Читать книгу Lilly und Engelchen - Helga Hegewisch - Страница 5

2. Kapitel

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Dass nach dem ersten aufgeregten Durcheinander ihres Einzugs in die alte Wohnung nun gleich Ruhe eingekehrt wäre, das kann man eigentlich nicht behaupten. Doch hat sich immerhin das, was anfangs am explosivsten schien, nämlich das Zusammentreffen von Papa und Onkel Jupp und der gemeinsamen Frau, als nahezu harmlos herausgestellt.

Papa, so denkt Lilly, hat ja auch Zeit genug gehabt, sich mit der Angelegenheit auseinander zu setzen. Gewusst hat er es vermutlich schon während seines letzten Heimaturlaubs, als er mit seinem zuvor so geliebten Bruder nicht reden, sich nicht einmal von ihm verabschieden wollte. Lilly erinnert sich fast wörtlich an die kurze Diskussion zwischen ihren Eltern: »Ich will, dass du dich richtig von ihm verabschiedest!«, hatte Mama mit erstaunlich fester Stimme gesagt. »Er ist dein Bruder!« Daraufhin Papa: »Und du bist meine Frau.« Und dann wieder Mama: »Unsere persönlichen Probleme werden wir später lösen. Jetzt ist Krieg.«

Jetzt ist der Krieg zu Ende, und die Probleme scheinen tatsächlich so etwas wie eine Lösung erfahren zu haben. Papa war fortgegangen, wohl mit der Absicht, nie zurückzukehren. Dann war er in Gefangenschaft geraten und man hatte ihn weit weg in ein Lager nach Kanada gebracht, was ihm vielleicht gerade recht gewesen war.

»Wir haben es dort nicht schlecht gehabt«, sagt er auf Lillys Frage, »ein Ingenieur wird ja immer gebraucht und kann sich nützlich machen, wir waren in Sicherheit, und verhungert sind wir auch nicht.«

»Und das Rote Kreuz?«

»Ja, doch, das kümmerte sich auch in Kanada um die Kriegsgefangenen.«

»Dann hättest du uns also eine Nachricht zukommen lassen können?«

»Vermutlich.«

»Und warum ...?«

»Lass gut sein, Lilly«, unterbricht ihr Vater. »Du würdest meine Gründe doch nicht verstehen. Vielleicht später, wenn du erwachsen bist.«

»Ich bin erwachsen, Papa.«

»Bist du?« Er mustert sie aufmerksam. »Etwas erwachsen vielleicht, aber doch noch nicht ganz. Und würde es dir denn so viel nützen, wenn ich dir sagte, dass ich mich damals mit allen Konsequenzen loslösen wollte von meinem alten Leben?«

»Aber du bist zurückgekommen«, sagt Lilly.

»Weil es mir wider Erwarten unmöglich war, ohne Familie zu sein. Ich bin also zurückgekommen, zu euch. Aber nicht zu meiner Vergangenheit.«

»Sind wir denn nicht Teil deiner Vergangenheit?«

»Doch. Aber gewisse Dinge habe ich abgetrennt und mir einen Neuanfang verordnet. Das war nicht einfach, ich habe schwer daran gearbeitet.«

Lilly nickt. »Aber du hättest uns dennoch eine Nachricht schicken müssen!«

»Warum? So hat sich jeder nehmen können, was er brauchte.«

»Versteh ich nicht.«

»Na siehst du, das hab ich dir doch gesagt.«

Im Grunde genommen versteht Lilly es doch, bei näherem Hinsehen und Überlegen. Denn ihr Vater ist tatsächlich nicht mehr der Mann ihrer Mutter und er benimmt sich auch nicht so. Mamas Mann ist jetzt Onkel Jupp, darüber lässt niemand einen Zweifel aufkommen.

Lilly denkt, dass es um die Dinge in ihrer Familie heute wohl doch anders stünde, wenn Onkel Jupp nicht so schwer verwundet worden wäre. Dass aus dem strahlenden Verführer inzwischen ein erschöpfter, blinder Invalide geworden ist, macht die Sache zwar nicht besser, aber für Papa vielleicht doch einfacher.

Papa ist achtzehn Jahre älter als Onkel Jupp, und Lilly glaubt, dass auch dieser Altersunterschied ihm hilft, mit den neuen Verhältnissen umzugehen. Er ist der Hausvater, und irgendwie sind die anderen alle seine Schutzbefohlenen, nicht nur sein zerschossener Bruder und die verängstigte Mama, auch Felix und Baby Josi und natürlich Lilly, dazu Markus und auch Jule und schließlich, nach einigen Anfangsschwierigkeiten, sogar Lillys Engelchen. Der Einzige, den er nicht adoptiert, ist Miroslaw. Das wäre wohl auch etwas zu viel verlangt.

Langsam wird Mama ruhiger. Da Jule alle Hände voll zu tun hat mit dem Haushalt und Lilly das Engelchen immer öfter zum Anlass nimmt, die ewige Hilfsbereitschaft ihrer Mutter gegenüber etwas einzuschränken, muss Mama sich selbst um Baby Josi kümmern, jedenfalls tagsüber, und das scheint ihr gut zu tun.

