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ОглавлениеVOM KENSINGTON PALACE ZUM BUCKINGHAM PALACE
„In allem, was sie unternimmt, beweist sie großes Talent“
… HERZOGIN VON KENT …
Als Prinzessin Victoria elf Jahre alt und eine wesentlich gewissenhaftere Schülerin war als zuvor, soll sie eines Tages ihren Rang als Thronerbin entdeckt haben. Als sie im Beisein ihrer Gouvernante, der Baronin Louise Lehzen, einen Hofalmanach durchblätterte, entdeckte sie eine Tafel der britischen Erbfolge. In einem Brief, den Lehzen viele Jahre später an Victoria schrieb, erinnerte sie sich an die Worte der Prinzessin: „Das habe ich noch nie zuvor gesehen.“
„Es war auch nicht notwendig, dass Sie das sehen, Prinzessin“, erwiderte ich. – „Ich verstehe, dann bin ich dem Thron also näher, als ich dachte.“ – „So ist es, Madame“, bestätigte ich. – Nach einigen Augenblicken meinte die Prinzessin: „Manch ein Kind würde damit prahlen, ohne die Schwierigkeit zu erkennen. Es liegt viel Glanz darin, aber noch mehr Verantwortung!“ Die Prinzessin, die, während sie sprach, den Zeigefinger ihrer rechten Hand angehoben hatte, reichte mir ihre kleine Hand und sagte: „Ich werde gut sein!“
~BRIEF LOUISE LEHZENS AN VICTORIA, 2. DEZEMBER 1867
In den frühen 1830er-Jahren war Victoria bereits wesentlich gebildeter als andere in ihrem Alter. Nun begann die Ausbildung der zukünftigen Herrscherin. Als sie erfuhr, dass sie die designierte Thronfolgerin war, soll sie zu Lehzen gesagt haben: „Ich verstehe nun, warum Sie mich drängten, so viel zu lernen, sogar Latein.“ Tatsächlich war sie in der Lage, Virgil und Horaz zu lesen, und beherrschte die Sprache fließend.
Zu Victorias Entzücken erhielt sie ihre Gesangsstunden ab 1835 durch den irisch-italienischen Bassbariton Luigi Lablache. So begann eine lebenslange Liebe zur italienischen Oper.
Ich mag Lablache sehr, er ist ein so netter, gut gelaunter Mann und ein sehr geduldiger, hervorragender Lehrer, er ist auch so lustig (…) Meine Lektion hat mir extrem gut gefallen; ich wünschte, ich hätte jeden Tag eine, anstatt nur eine in der Woche.
VICTORIAS TAGEBUCH, 3. MAI 1836
Auch jetzt war Victoria für ihr Alter immer noch klein, was ihr große Sorgen bereitete, und der Herzog von Wellington störte sich an ihrem deutschen Akzent. Manche ihrer „gequälten Sätze“ hörten sich seiner Ansicht nach „besonders unerfreulich an, wenn sie von den Lippen einer englischen Prinzessin kommen“. Als sie das hörte, bekam Victoria einen Weinkrampf. Und ihr Onkel Leopold sorgte sich, die gute Esserin könnte zunehmen. Victoria schrieb ihm 1834 von einem Badeort aus: „Aus vielen Gründen wünschte ich, Sie könnten herkommen, auch damit Sie mit eigenen Augen meine äußerste Zurückhaltung beim Essen sehen könnten, die Sie sehr erstaunen würde.“
Um Victoria auf ihre Rolle als Königin vorzubereiten, ordnete König William IV an, dass eine englische Adelige, die Herzogin von Northumberland, seine Nichte gemeinsam mit Lehzen in Hofzeremoniell, Etikette und gesellschaftlichen Umgangsformen unterwies. Das änderte jedoch nichts an Victorias enger Beziehung zu ihrer Gouvernante.
Lehzen war und blieb ihre beste Freundin und engste Verbündete, was dazu führte, dass im Kensington Palace zwei Lager entstanden: das der Herzogin und Sir John Conroys auf der einen Seite und das von Victoria und Lehzen auf der anderen. Obgleich Sir John Conroy gelegentlich seine Tochter Victoire als Spielgefährtin für die Prinzessin mitbrachte, war Victoria die meiste Zeit mit ihren geliebten Puppen allein. Sie besaß Holzpuppen, Papierpuppen, Puppen aus Leder und teure Wachspuppen aus Berlin. Insgesamt waren es 132, über die sie in einem kleinen Heft sorgfältig Buch führte. Sie trug darin den Namen jeder einzelnen Puppe ein, die Person, für die sie stand, und die Schöpferin ihrer Kleidung, d. h. die Prinzessin selbst oder Baronin Lehzen.
