTABEN NICHT VERGESSEN UND SIE AUCH NICHT.

~VICTORIA

Lektüren waren ein wichtiger Bestandteil des Lehrplans. Gelesen wurden vor allem die Bibel und zahlreiche religiöse Texte, gelegentlich Gedichte und nur sehr selten Romane. Mr Stewart kam zweimal pro Woche von der Westminster School herüber, um mit Drina Rechnen und Schreiben zu üben. Madame Bourdin unterwies das Mädchen in Tanz, Haltung und Benehmen. Mr Bernard Sale von der Chapel Royal förderte Drinas musikalisches Talent und ihren Gesang. Ihr Reitlehrer Mr Fozard sorgte dafür, dass sie eine geschickte Reiterin wurde, während sich Richard Westall von der Royal Academy um ihr zeichnerisches Talent kümmerte. Französisch lernte Drina bei Monsieur Grandineau und Deutsch bei Reverend Henry Barez. Später kamen noch Latein und Italienisch hinzu.


Vielleicht noch wichtiger als all diese Kenntnisse und Fertigkeiten war die Unterweisung in moralischen Dingen: Drina sollte stets ehrlich, pünktlich und bescheiden sein und sich viel an der frischen Luft bewegen. Bei jedem Wetter war sie in den Kensington Gardens unterwegs und ritt dabei oft auf ihrem weißen Esel Dickey, der ein Geschenk des Herzogs von York war. Das am Kopf mit blauen Bändern geschmückte Tier wurde von einem alten Soldaten geführt, der einst unter dem Vater der Prinzessin gedient hatte. Wann immer Drina den Palast verließ – oft an der Hand von Feodora – begrüßte sie freundlich lächelnd jeden, dem sie begegnete.

Im Alter von elf Jahren war sie eine vollendete junge Dame und ihren Altersgenossen in vielem voraus. „Ein sehr einfühlsames Kind“, wie Reverend Davys fand. Sie war spontan und großzügig, konnte aber auch sehr eigensinnig sein. Das Behaviour Book, in dem all ihre kleinen Sünden notiert wurden, hielt fest, sie sei bei einer Gelegenheit „sehr, sehr, sehr furchtbar unartig“ gewesen.

Königin Victoria erklärte später: „Ich war von Natur aus sehr temperamentvoll, hinterher aber immer sehr zerknirscht.“ Zu ihren großen Stärken zählte dagegen Ehrlichkeit wie aus vielen, oft überraschend naiven Äußerungen in ihren Tagebüchern hervorgeht.

Feiertage und Sommerferien verbrachte Drina in den 1820er-Jahren in Ramsgate und anderen englischen Badeorten. Hier ritt sie auf ihrem Esel am Strand entlang und durfte gelegentlich mit den Kindern adeliger Familien spielen. Noch mehr als diese Ausflüge liebte das Mädchen die Besuche bei ihrem Onkel Leopold, dem Bruder ihrer Mutter. „Claremont stellt die strahlendste Epoche meiner ansonsten ziemlich melancholischen Kindheit dar“, schrieb die Königin später. Zusammen mit Feodora wohnte sie oft wochen-bis monatelang in seinem Herrenhaus bei Esher in Surrey und spielte vergnügt in dessen weitläufigem Park.


Prinzessin Victoria in Kensington Gardens.

Gut 20 Jahre später erinnerte Feodora in einem Brief daran, wie viel wohler sich die beiden Mädchen in Claremont als in Kensington gefühlt hatten:

Wenn ich an jene Jahre zurückdenke, die Jahre zwischen 14 und 20, die eigentlich die glücklichsten in meinem Leben hätten sein sollen, kann ich nicht anders, als mich zu bedauern. Die Freuden der Jugend nicht genossen zu haben ist weniger hart, als von jeglicher Gesellschaft ferngehalten worden zu sein und keine einzige frohe Erinnerung zu besitzen. Glücklich war ich nur, wenn ich mit Dir und Lehzen ausging oder ausfuhr, denn dann durfte ich reden und sein, wie ich wollte.