»Weißt du, dass Mama noch nie einen Haushalt allein versorgt hat?«, sagt Lilly zu Jule. »Immer war Oma Elli da, die hat alles organisiert.«

»Und was hat deine Mutter gemacht?«

»Weiß nicht. Sie war doch so zart.«

Jule seufzt. »Zart und zäh, sehr zäh! Das letzte Jahr in Staaken – sie hat alles gewusst. Wär nicht gegangen ohne sie. Hat vor Angst geschlottert und doch immer geholfen. Hat ihr rotes Kleid angezogen und dem Inspektor schöngetan. Und dem Obersturmbannführer auch. Und hat mich losgebunden vom Schandstuhl, weißt du noch?«

»Wie könnte ich das vergessen haben«, sagt Lilly. »Und mir wird immer noch ganz elend, wenn ich daran denke.«

»Na klar, bist ja auch eine gute Person. Aber war gar nicht so schlimm, ehrlich. War ja nicht meine Schande, war die Schande der anderen. Das musst du lernen, Lilly: Kann dir niemand sagen, wofür du dich schämen sollst, nur du selbst. Und ich hab mich nämlich nicht geschämt.«

Miroslaw besorgt für das Engelchen Windeln und Jäckchen und eine große hölzerne Wiege. Miroslaw kann alles besorgen. Sogar ein zartes Goldkettchen mit einem winzigen Anhänger, der die schwarze Madonna von Tschenstochau darstellt, hat er dem Engelchen um den Hals gelegt.

»Warum tut er das?«, fragt Lilly.

»Weil er ist auch eine gute Person, wie du. Aber nicht nur. Er tut es, weil dein Engelchen ein Polenbaby ist.«

»Wieso denn das?«

»Konnte man sehen an dem bunten Tuch. Ist ein Polentuch. Windeln auch. Und Mützchen. So was macht nur Bauersfrau aus Polen. Also ein Polenkind. Und Miroslaw ist ja nicht nur sehr kinderlieb, ist auch sehr, sehr ein Patriot! Dies Kind nicht deutsch, sagt Miroslaw, dies Kind polnisch. Darum muss er sorgen.«

In Lilly erwacht Widerstand. »Miroslaw soll bloß nicht glauben, dass er mir das Baby wieder wegnehmen kann, nur weil es ein polnisches Tuch hatte. Jetzt ist es nämlich nicht mehr polnisch, jetzt ist es meins. Hast du doch selbst gesagt, Jule! Dass ich es gefunden habe und dass es darum mir gehört.«

Jule lacht. »Nun reg dich bloß nicht auf. Er will es dir ja nicht wegnehmen, will nur sorgen.«

»Na hoffentlich!«, sagt Lilly unwirsch. Und fügt zum soundsovielten Mal hinzu: »Ohne mich wär’s nämlich gestorben.«

Sie hat sich in ihr Baby verliebt. Sie umhegt und pflegt es, nimmt alle Gaben von Miroslaw dankend entgegen, will jedoch von dem Goldkettchen anfangs nichts wissen.

»Es könnte sich dran wehtun.«

»In Polen viele Kinder Goldkettchen«, sagt Miroslaw.

»Wir sind aber nicht in Polen.«

Miroslaw lacht. »Bist du sehr schlecht gelaunt, Panienka! Kannst ja Kette aufbewahren, leg in Kasten mit Polentuch und Mütze. Für später.«

»Das Tuch und die Mütze hab ich nicht mehr«, sagt Lilly brummig. »Da waren die Läuse drin, so was kriegt man nie raus. Ich hab alles weggeworfen.«

Miroslaw wirft ihr einen scharfen Blick zu, will etwas sagen, lässt es dann jedoch und murmelt nur: »So, so. Aber nicht vergessen, Madonna beschützt dein Baby, Polenkind oder nicht!«

Das gibt Lilly nun doch zu denken, und also hängt sie das Kettchen um Engelchens Hals.

Die Kleine hat sehr weiße Haut, dunkle Augen und viele dunkle Haare. Sie ist ungefähr so groß wie Baby Josi, aber sie wirkt älter. Vielleicht liegt das an den Augenbrauen, die dem Gesichtchen so einen wachen Ausdruck geben, fast skeptisch sieht sie aus. Noch ein Mensch, der zart und zäh zugleich ist, denkt Lilly, und der das kriegt, was er haben will.

Wenn Lilly das Engelchen in den Armen hält – und das tut sie immerfort –, schwingt sie meist leise hin und her, wie eine lebendige Wiege. Schließlich ist sie so sehr daran gewöhnt, dass sie manchmal auch ohne Engelchen die Wiege macht. »Wackellilly« nennt Markus sie dann.