Am liebsten mochte Victoria die einfachen Gelenkpuppen aus Holz. Sie waren zwischen sieben und 23 Zentimeter lang, mit „kleinen spitzen Nasen und rot bemalten Wangen“ und passten in ihr Puppenhaus. Ihre Kleidung war von den Bühnenkostümen echter Schauspieler, Opernsänger und Balletttänzer inspiriert und oft von der Prinzessin selbst genäht und bestickt. Sie konnte diese Puppen auf Holzbrettern mit Zapfen so aufstellen, dass sich mit ihnen Empfänge bei Hof und andere zeremonielle Anlässe nachspielen ließen.
Als Victoria 14 Jahre alt wurde, packte sie alle ihre Puppen weg, behielt diese Kiste aber sogar noch nach ihrer Krönung. Eine ihrer ersten Unterhaltungen mit ihrem späteren Favoriten Lord Melbourne drehte sich, wie Victoria notierte, „um meine frühere große Liebe zu Puppen“.
BARONIN
LOUISE LEHZEN
– VICTORIAS GOUVERNANTE –
„Die liebe Lehzen, die so viel für mich getan hat“
… VICTORIA …
Ebenso wie „Onkel Leopold“ zählte Louise Lehzen zu den wichtigsten Menschen in Victorias Kindheit. Die unattraktive Lehzen, eines von neun Kindern eines lutherischen Pastors, wurde im Alter von 35 Jahren zur Gouvernante von Feodora, der ältesten Tochter der Herzogin von Kent, ernannt und ging zusammen mit der Familie nach England. Ab 1824 mit der Erziehung Victorias betraut, wurde sie allmählich zu deren Freundin und Beraterin und stieg schließlich in den Rang einer Hofdame und Privatsekretärin auf. George IV belohnte sie 1827 mit dem Ehrentitel Baronin, doch leider stieg ihr dieser soziale Aufstieg zu Kopf. Sie gewöhnte sich eine überhebliche Art an, die viele Mitglieder des Haushalts abstieß, zumal sie aufgrund ihrer bürgerlichen Herkunft nie wirklich als Adelige angesehen wurde. Sie machten sich über sie lustig, allen voran Lady Flora Hastings, und lachten über die exzentrische Angewohnheit der Baronin, all ihre Speisen mit eigens aus Hannover bestelltem Kümmel zu bestreuen.
Ihre Aufgaben als Gouvernante erfüllte Lehzen äußerst gewissenhaft. Zwar konnte sie mitunter geradezu übertrieben kritisch sein und alles bemäkeln, doch verstand sie es, mit den Wutanfällen des kleinen Mädchens umzugehen. Vor allem aber leistete sie dem einsamen Kind Gesellschaft und spielte mit ihm. Am liebsten nähten die beiden Kleider für Victorias zahlreiche Puppen.
DANIELA HOLTZ SPIELT DIE BARONIN LEHZEN.
„Lehzen war Victorias einzige Vertraute. Die Baronin verriet ihren Schützling nie und ließ sich nie auf Intrigen ein. Lehzen war sich der Situation, in der sich Victoria als Königin befand, wohl bewusst, und sie beschützte die junge Königin, so gut sie konnte.“
In ihrer Kindheit boten sich Victoria nur wenige Ablenkungen von ihrem Leben im Kensington Palace. Gelegentlich durfte sie im Sommer nach Ramsgate ans Meer reisen und einmal, im Jahr 1830, für längere Zeit in den Kurort Malvern in Worcestershire. Auf dem Weg dorthin fuhren sie und die Herzogin durch die Midlands und durch Straßen, die von Leuten gesäumt waren, die ihnen zuwinkten. Bei kurzen Aufenthalten ließen sie sich das Glasblasen und das Prägen von Münzen vorführen und besuchten in Worcester eine Porzellanmanufaktur. Für die Prinzessin waren das seltene Begegnungen mit der britischen Arbeitswelt. 1833 durfte sie einmal Norris Castle auf der Isle of Wight besuchen, und im selben Jahr erlebte sie an ihrem 14. Geburtstag ihren ersten Ball bei Hof.