~BRIEF FEODORAS, 1843

Drinas deutsche Großmutter Auguste von Sachsen-Coburg-Saalfeld schrieb all diese Jahre hindurch liebevolle Briefe, in denen sie sich nach dem Wohlergehen ihrer kleinen „Maiblume“ erkundigte. 1825 kam die 68-jährige Herzogin für zwei Monate zu Besuch. Darauf hatte sich Drina lange gefreut:

Ich erinnere mich an die Aufregung, die ich bei dieser Gelegenheit empfand, als ich die große Treppe hinunterging, um da zu sein, wenn sie aus der Kutsche ausstieg, und zu hören wie sie, als sie sich in ihrem Zimmer hinsetzte und ihre kleine Enkelin, die sie in ihren Briefen „Maiblume“ genannt hatte, aus ihren klaren blauen Augen anblickte und „Ein schönes Kind!“ nannte.

~VICTORIAS ERINNERUNGEN AN IHRE FRÜHE KINDHEIT, AUFGESCHRIEBEN 1872


Victorias Großmutter Herzogin Auguste.

Sie ging sehr gebeugt und am Stock und hielt sich dabei oft mit den Händen den Rücken. Sie machte lange Ausfahrten in einer offenen Kutsche, und ich wurde oft mitgeschickt, was mir, wie ich leider zugeben muss, keinen Spaß machte, weil ich, ebenso wie die meisten Kinder meines Alters, lieber herumlief. Sie war zu Kindern überaus freundlich, ertrug aber keine unartigen Kinder, und ich werde niemals vergessen, wie sie ins Zimmer kam […], als ich weinte und beim Unterricht unartig war, und mich sehr streng ausschimpfte, was auf mich eine sehr heilsame Wirkung hatte.

VICTORIAS ERINNERUNGEN AN IHRE FRÜHE KINDHEIT, AUFGESCHRIEBEN 1872

Auguste war von ihrer geliebten Enkelin hingerissen, schrieb über sie begeisterte Briefe nach Hause und bezeichnete sie als „für ihr Alter unglaublich weit entwickelt“. Sie habe noch nie „ein derart aufmerksames und mitteilsames Kind“ gekannt.

„Kleine Maus ist charmant: Sie ist ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, sie hat dieselben lustigen Augen und dasselbe Lausbubenlachen. Sie ist kräftig, kerngesund und anschmiegsam – ich würde beinahe sagen: zuvorkommend –, behände, selbstsicher und anmutig in all ihren Bewegungen.“ […] „Wenn ich nicht korrekt [Englisch] spreche, sagt sie sehr leise: ‚Großmama muss sagen …’ und erklärt mir dann, wie man es richtig sagt. Einer solch angeborenen Höflichkeit und Aufmerksamkeit, wie dieses Kind sie besitzt, bin ich zuvor noch nie begegnet.“

~BRIEF AUGUSTES, 6. AUGUST 1825

Allerdings empfand Auguste auch eine gewisse Besorgnis, weil Drina „ein bisschen zu viel isst und beinahe immer ein bisschen zu schnell“. Auch fand sie das Kind für sein Alter ein wenig zu klein. Andererseits erkannte die Großmutter als eine der Ersten besondere Eigenschaften an dem Mädchen, darunter auch eine, die die zukünftige Königin ihr Leben lang bewahrte: „Wenn sie einen Raum betritt und die Anwesenden gemäß dem englischen Brauch durch Neigen des Kopfes grüßt, wirkt sie erstaunlich majestätisch.“

Im Februar 1828 verließ die mittlerweile 18-jährige Feodora England, um den wesentlich älteren Ernst I. zu Hohenlohe-Langenburg zu heiraten, den sie kaum kannte. Für Drina war dies ein furchtbarer Schlag. Ihr einziger Trost waren Feodoras zahlreiche, liebevolle Briefe.

Wenn ich Flügel hätte und wie ein Vogel fliegen könnte, würde ich wie das kleine Rotkehlchen heute an Dein Fenster fliegen und Dir alles Gute zum Geburtstag wünschen und Dir sagen, wie sehr ich Dich liebe, kleine Schwester, und wie oft ich an Dich denke und mich danach sehne, Dich zu sehen. Wenn ich bei Dir wäre, könnte ich Dich wohl nicht allzu bald wieder verlassen. Ich würde bei Dir bleiben wollen, aber was würde dann der arme Ernst sagen, ließe ich ihn so lange allein? Vielleicht würde er versuchen, mir hinterherzufliegen, doch ist er dazu wohl leider allzu groß und schwer. So bleibt mir nichts übrig, als Dir zu schreiben und auf diesem Wege für dieses und für die vielen, vielen folgenden Jahre alles Glück und Freude zu wünschen. Ich hoffe, Du verbringst einen sehr lustigen Geburtstag. Wie gern wäre ich bei Dir, liebste Victoire, an diesem Tag!