Lilly teilt ihr altes Zimmer jetzt mit Jule. Zwischen den beiden großen Betten steht die Wiege, in die des Nachts auch Baby Josi gelegt wird, damit Mama und Onkel Jupp etwas zur Ruhe kommen. Jule scheint sich an dem nächtlichen Babygeschrei überhaupt nicht zu stören und Lilly stopft sich, wenn’s zu schlimm wird, Watte in die Ohren. Aber eigentlich wird’s ihr kaum je zu schlimm. Und oft schläft sie nicht einmal, wenn beide Babys still sind. Dann zündet sie sich eine Kerze an – es gibt nachts fast nie Strom – und betrachtet die ungleichen Kleinen, und das Glück, das sie dabei empfindet, füllt sie ganz aus und bereitet ihr ungefähr so viel Herzklopfen, wie sie früher gehabt hat, wenn an der Kreuzung des Staakener und Galitzer Weges Isabella fröhlich winkend auf sie zugeradelt kam.

Miroslaw kommt immer nur für Stunden nach Hause, meistens des Nachts. Jule scheint es schon vorher zu spüren, er braucht sie nie zu wecken. Sehr leise steht sie auf, hängt sich ein Tuch über ihr langes weißes Hemd, verlässt barfuß das gemeinsame Zimmer und dann auch die Wohnung. Lilly denkt ein wenig hinter ihr her und schläft schnell wieder ein. Am nächsten Morgen ist Jule stets wieder da.

»Wo geht ihr denn immer miteinander hin?«, fragt Lilly neugierig.

»Ja, ja ...«, sagt Jule und hat wieder diesen weltvergessenen Ausdruck im Gesicht, der Lilly teils ärgert, teils neidisch macht. »Ja, ja ... wir gehen miteinander irgendwohin.«

»Herrgott«, brummt Lilly, »muss Liebe wundervoll sein!«

»Hab ich dir doch gesagt.«

»Aber sie verblödet auch ganz schön!«

Papa sitzt mit Onkel Jupp im Wohnzimmer. Was reden die beiden miteinander? Mama steht in der Tür und sieht zu ihnen hin. Und Lilly sieht zu ihrer Mutter hin. Zart und zäh und kriegt, was sie haben will. Nun ist sie wieder die Frau mit den zwei Männern, wie man sie damals in Staaken genannt hat – anfangs noch hämisch moralisierend und schon im Voraus schadenfroh. Als dann überhaupt kein Schaden sichtbar wurde, hat sich bei den Staaken-Galitzern die Freude an der Häme gelegt. Papa hatte noch die alte Heizung im Gutshaus repariert und war dann in den Wirren des Krieges verschwunden – aus den Augen, aus dem Sinn –, woraufhin Mamas Lebensgemeinschaft wieder auf einen einzelnen Mann reduziert war, der kriegte das Ritterkreuz, verlor vor Stalingrad einen Fuß, kam zurück und wurde dann der gute Herr auf Staaken. Mama trug ein rotes Band im dunklen Haar und das Scheusal küsste der verehrten gnädigen Frau die Hand.

Jetzt dreht Mama sich zu Lilly um und fragt: »Warum starrst du mich so an, was soll das?«

»Ich ... ach, eigentlich nichts. Oder doch, ja. Ich wollte mit dir besprechen, ob wir die beiden Kleinen nicht impfen lassen müssen.«

»Die beiden Kleinen!« Mama lacht auf, es klingt nicht fröhlich. »Da hast du dir doch tatsächlich ein Baby ertrotzt, ohne es selbst zur Welt bringen zu müssen. Aber so war’s schon immer mit dir. Du kriegst, was du haben willst.«

»Das habe ich gerade eben von dir gedacht.«

»Aha.« Nun lacht Mama richtig. »So was denkt man eben immer leichter von den anderen als von sich selbst. Aber es ist dir ja wohl klar, dass du dies Baby nicht behalten kannst.«

»Und wieso nicht?«

»Weil es dir nicht gehört.«

»Ohne mich wäre es gestorben. Darum gehört es jetzt mir.«

»Unsinn. Für so etwas ist der Staat zuständig.«

»Wir haben doch gar keinen richtigen Staat mehr.«

»Aber wir kriegen wieder einen, verlass dich drauf. Und neue Regeln haben wir ja jetzt schon übergenug. Außerdem wird doch wohl auch irgendwann die Schule wieder anfangen. Was willst du denn dann mit dem Baby machen – es mit in den Unterricht nehmen?«

Lilly zuckt die Schultern. »Ich werd schon eine Lösung finden. Und was ist nun mit dem Impfen?«

»Ja ...«, sagt Mama, »kümmere dich darum. Ich habe gehört, dass in der Baracke, du weißt schon, da, wo auch das Ortsamt ist, dass da also eine medizinische Beratungsstelle eingerichtet worden ist. Du kannst ja mal hingehen.«

Und das tut Lilly, mit dem Engelchen auf dem Arm. Inzwischen hat sie sich an die Trümmerlandschaft gewöhnt und kann sich gar nicht mehr so recht erinnern, wie es hier im heilen Zustand ausgesehen hat. Ungefähr so, wie man beim Anblick winterlich kahler Bäume Schwierigkeiten hat, sich das üppige Grün des Sommers vorzustellen. Seit fast vier Monaten ist der Krieg vorüber, die letzten Bombenangriffe liegen noch weiter zurück. Hamburg ist kampflos übergeben worden. »Das war«, sagt der ehemalige begeisterte Kämpfer Onkel Jupp, »eine große Leistung und tapfere Tat!« Wie sehr er sich verändert hat und wie hoch der Preis dafür gewesen ist!