Um halb acht gingen wir zusammen mit Charles, dem Herzog von Northumberland, Lady Catherine Jenkinson, Lehzen, Sir George Anson und Sir John zu einem Ball für die Jugend, der vom König und der Königin mir zu Ehren in St. James’s veranstaltet wurde. […] Kurz nach dem Öffnen der Türen, führte mich der König in den Ballraum. Madame Bourdin war die Tanzmeisterin. Victoire war auch anwesend, ebenso wie viele bekannte Kinder. Bald darauf begann der Tanz. Ich tanzte zuerst mit meinem Cousin George Cambridge, dann mit Prinz George Lieven, dann mit Lord Brook […] Anschließend gingen wir um halb zwölf zum Souper. Wieder führte der König mich. Ich saß zwischen König und Königin. Wir erhoben uns bald vom Tisch. Ich hatte einen Schwips. Danach tanzte ich noch eine Quadrille mit Lord Paget, insgesamt acht Quadrillen. Um halb eins trafen wir zu Hause ein. Ich hatte mich sehr gut amüsiert. Bald darauf lag ich im Bett und schlief.
~VICTORIAS TAGEBUCH, 24. MAI 1833
Gesangsstunden, seltene Opern- oder Ballettbesuche und Ausritte verschafften ihr die ersehnte Abwechslung. Am meisten freute sie sich jedoch über Feodoras Besuch 1834 und 1835 über den Besuch ihres Onkels Leopold und ihrer Tante Louisa. „Was für ein Glück, mich in die Arme des liebsten aller Onkel zu werfen, der für mich stets wie ein Vater war und den ich so innig liebe!“, schrieb sie und betonte, wie angenehm seine Gesellschaft sei, während sie sich sonst im Kensington Palace „eingemauert“ fühlte. „Ich sehne mich so nach Fröhlichkeit“.
In dieser Zeit wuchs im Publikum das Interesse an der designierten jungen Thronfolgerin allmählich an. Victoria galt bald als so etwas wie ein Wunderkind. „Ihre Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu zeigen, erscheint für ihr Alter erstaunlich, ebenso wie ihr Gedächtnis. Phrenologen würden dies zweifellos auf ihre hervortretenden Augen zurückführen“, schrieb ein Zeitgenosse. Das begabte junge Mädchen erhielt nicht nur eine hervorragende Allgemeinbildung, sondern auch eine auf ihren temperamentvollen Charakter abgestimmte Erziehung, denn ihre Gouvernante Lehzen gestattete ihr nicht, „falsche Neigungen auszuleben, und verbot auch jene Eigensinnigkeit, der Kinder gern freien Lauf lassen, wenn sie das dürfen“.
Inzwischen beschäftigte sich das Parlament mit der schwierigen Frage, was zu tun sei, wenn König William IV starb, bevor Victoria volljährig wurde. Es wurde beschlossen, in diesem Fall ihre Mutter zur Regentin zu ernennen, die von nun an zusätzliche 10 000 Pfund für Victorias Unterhalt und Ausbildung erhielt. Obgleich man die überspannte Forderung, den Titel „Prinzessin-Witwe von Wales“ tragen zu dürfen, ablehnte, war sie dennoch dankbar: „Seit dem Verlust des Herzogs von Kent ist dies der erste glückliche Tag in meinem Leben.“ Auf die Fortschritte ihrer Tochter war sie sehr stolz:
In allem, was sie unternimmt, beweist sie großes Talent […] Das liebe Mädchen ist der Musik sehr zugetan, sie spielt bereits recht geschickt Klavier und verfügt über eine hervorragende Singstimme.
~HERZOGIN VON KENT
Nun, da Victoria ganz offiziell Kronprinzessin war, organisierte die Herzogin von Kent – vor allem wohl, um das eigene Ansehen zu steigern – etwas, das König William IV sarkastisch als „königliche Exkursionen“ bezeichnete und was dazu dienen sollte, die Prinzessin dem neugierigen Publikum vorzustellen. Diese öffentlichen Auftritte hatten auch den Zweck, die Herzogin selbst und Conroy stärker ins Zentrum des Interesses zu rücken. Ziel war eine gemeinsame Regentschaft, die bis zu Victorias 21. Geburtstag dauern und beiden den Wohlstand, die Macht und das Ansehen bringen sollte, nach denen sie sich so sehnten.