BRIEF FEODORAS AN PRINZESSIN VICTORIA, MAI 1829


George I, erster König aus dem Haus Hannover.

DIE HANNOVERANER

„Ich bin auf meine Stuart-Vorfahren stolzer als auf die Hannoveraner.“

… VICTORIA …

Als Victoria Königin wurde, endete die lange Hannoveraner Herrschaft, die 1714 begonnen hatte, als George I, Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg („Kurhannover“), der kinderlos gestorbenen Königin Anne auf den Thron folgte. Eine junge Königin nach einer langen Reihe schlecht beleumundeter Könige erweckte viele Hoffnungen; die Hannoveraner hatten sich beim Volk nicht gerade beliebt gemacht. Die vier Georges und auch William hatten sich Mätressen und zahllose illegitime Kinder geleistet und galten als ungehobelte Dummköpfe, die dem Staat eine Vielzahl unnützer Kostgänger aufgezwungen hatten.

George II, Sohn von George I, zog sich durch die von ihm befohlene, brutale Niederschlagung des zweiten Jakobitenaufstands (1745–1746) den Hass der Schotten zu.

Die unruhige, 60 Jahre währende Regierungszeit Georges III war mit Skandalen, politischen Katastrophen und Anfällen von Wahnsinn gespickt. Dieser König, der ein treuer Gatte war und mit seiner Frau Caroline 15 Kinder zeugte, verlor 1783 die amerikanischen Kolonien und stritt sich unmäßig lange mit seinem Thronerben herum, der 1811 zum Regenten ernannt wurde, als sein Vater endgültig dem Wahnsinn verfiel.

Der 1820 gekrönte George IV war einerseits ein Ästhet und Kunstmäzen, andererseits aber auch ein fauler Lebemann, der sich von seiner Gattin Caroline von Braunschweig trennte und für seine extravagante Krönungszeremonie ein Vermögen vergeudete. Obgleich böse Zungen über das „schlechte Blut“ der Hannoveraner munkelten, mochte Drina ihren „Onkel König“, wie sie als Kind George IV nannte. Bei seinem Besuch 1826 erlebte sie ihn als „groß und gichtkrank, aber von wunderbar würdevoller und charmanter Art“. „Gib mir deine kleine Pfote“, sagte er zu ihr und hob sie zu sich in die Kutsche, und die kleine Prinzessin lachte über seinen Scherz.

Den letzten Hannoveraner König, ihren Onkel William IV, fand sie dagegen „sehr seltsam und eigenartig“. Dennoch schätzte sie ihn wegen seiner Freundlichkeit und weil er konsequent darüber wachte, dass sie auf ihre Rolle als Monarchin angemessen vorbereitet wurde. Mit ihrem Regierungsstil hob sich Victoria stark von ihren Vorgängern ab; äußerlich aber sah sie ihnen mit den leicht vorstehenden Augen, dem rundlichen Gesicht und dem fliehenden Kinn – Merkmale, die sie auch an ihre Kinder vererben sollte – erstaunlich ähnlich.


Im weiteren Verlauf der 1820er-Jahre wurde immer offensichtlicher, dass die kleine Drina einst den Thron erben würde. Ihr Onkel, Herzog Frederick von York, verstarb 1827, und durch den Tod König Georges IV im Juni 1830 rückte Drina auf den zweiten Platz der Thronfolge vor. Nun kam sie gleich nach ihrem Onkel, dem frisch gekrönten William IV. Großmutter Auguste formulierte es so:

„Gott schütze das gute alte England, wo meine geliebten Kinder leben und das die zarte Maiblume eines Tages regieren könnte. Möge Gott das Gewicht der Krone noch viele Jahre von ihrem jungen Haupt fernhalten, damit das intelligente, kluge Kind zur jungen Frau heranreifen kann, bevor diese gefährliche Ehre sie ereilt.“

~BRIEF AUGUSTES AN DIE HERZOGIN VON KENT, MAI 1830

In den folgenden sieben Jahren sollte sich zeigen, dass die kleine Drina den ihr bevorstehenden Herausforderungen mehr als gewachsen war.

Victoria

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