Vor der Baracke wartet eine lange Reihe von Hilfe suchenden, die meisten abgerissen und erschöpft. Hungrige Gesichter. Gewiss hat keiner von denen einen polnischen Freund, der ihn mit Schwarzmarktware versorgt, hat stattdessen ein krankes Kind, vielleicht keine Bleibe, kein Bett. Und hofft nun auf irgendeinen Rat, auf etwas Medizin, ein paar extra Lebensmittelmarken. Lilly hat das Gefühl, nicht dazuzugehören. Sie will nicht so sein wie diese hier, sie will sich nicht einreihen unter die Verzweifelten und Kranken. Dem Engelchen zuliebe bleibt sie doch stehen. Nach zwei Stunden ist sie endlich an der Reihe.

Ein streng blickender Mann in abgewetzter Landseruniform, der nicht weniger elend aussieht als die Wartenden, hockt vor einer Schreibmaschine. »Wie alt?«, herrscht er Lilly an.

»Sechzehn«, sagt Lilly, »aber ich ...«

»Hast ja früh angefangen.«

»Nein, nein«, wehrt sie sich automatisch, »ich doch nicht ...«

»Ach so. Wer denn?«

»Das ist ... meine kleine Schwester. Und ich sollte nämlich fragen, wie das mit der Pockenimpfung ist.«

»Name?«

»Steinhöfer.«

Der Mann hackt zweifingrig den Namen in die Maschine.

»Vorname?«

»Ich heiße Elisabeth. Das Baby heißt Engelchen.«

»Was?«

»Ja, also, Entschuldigung, ich meine natürlich, es heißt Angelika. Und was ist nun mit dem Impfen?« Am liebsten würde Lilly davonlaufen. Sie hat das Gefühl, sich in eine Falle manövriert zu haben.

Der Mann sieht auf von seiner Schreibmaschine. »Erst die Personalien. Alles muss seine Ordnung haben. Zeig mir mal euren Meldeschein.«

Lilly atmet tief ein und aus. Dabei drückt sie das Engelchen so fest an sich, dass es anfängt zu schreien. »Sch, sch, sch«, macht Lilly, womit sie mehr sich selbst als das Kind beruhigen will. »Alles ist gut, wir gehen ja gleich nach Hause.« Na hoffentlich, denkt sie, wenn der Mann uns lässt, wenn er uns nicht hier behält und einsperrt, weil das Engelchen ...

»Nu mach schon«, sagt er, »ich hab nicht ewig Zeit.«

»Also den Meldeschein, den hab ich jetzt nicht hier.«

»Dann geh nach Haus und hol ihn.«

Und anstatt nun dankbar über die Fluchtmöglichkeit zu sein, wird Lilly plötzlich wütend. »Ich hab aber schon zwei Stunden angestanden, und ich will doch nur wissen, wie das mit dem Impfen ist. Das können Sie mir doch auch ohne Meldeschein sagen.«

Der Mann seufzt. Lilly sieht, dass er sehr müde ist, wahrscheinlich ist er halb verhungert. Alle ehemaligen Soldaten müssen sich bei den Besatzern zum Arbeitseinsatz melden, bevor sie entlassen werden. Geld kriegen sie nicht, dafür Lebensmittelmarken, die ihnen jedoch weniger als hundertfünfzig Gramm Brot am Tag garantieren. Aber der Mann hier hat ein Amt, und das macht ihn Lilly überlegen.

»Bitte ...!«, sagt Lilly. »Mein Schwesterchen hier, und zu Haus hab ich nämlich noch eins, und ich will doch nur wissen ...«

Er beugt sich wieder über die Maschine. »Name der Mutter?«

»Alice Steinhöfer.«

»Der Vater?«

»Joseph Steinhöfer. Und er war mal Major, Ritterkreuzträger. Schwer verwundet.«

»Ach ja, Ritterkreuz?« In den Augen des Mannes blitzt zum ersten Mal Interesse auf. Das hätte auch schief gehen können, denkt Lilly, aber irgendwie scheint das Ritterkreuz doch immer noch seinen Wert zu haben.

»Wo denn?«, fragt der Mann.