Als Victoria 13 Jahre alt wurde, fand Leopold, es sei Zeit, sie auf ihre wichtige Rolle vorzubereiten. Sie sei nun nicht länger eine kleine Prinzessin, schrieb er:
Dir muss nun bewusst werden, mein Liebling, dass Du Deine Aufmerksamkeit ernsteren Dingen zu widmen hast. Die Vorsehung wies Dir eine sehr wichtige Aufgabe zu, und es muss nun Dein Bestreben sein, sie gut zu erfüllen. Ein gutes Herz und ein vertrauenswürdiger und ehrenwerter Charakter zählen zu den unabdinglichen Voraussetzungen für jenes Amt.
Du wirst in Deinem Onkel stets jenen treuen Freund finden, der er seit Deiner frühesten Kindheit für Dich gewesen ist, und wann immer Du Unterstützung oder Rat benötigst, kannst Du Dich an ihn wenden.
~BRIEF LEOPOLDS AN VICTORIA, 22. MAI 1832
1834, nach einer weiteren Tour, die sie zuerst durch Kent und zu den Herrenhäusern in Knole und Penshurst, anschließend nach York und schließlich zur Pferderennbahn in Doncaster führte, schrieb Victoria einen herzlichen Brief an ihren Onkel Leopold, der 1832 erneut geheiratet hatte:
Mein liebster Onkel – Gestatten Sie mir, Ihnen ein paar Zeilen zu schreiben, um meiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen für den lieben Brief, den Sie mir schrieben. Dennoch machte es mich traurig zu lesen, dass unsere lang gehegten Hoffnungen, Sie dieses Jahr zu sehen, vergebens waren. Ich hatte mir so gewünscht, Sie wiederzusehen und die Tante Louisa kennenzulernen. Ich freue mich sehr, dass der lieben Tante die Seeluft und das Baden gut bekommen sind. Wir haben gestern einen sehr netten Ausflug zum Hever Castle gemacht, in dem einst Anne Boleyn lebte, bevor sie ihren Kopf verlor. Wir fuhren hin und ritten dann heim. Es war ein herrlicher Tag. Wir haben sehr gute Nachrichten von der lieben Feodora erhalten, die mittlerweile in Langenburg sein wird. Lassen Sie sich meiner Zuneigung versichert sein, liebster Onkel. Ihre pflichtbewusste Nichte Victoria.
BRIEF VICTORIAS AN LEOPOLD, 14. SEPTEMBER 1834
SIR JOHN CONROY
– VERWALTER DES HAUSHALTS DER HERZOGIN –
„Ein Monster und leibhaftiger Dämon“
… VICTORIA …
Sir John Conroy, geboren 1786, war in Victorias jungen Jahren eine beherrschende Figur. Der gut aussehende Ire kam 1818 als Stallmeister zum Herzog von Kent und erwarb die Gunst der Herzogin, die ihm nach dem Tod des Gatten das Amt eines Verwalters übertrug. König Wilhelm verachtete Conroy wegen seines Ehrgeizes und nannte ihn „König John“, da er lange Zeit glaubte, von königlicher Abstammung zu sein. Conroy verzehrte sich sein Leben lang danach, in den britischen Adel aufzusteigen. Seine Auszeichnung mit dem Guelphen-Orden durch George IV konnte diese Sehnsucht kaum befriedigen. Da sich die Herzogin stark von ihm beeinflussen ließ, war er maßgeblich an der Entwicklung des Kensington System beteiligt, das Prinzessin Victoria gegen unerwünschte Außenkontakte abschirmte. Doch die Macht stieg ihm zu Kopf, und er benahm sich im Kensington Palace, als wäre dieser sein eigenes Herrenhaus.
Der Herzogin gegenüber verhielt sich Conroy oft anmaßend, und gelegentlich machte er ihr unverhüllt Avancen. Dabei setzte er sich derartig über alle Gebote der Schicklichkeit hinweg, dass böse Zungen mutmaßten, Victoria sei in Wirklichkeit seine Tochter, und nicht die des Herzogs. Für diese Behauptung gibt es keinerlei Beweise. Mit Sicherheit aber machte sich Conroy die Labilität und Schutzlosigkeit der Herzogin zunutze und bevormundete sie in einer Art und Weise, die bei der jungen Victoria eine starke Abneigung gegen ihn hervorrief.
PAUL RHYS SPIELT SIR JOHN CONROY.