»Vor Stalingrad«, sagt Lilly. »Und man hat ihm ein Bein amputiert. Und blind ist er auch.«

»Ach Gott, ja!«, sagt der Mann. »Name des anderen Kindes?«

»Josephine Steinhöfer. Es handelt sich nämlich um Zwillinge, wissen Sie, Zwillinge, die gibt’s in unserer Familie mehrmals, ist anscheinend erblich.«

»Da kenn ich mich nicht aus. Wann und wo geboren?«

»In Mecklenburg, auf der Flucht. Am ersten Mai 1945.«

»Kein gutes Datum für eine Geburt«, sagt der Mann. »Hast du wenigstens einen Geburtsschein?«

»Das ist es ja eben«, sagt Lilly. »Da war doch ein solches Durcheinander. Und meine Mutter wäre bei der Geburt fast gestorben, und der Vater ist doch blind ...«

»Die Säuglinge sind jetzt fast vier Monate alt«, sagt der Mann streng, »da hättet ihr ja wohl Zeit genug gehabt, inzwischen.«

»Aber dann sind doch die Russen gekommen, und meiner Mutter ging es so schlecht, und der Vater ... also ich wollte ja auch nur wissen, wie das mit dem Impfen ist.«

Wieder seufzt der Mann. »Und der Vater hat das Ritterkreuz?«

»Ja«, sagt Lilly, »und er ist blind.«

Mit einem Ruck zieht er den Bogen aus der Maschine und knallt einen Stempel drauf. »Also hier hast du erst mal was zum Vorzeigen, für den Anfang. Und damit gehst du zur Meldebehörde. Und dann kommst du zu mir zurück. Und dann arrangier ich dir was für die Impfung. Muss ja alles seine Ordnung haben. Ein Mensch ohne Papiere existiert nicht und kann deshalb auch nicht geimpft werden, ist das klar?«

»Ja«, sagt Lilly, »das hab ich mir auch schon gedacht.«

»Und bestell deinem Vater, dass ich immer noch Respekt hab vor einem guten Offizier, auch wenn das eigentlich nicht mehr erlaubt ist.« Er beugt sich vor, kommt ganz nahe heran, Lilly kann seinen schlechten Atem spüren. »Und ich sag dir, an allem sind nur die Juden schuld.«

Da hat Lilly nun also ein behördlich abgestempeltes Papier in der Hand, worauf steht, dass das Engelchen ihre kleine Schwester ist. Gut für den Anfang, denkt sie und rennt beglückt nach Hause. Und im Laufe der nächsten Tage besorgt sie sich tatsächlich, indem sie die allgemeine Unordnung und Überlastung der Ämter ausnutzt, noch ein paar mehr Stempel, und die Geschichten, die sie dazu erzählt, werden immer überzeugender. Schließlich sind die Steinhöfers nicht die Einzigen, die auf der Flucht ihre Papiere verloren haben.

Und dann hat sie’s geschafft: Josephine und Angelika Steinhöfer, geboren am ersten Mai 1945 und behördlich und also grundsätzlich existent geworden als Zwillingstöchter von Alice und Joseph Steinhöfer. Zweieiige Zwillinge natürlich – so verschieden, wie die aussehen. Die glücklichen Eltern wissen vorerst nichts davon.

Als dann die neuen Lebensmittelkarten ausgegeben werden und die Familie Steinhöfer nun durch das legalisierte Engelchen eine mehr bekommt als zuvor, wendet Lilly sich wieder einmal als Erstes an Onkel Jupp.

Sie zieht sich einen Stuhl zu seinem Sessel am Fenster und beginnt etwas umständlich: »Es ist nämlich so, weißt du, dass die Besatzungsmacht genau wissen will, wie viel Menschen in einem Haus wohnen. Und dass darum an jeder Wohnungstür eine Liste der Bewohner angebracht werden muss.«

»Aha«, sagt Onkel Jupp.

»Und dass sie dann auch manchmal kontrollieren.«

»Sind ja Besatzer«, sagt Onkel Jupp.

»Und dass das Engelchen mit auf der Liste stehen muss.«

»Natürlich, wir können es doch nicht im Schrank verstecken«, sagt Onkel Jupp.

»Und da hab ich mir nämlich gedacht, also wenn du nichts dagegen hast ...«

Onkel Jupp tastet nach Lillys Hand und legt die seine darauf. »Warum sollte ich etwas dagegen haben? Ich kenn dich doch, ist schon in Ordnung, was du tust.«

»Wirklich?«

»Wirklich!«

»Also dann ...« – Lilly holt tief Luft – »... das Engelchen ist nämlich inzwischen eine Zwillingsschwester von Josi.«

»Zweieiig, nehme ich an«, sagt Onkel Jupp.

»Na klar, so verschieden, wie die sind.«

Onkel Jupp lächelt traurig. »Leih mir deine Augen, Lilly, erzähl mir, wie meine kleinen Zwillingstöchter aussehen.«

Und das tut Lilly. Voller Eifer beschreibt sie Haare und Augen und Nasen und Münder, und schließlich trägt sie beide Babys heran, um Onkel Jupps Finger ganz vorsichtig über die kleinen Gesichter zu führen.

»Josi hat größere Ohren, merkst du? Dafür hat das Engelchen größere Füße.«

Onkel Jupp nickt: »Die hat sie von mir.«

Eine Weile sitzt er ruhig da, mit beiden Kindern auf dem Schoß. »So viele Tote um uns herum«, sagt er leise, »da ist es doch gut, dass wir wenigstens ein kleines Menschlein retten konnten.«

Vor lauter Dankbarkeit kommen Lilly die Tränen. »Bloß Mama ... die ist, glaube ich, dagegen.«

»Ich werde mit ihr reden.«

Dass er das getan hat, erfährt Lilly am nächsten Tag, als sie Mama zu Jule sagen hört: »Von jetzt ab sind Baby Josi und das Engelchen also Zwillinge, falls dich jemand fragt.«

Jule strahlt. »Da wird sich ja unsere Lilly von Herzen freuen.«

»Unsere Lilly, die verschenkt ihr Herz allzu sorglos«, sagt Mama darauf, »sie fürchtet sich nicht vor Enttäuschungen.«

»Sie kann sich’s ja leisten«, sagt Jule darauf, »weil ihr Herz nämlich sehr riesengroß und sehr stark ist.«

»Auch große Herzen können kaputtgehen!«, sagt Mama.

Kurz darauf wird der Einwohnerliste an der Wohnungstür noch ein weiterer Name hinzugefügt: Julius Miroslaw Kaminski. Ohne viel Aufhebens hat Jule ihr und Miroslaws Söhnchen in der Nacht vom zweiten auf den dritten September zur Welt gebracht. Daheim in der Küche, nicht etwa im Krankenhaus. »Werd ich doch nicht gehen zu fremden Leuten«, hat Jule gesagt, »mit solch einer persönlichen Angelegenheit!«

Eine polnische Hebamme war zugegen und Lilly und Mama, und während Jule diese persönliche Angelegenheit auf dem Küchentisch erledigte, ist Miroslaw fast gestorben und hat sich ächzend und stöhnend in Jules Bett gewälzt, als wäre er selbst der Gebärende. Und irgendwie war er das wohl auch.

»Ist eben so bei manchen Männern«, hat Jule anschließend stolz gesagt, »die kriegen das Kind zusammen mit ihrer Frau. Nennt man männliches Wochenbett, ist doch schön, oder?«

Ja, denkt Lilly, das ist eigentlich schön. Bloß dass die wirkliche Arbeit ja doch wieder von der Frau gemacht wird und der Mann nur so tut, als ob. Aber das sagt sie nicht zu Jule, die in Miroslaws »Wochenbett« eine ganz wunderbare Liebeserklärung sieht.

Nach zwei Tagen steht Jule wieder in der Küche und verrichtet ihre gewohnte Arbeit. Sowie der Kleine nur einen Quäker tut, öffnet sie umstandslos ihr Mieder und legt ihn sich an die Brust, meist ohne ihre momentane Arbeit zu unterbrechen. Mit der einen Hand hält sie das schmatzende Bübchen und mit der anderen hängt sie ein Stück Wäsche auf oder rührt in einem Topf. Oft singt sie dabei traurige polnische Lieder, die sie von Miroslaw gelernt hat und deren getragene Melodien in krassem Gegensatz zu Jules vergnügt glitzernden Augen stehen.

Miroslaw, der jetzt auch häufig tagsüber kommt, sitzt in der Ecke auf einem Küchenstuhl und schaut ihr zu. »So gesund!«, sagt er stolz zu Lilly. »So scheene Frau, so scheene Busen, so scheene Kind!«

Anfangs hat Jules sorgloser Umgang mit ihren aufs Doppelte angewachsenen Brüsten Lilly sehr irritiert, aber sie gewöhnt sich schnell. Und ganz im Geheimen wünscht sie sich, dass auch sie so einen prallen Busen hätte, um ihr Engelchen zu stillen. Einmal, als sie zufällig mit dem Engelchen allein in der Wohnung ist, versucht sie’s sogar, sie öffnet ihre Bluse und drückt sich das Baby an die Brust. Engelchen scheint begeistert, schnappt zu, lässt jedoch nach kurzem Bemühen enttäuscht wieder los und fängt so kläglich an zu weinen, dass auch Lilly wieder mal die Tränen kommen. »Mein armer kleiner Schatz«, flüstert sie, »ich bin eben doch nicht deine richtige Mama und du lässt dich nicht betrügen.«

Wenn sie später an diese kleine Begebenheit zurückdenkt, steigt ihr jedes Mal die Schamröte ins Gesicht, nicht so sehr wegen Engelchens Enttäuschung, sondern weil sie begreift, dass sie’s weniger für das Kind als für sich selbst getan hat.

Nun gibt es also drei Babys in der Wohnung, und Papa findet, dass das doch reichlich viel sei.