„Er war ein ehrgeiziger Selfmademan. Dass er aus einfachen Verhältnissen in eine derartige Machtposition aufsteigen konnte, sagt sehr viel über seine Intelligenz aus. Conroy war der Herzogin gegenüber sehr loyal. Er setzte sich stark dafür ein, dass die immer wieder an den Rand gedrängte Frau mehr Macht und einen prestigeträchtigeren Titel erhielt. Er war ein Kämpfer. Hätte er seine Energien und Talente für die Allgemeinheit eingesetzt, hätte er viel erreichen können.“
Am 31. Juli 1832, einen Tag vor dem Antritt einer dreimonatigen Reise nach Wales, blätterte Victoria die leeren Seiten des neuen Tagebuchs um, das ihre Mutter ihr soeben geschenkt hatte. Am folgenden Tag notierte sie pflichtbewusst: „Wir verließen K. P. um 6 Minuten nach 7“ und schrieb alle Orte auf, an denen sie die Pferde wechselten: Barnet, St. Alban’s, Dunstable, Stony Stratford. Die Straße war staubig, und es fing an zu regnen, doch Victoria genoss jede Minute der Reise und auch die „furchtbare Geschwindigkeit“ ihrer Kutsche.
Unterwegs hielt sie alle Einzelheiten fest: die Besuche in Powis Castle und Beaumaris Castle, dann die Rückfahrt über Anglesey und die Midlands. Wolverhampton war ihrer Ansicht nach eine „große und schmutzige Stadt“, in der sie allerdings „mit großer Freundlichkeit und Freude“ willkommen geheißen wurde. Bei einer durch den Pferdewechsel bedingten Pause in Birmingham bei starkem Regen bekam sie einen Eindruck von den schweren Lebensbedingungen in den Industriegebieten:
Wir fuhren vorhin durch eine Stadt, in der alle Kohlenminen liegen, und man sieht vielerorts in der Ferne Feuer in den Maschinen glühen. Männer, Frauen, Kinder, die Böden und Häuser – alles ist schwarz. Ich kann diesen eigenartigen Anblick gar nicht richtig beschreiben. Es sieht hier überall sehr trostlos aus, es liegen Kohlen herum, das Gras ist zertreten und schwarz […] Überall gibt es qualmende und brennende Kohlenhaufen, dazwischen elende Hütten, Karren und kleine, in Lumpen gekleidete Kinder.
~VICTORIAS TAGEBUCH, 2. AUGUST 1832
Bald darauf begeisterte sie sich an der Pracht der großen Herrenhäuser: Chatsworth („Ich würde Tage brauchen, müsste ich es in allen Einzelheiten beschreiben“), Hardwick Hall, Shugborough Hall, Alton Towers und Wytham Abbey.
Die jährlichen Rundfahrten wurden allerdings so anstrengend, dass Victorias Gesundheit darunter litt. Das stundenlange Geschaukel über Landstraßen verursachte Kopf- und Rückenschmerzen sowie Reiseübelkeit. Im September 1835 war Victoria nach einer kräftezehrenden Fahrt durch die Midlands, North Country und Norfolk derart erschöpft, dass sie in Ramsgate an Typhus erkrankte und fünf Wochen lang das Bett hüten musste. Lehzen sorgte dafür, dass Ärzte zugegen waren, und pflegte sie aufopferungsvoll wieder gesund.
Im Jahr 1837 war Victoria schon viel reifer und erwachsener geworden. Seit zwei Jahren pflegte sie einen ausführlichen Briefwechsel mit ihrem Onkel Leopold, in dem sie selbstsicher die Besonderheiten der konstitutionellen Monarchie, das Wirken des britischen Parlaments und die Weltpolitik erörterte, sich mit dem Onkel aber auch genüsslich über Familienstreitigkeiten und Intrigen in den europäischen Königshäusern austauschte.
Sei versichert, dass ich von Deinen ausgezeichneten politischen Ratschlägen profitiere. Lieber Onkel, hast du Lord Palmerstons Rede über die spanischen Angelegenheiten gelesen […]? Sie wurde sehr bewundert. Im Unterhaus wurde gestern Abend der irische Zehnt erörtert, und nun warte ich gespannt auf die Morgenzeitungen, um zu erfahren, was beschlossen wurde.