»Sorg ich doch gut für alle drei, mein Herr!«, sagt Miroslaw würdig. Der Einfachheit halber duzt Miroslaw jeden, auch Lillys Papa, doch ihn nennt er immerhin »mein Herr«. Doch ist es nicht so ganz klar, ob das tatsächlich eine Bekundung seines Respekts oder etwa Ironie ist. Aber es stimmt, dass er sorgt, und nicht nur für die Babys. Ohne Miroslaw und seinen Assistenten Markus würden die Steinhöfers wie fast alle anderen Hamburger Hunger leiden. So jedoch stapeln sich in der Besenkammer Kisten und Kästen voller kostbarer Güter, Seidenstrümpfe, Kaffee, Alkohol, Butterschmalz, Fleischkonserven aus Militärbeständen und vor allem die begehrten Ami-Zigaretten. Dies alles ist nicht etwa zum Gebrauch der Familie bestimmt, sondern gilt als Tauschobjekt, um die täglichen Bedürfnisse zu erfüllen, wobei die Zigaretten als sicherste Währung fungieren. Vor der Tür zur Besenkammer hängt ein dickes Schloss, für das Jule den Schlüssel verwahrt.

»Weiß man ja nie ...«, sagt Miroslaw.

»Ist nämlich alles sehr gefährlich!«, brüstet sich Markus.

»Ist doch absolut kriminell«, jammert Mama.

»Will ja keiner von uns verhungern!«, sagt Jule.

»So weit ist es also mit uns gekommen!«, brummt Papa.

Onkel Jupp äußert sich nicht zu der Problematik dieser illegalen Vorratshaltung, dennoch glaubt Lilly, dass er genauestens über Miroslaws und Markus’ Schwarzmarktgeschäfte unterrichtet, ja vielleicht sogar der führende Kopf im Hintergrund ist.

Miroslaw sitzt oft bei ihm am Fenster, allerdings nie, wenn Papa in Reichweite ist, und dann reden sie leise miteinander, Onkel Jupp immer sehr ruhig, Miroslaw wild gestikulierend und aufgeregt. Lilly weiß, dass die beiden so ungleichen Männer im letzten Kriegsjahr Menschen im Untergrund versorgt und politischen Flüchtlingen weitergeholfen haben – Onkel Jupp, der führertreue Major mit dem Ritterkreuz, in heimlichem Zusammenspiel mit einem polnischen Zwangsarbeiter, der zwar von der Polizei gesucht wurde, sich jedoch immer wieder dem Zugriff entziehen konnte. Das Ganze war damals so unwahrscheinlich, dass niemand je auf die Idee kam, Onkel Jupp zu verdächtigen. Bis ganz zum Schluss, als dieser Obersturmbannführer plötzlich über gewisse Zusammenhänge stolperte, und das kostete Onkel Jupp das Augenlicht und den SS-Mann das Leben. Inzwischen kann Lilly an die damaligen Ereignisse denken, ohne dass ihr Herz zu rasen beginnt, und sie träumt auch nicht mehr so oft davon. Seltsamerweise hilft ihr dabei die Einsicht, dass ihr Onkel nicht nur für andere sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, sondern dass er auch an sich selbst und seine Familie gedacht hat.

Das Engelchen wird immer wichtiger in Lillys Leben. Nie, nie wird sie es freiwillig hergeben. Aber wenn nun die andere Mutter doch noch zu dem kleinen Haus mit dem Brunnen zurückgekommen ist, um ihr Kind zu holen, und wenn sie dort tatsächlich den Zettel mit Lillys Nachricht gefunden hat?

Lilly begreift überhaupt nicht mehr, wieso sie so unvorsichtig sein konnte, ihre Adresse dort zurückzulassen. Der Gedanke an diese gefährliche Spur, die sie selbst gelegt hat, wird für sie immer quälender, und es hilft ihr auch nicht, dass seit der Auffindung des Babys schon mehr als zwei Monate vergangen sind, dass sich niemand gemeldet hat und dass das Engelchen doch jetzt die Zwillingsschwester von Josi geworden ist. Denn wenn tatsächlich jemand auftauchen und das Kind zurückverlangen sollte – Mama würde gewiss nicht bei der Zwillingsversion bleiben.

Je weniger direkten Anlass sie dazu hat, umso nervöser wird Lilly. Kaum dass sie sich noch mit dem Engelchen auf die Straße wagt, schließlich könnte jemand kommen, mit dem Adressenzettel in der Hand, und inquisitorische Fragen stellen. Dieser verdammte Zettel, denkt Lilly, wenn er immer noch dort liegt, wo ich ihn hingelegt habe, dann muss ich ihn mir zurückholen.

Aber wie? Kann sie sich an Miroslaw wenden? Besser nicht, momentan ist er so sehr beschäftigt mit seiner eigenen Vaterschaft, dass er – hoffentlich – die Sache mit Engelchens angeblich polnischer Abstammung, an die Lilly ihn gewiss nicht erinnern will, vergessen hat.

Vielleicht könnte Lilly es ja auf eigene Faust versuchen?

Aber dort, wo sie das Engelchen gefunden hat, ist jetzt russische Zone; Züge fahren nicht, da bliebe höchstens noch das Fahrrad, und das würden weder Onkel Jupp noch Papa erlauben, und Mama würde wieder einen hysterischen Anfall kriegen. Außerdem: Wer würde sich derweil um das Engelchen kümmern?