~BRIEF VICTORIAS AN LEOPOLD, 2. MAI 1837
Am 24. Mai 1837 feierte Victoria ihren 18. Geburtstag, der zum offiziellen Feiertag erklärt wurde. König William IV schenkte ihr einen wunderschönen neuen Flügel. Kensington Palace wurde mit Wimpeln geschmückt, und die Prinzessin wurde von dem Geburtstagschor im Garten geweckt. In ihr Tagebuch schrieb sie über diesen wichtigen Tag:
Wie alt! Aber wie weit ich doch noch davon entfernt bin, das zu sein, was ich sein sollte. Von diesem Tag an nehme ich mir fest vor, mit frischem Eifer zu lernen, meine Aufmerksamkeit auf das zu heften, was ich gerade tue, und mich zu bemühen, mit jedem Tag weniger leichtsinnig zu sein und bereiter für das, was ich, so der Himmel will, eines Tages sein werde.
~VICTORIAS TAGEBUCH, 24. MAI 1837
Als wir zum Ball fuhren, waren Hof und Straßen dicht gepackt mit Leuten, und dass es ihnen so wichtig war, meine bescheidene Wenigkeit zu sehen, berührte mich sehr und erfüllte mich mit dem Stolz, den ich stets empfinde, wenn ich über mein Land und die englische Nation nachdenke.
VICTORIAS TAGEBUCH, 24. MAI 1837
26th May 1837
. . . Die von allen Seiten kommenden Freundschaftsbeweise anlässlich meines Geburtstags waren höchst erfreulich. Den ganzen Tag lang waren Parks und Straßen voller Menschen, so als sei etwas ganz Außerordentliches geschehen. Gestern erhielt ich zweiundzwanzig Glückwunschadressen, die alle sehr nett und loyal waren; eine davon war ganz besonders gut geschrieben und stammte von Mr Attwood von der Political Union in Birmingham.
BRIEF VICTORIAS AN LEOPOLD, 26. MAI 1837
Ich vertraue Gott, dass er mich noch weitere neun Monate lang am Leben lässt. Denn in diesem Falle könnte ich die Ausübung der königlichen Macht auf jene junge Dame (Victoria) übertragen, die voraussichtliche Thronerbin, und nicht in die Hände einer anderen Person in meiner Nähe legen (die Herzogin), die von schlechten Ratgebern umgeben und selbst unfähig ist, in dem ihr dann aufzuerlegenden Amt angemessen zu handeln.
ÖFFENTLICHE REDE KÖNIG WILHELMS BEIM STAATSBANKETT, AUGUST 1836
17. Juni 1837
Mein geliebtes Kind,
. . . ich werde heute die Frage ansprechen, was zu tun ist, wenn der König nicht mehr lebt. In dem Augenblick, in dem Dir dies mitgeteilt wird, betraust Du Lord Melbourne mit der Aufgabe, das bestehende Kabinett im Amt zu bestätigen. Du wirst dies auf jene offene und freundliche Art tun, die Dir eigen ist, und ein paar nette Worte sagen. Tatsache ist, dass die derzeitigen Minister jene Männer sind, die Dir persönlich mit höchster Loyalität und, meiner Überzeugung nach, Zuneigung dienen werden. Für sie bist Du, wie für die Liberalen, die einzige Herrscherin, die ihnen dauerhafte Perspektiven bietet. Mit Ausnahme des Herzogs von Sussex gibt es in der Familie niemanden, der ihnen auch nur annähernd das bietet, was sie vernünftigerweise von Dir erhoffen können, und allein schon die Angst vor Deinem unmittelbaren Nachfolger, der mit dem Schnurrbart (der Herzog von Cumberland), wird sie dazu treiben, Dir sehr gewogen zu sein . . . In der belastenden Situation, in der Du gelebt hast, hast Du Dir Diskretion und Klugheit angewöhnt, und in Deiner Position kannst Du von beiden gar nicht genug haben . . .
BRIEF LEOPOLDS AN VICTORIA, 17. JUNI 1837
An jenem Abend fand im St. James’s Palace zu Ehren Victorias ein Ball statt, bei dem die Prinzessin zum ersten Mal den Vortritt vor ihrer Mutter hatte. König William lebte lange genug, um Victorias Volljährigkeit zu erleben. Zwar hofften die Herzogin und Conroy weiterhin auf die Regentschaft, doch hofften sie, zumindest Victorias Ansicht nach, vergeblich. Bereits im Juni aber lag der König im Sterben. Victoria schrieb an ihren Onkel Leopold:
Ich muss Dir leider mitteilen, dass der Zustand des Königs hoffnungslos ist. Er hält vielleicht noch ein paar Tage durch, wird sich aber nicht mehr erholen. […] Der arme alte Mann! Ich bedauere ihn; er war zu mir immer so freundlich, und ich wäre undankbar und gefühllos, würde ich das vergessen. Auf das, was sich anscheinend bald ereignen wird, warte ich gelassen. Es beunruhigt mich nicht, und doch glaube ich nicht, alldem gewachsen zu sein. Ich vertraue jedoch darauf, dass mein guter Wille, meine Ehrlichkeit und mein Mut mir helfen werden, nicht zu scheitern.
~BRIEF VICTORIAS AN LEOPOLD, 19. JUNI 1837
William IV starb in den frühen Morgenstunden des 20. Juni. Er war darüber enttäuscht, dass seine junge Nachfolgerin von ihrer Mutter derart konsequent von seinem Hof ferngehalten worden war, „an dem sie immer hätte anwesend sein sollen“; aber er war erleichtert, dass es ihm gelungen war, den Thron für Victoria von „üblen Beratern“ freizuhalten. Victoria hielt den schicksalsschweren Tag in ihrem Tagebuch fest:
Ich wurde um 6 Uhr von Mamma geweckt, die mir sagte, der Erzbischof von Canterbury und Lord Conyngham seien gekommen und wünschten, mich zu sehen. Ich stand auf und ging (nur in meinem Morgenrock) allein in mein Wohnzimmer hinüber und begrüßte die beiden. Lord Conyngham (Lord Chamberlain) teilte mir mit, dass mein armer Onkel, der König, nicht mehr lebte. Um 12 Minuten nach 2 sei er am heutigen Morgen verstorben und ich nun folglich Königin. Lord Conyngham kniete sich auf den Boden und küsste meine Hand, während er mir die offizielle Benachrichtigung über das Ableben des armen Königs überbrachte.
~VICTORIAS TAGEBUCH, 20. JUNI 1837
William IV: Nach seinem Tod wurde Victoria Königin.
Später am selben Tag traf sich Victoria mit ihrem Geheimen Staatsrat – und zwar allein. „Mit bewundernswerter Anmut“ brachte sie ihre Onkel davon ab, vor ihr zu knien. Mit zitternder Stimme bestätigte sie, dass sie das hohe Amt übernehmen werde.
Diese furchtbare Verantwortung wird mir so plötzlich und in einer so frühen Phase meines Lebens übertragen, dass ich mich von dieser Last zu Boden gedrückt fühlen müsste, wäre da nicht die Hoffnung, dass die göttliche Vorsehung, die sie mir übertrug, mir auch die Stärke schenken wird, dieses Amt zu erfüllen, und dass ich in der Reinheit meiner Absichten und in meinem Einsatz für das öffentliche Wohl die Unterstützung und Kraft finden werde, die eigentlich mit einem reiferen Alter und größerer Erfahrung einhergehen.
~VICTORIAS REDE AN DEN GEHEIMEN STAATSRAT, 20. JUNI 1837
Großbritannien schien sich über Nacht aufgrund der Machtübernahme durch eine junge, unschuldige Königin nach einem Jahrhundert Hannoveraner Männerherrschaft gewandelt zu haben. „Jetzt sind alle ganz verrückt vor lauter Loyalität gegenüber der jungen Königin“, schrieb Sallie Stevenson, Gattin des US-Botschafters. „Sie scheint Jung & Alt den Kopf verdreht zu haben, & es ist verblüffend, diesen würdevollen ernsten Staatsministern zuzuhören, die mit ihr wie mit jemandem sprechen, den man nicht nur bewundert, sondern innig liebt.“
Aus Sachsen-Coburg entsandte Victorias junger Cousin Albert seine Glückwünsche:
Jetzt sind Sie die Königin des mächtigsten Landes Europas; in Ihrer Hand allein liegt das Glück von Millionen. Möge der Himmel Ihnen beistehen und Ihnen Kraft für diese hohe, aber schwere Aufgabe verleihen.
~BRIEF ALBERTS AN VICTORIA, 26. JUNI 1837
Ich verkleidete den lieben, süßen kleinen Dash zum zweiten Mal nach dem Dinner und zog ihm eine scharlachrote Jacke und eine blaue Hose an.
VICTORIAS TAGEBUCH,
23. APRIL 1833
DASH
VICTORIAS SPANIEL
„Der kleine Dash ist die Perfektion selbst“
… VICTORIA …
Im Januar 1833 schenkte Sir John Conroy der Herzogin von Kent einen dreifarbigen Cavalier-King-Charles-Spaniel namens Dash. Zwar schien der Hund anfangs stark an der Herzogin zu hängen, doch gehorchte er bald Victoria, und nach einem Monat war er ihr Hund geworden und hatte die Puppen und die Lehzen verdrängt.
„Der liebe Dash ist ein sehr amüsanter, verspielter, anhänglicher und sanfter kleiner Hund“, schrieb Victoria in ihr Tagebuch. Als sie Königin wurde, machte sie sich darüber Sorgen, ob sich Dash im Buckingham Palace eingewöhnen würde. Bald darauf vermerkte sie in ihrem Tagebuch, dass er „sich im Garten recht wohlzufühlen scheint“.
Sobald bekannt wurde, dass die Königin einen Schoßhund hatte, wurden ihr viele andere Hunde geschenkt. „Sie werden mit Hunden überhäuft werden“, warnte ihr Premierminister, Lord Melbourne. Tatsächlich besaß Victoria im Laufe ihres späteren Lebens eine ganze Reihe von Hunden: den Dackel Waldman, den Terrier Islay, den Collie Sharp; außerdem war da noch der von Albert besonders geliebte Windhund Eos. Doch Dash war der erste Hund der Königin und der am meisten geliebte.
Albert fiel die undankbare Aufgabe zu, Victoria die Nachricht von Dashs Tod zu überbringen. Die Königin war unsagbar traurig: „Ich mochte den armen kleinen Kerl so gern, & er hing so an mir.“ Sie ließ ihn im Park von Windsor Castle in der Nähe ihres Sommerhauses begraben und schrieb ihm einen rührenden Nachruf:
Hier ruht Dash, der Lieblingsspaniel Ihrer Majestät Königin Victoria, dem zu Ehren diese Gedenkstätte errichtet wurde. Er starb am 20. Dezember 1840 in seinem neunten Lebensjahr. Seine Anhänglichkeit war ohne Selbstsucht, seine Verspieltheit ohne Arglist, seine Treue ohne Falschheit. Willst Du im Leben geliebt und im Tod betrauert werden, oh Leser, so folge Dashs Beispiel.
Victorias erster Regierungsakt bestand darin, 40 neue Gesetzesentwürfe abzusegnen. In privater Hinsicht veranlasste sie an diesem Tag eine große Veränderung: Sie ließ ihr Bett aus dem Zimmer ihrer Mutter entfernen und ihren Haushalt ins Buckingham House überführen – das sie später in Buckingham Palace umbenannte –, obwohl das Gebäude nur halb eingerichtet war und man die Teppiche noch nicht ausgelegt hatte. Die Arbeiten waren voll im Gang, und das große Bronzetor an der Auffahrt war noch nicht eingehängt worden. Ihrem Tagebuch aber vertraute Victoria an, dass sie den Kensington Palace vermissen würde:
Obwohl ich mich aus vielerlei Gründen darüber freue, in den B.P. zu ziehen, verlasse ich diesen meinen Geburtsort, an dem ich aufwuchs und dem ich mich verbunden fühle, nicht ohne Bedauern.
Hier habe ich die Hochzeit meiner geliebten Schwester erlebt, hier habe ich viele liebe Verwandte getroffen, an schönen Bälle teilgenommen und herrliche Konzerte genossen, meine derzeitigen Räume oben sind sehr angenehm, bequem und hübsch … Ich habe hier andererseits auch schmerzhafte und unangenehme Augenblicke erlebt, das ist wohl wahr, aber dennoch bin ich dem armen alten Palast noch sehr zugetan.
~VICTORIAS TAGEBUCH, 13. JULI 1837
Es war eine wichtige Veränderung in Victorias Leben. Der Schicklichkeit halber hätte sie bis zu ihrer Hochzeit mit ihrer Mutter zusammenleben müssen, doch die liebesbedürftige, einsame kleine Drina gab es nicht mehr. Am 13. Juli 1837 verließ die Königin Kensington, um in den, wie sie ihn nannte, „neuen Palast in Pimlico“ einzuziehen. Sie war jetzt Königin Victoria, und von nun an durfte die Herzogin die königlichen Gemächer nur auf ihre Einladung hin betreten.