Und dann hat Lilly die Idee, dass sie sich doch an Markus wenden könnte. Markus, Isas Bruder, Mamas Ersatzsohn, Miroslaws Assistent. Markus, an den Lilly noch nie einen Gedanken verschwendet hat außer dem, dass ältere Ersatzbrüder genauso lästig, unsensibel und vernagelt sind wie ältere Brüder. Sie haben nichts weiter im Kopf als sich selbst und irgendwelche albernen Flirts mit ebenso albernen Mädchen. Bei Markus kommen inzwischen noch seine Schwarzmarktaktivitäten dazu, die ihn, in seinen eigenen Augen, mit einem abenteuerlichen Wildwestimage ausstatten. Moralische Bedenken bezüglich einer illegalen Aneignung, und sei es die eines Kindes, wird er bestimmt nicht haben. Und Lilly erinnert sich jetzt auch an seine Reaktion, als sie sich das Engelchen gegen Mamas Verbot angeeignet hatte: »Du hast vielleicht Nerven!«, hat er bewundernd gesagt. Also Markus. Versuchen kann man’s ja mal.

Lilly sitzt mit Engelchen auf dem Schoß in der Küche, als Markus hereinkommt und sich einen Teller Suppe auffüllt. »Hör mal«, sagt sie, »ich hab da nämlich ein Problem.«

Er wirft ihr einen überraschten Blick zu. »Das ist ja ungewöhnlich.«

»Wieso?«

»Weil du sonst nie mit mir sprichst. Und nun gleich über ein Problem.«

»Sprech ich nie mit dir? Ist mir gar nicht aufgefallen. Na ja, ich bin eben ziemlich beschäftigt.«

Er nickt. »Mit deinem Baby.«

»Eben«, sagt sie, »mit meinem Baby. Und da liegt das Problem.«

»Aha.«

»Ich will es nämlich nicht wieder hergeben.«

»Will es dir denn jemand wegnehmen?«

»Nein. Ja. Ich weiß nicht.«

»Verstehe«, sagt er und lacht. Es ist Isas Lachen, wieso hat Lilly das eigentlich nie bemerkt? Es ist Isas Mund, und die Augen sind auch sehr ähnlich, das gleiche helle Blau mit dem dunklen Rand um die Iris.

»Hast du eigentlich von Isa und deiner Mutter gehört?«, fragt sie unvermittelt.

»Nein, die Zivilpost mit England funktioniert ja noch nicht wieder, und ich hab auch keine Adresse. Also, was ist dein Problem?«

Und da erzählt sie es ihm, und die Gedanken an Isa machen es ihr leicht und ihre Worte sind wohl auch überzeugend; jedenfalls begreift Markus ohne viel Umstände, findet ihre Ängste auch gar nicht unvernünftig und sagt, als sie fertig ist: »An den Ort erinnere ich mich gut, es war noch vor Büchen, an einer Seitenstraße. Mal sehen, was ich machen kann.«

Bevor er die Küche verlässt, streicht er Engelchen kurz über den Kopf. »Die gehört doch jetzt zur Familie. Die werden wir uns nicht wieder wegnehmen lassen.«

Da hat Lilly also unversehens einen Mitstreiter gefunden, sie kann es kaum glauben. Und als er ihr nach fünf oder sechs Tagen tatsächlich den Adressenzettel überbringt, diesen Dorn in ihrem Fleisch, die Ursache schlimmster Albträume, da lässt sie sich zu einer stürmischen Umarmung hinreißen.

»Meine Güte«, sagt er und hält sie für den Bruchteil einer Sekunde fest, »wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich annehmen, dass deine Umarmung tatsächlich mir gilt.«

»Und ist es wirklich mein Zettel?«

»Ist doch deine Schrift, oder?«

»Wo genau hast du ihn gefunden?«

»Misstrauisch bist du auch noch, soso. Also, um genau zu sein, dein Zettel lag in dieser halb zerstörten Bude unter einem Stein auf dem alten Küchenherd.«

»Genau«, sagt Lilly und stößt einen tiefen Seufzer aus, »da hab ich ihn hingelegt. Und bist du auch ganz sicher, dass niemand ihn zuvor gelesen hat?«

»Nun hör schon auf, dir Sorgen zu machen. Die Spur, die du selbst gelegt hast, gibt’s nicht mehr. Fertig, aus.«

»Wie bist du denn überhaupt dort hingekommen?«

»Mit einem englischen Jeep, Papiere gefälscht, alles tipptopp. Die Grenze ist kaum bewacht, und außerdem gibt’s inzwischen ein ganzes Netz von Händlern, meist Polen, die verschieben alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Miroslaw ist bei denen eine ziemliche Nummer, wegen des großen Depots bei Lehseburg, das wir zusammen ausgeräumt haben, na ja, davon weißt du nichts, musst du auch nicht wissen. Jedenfalls ist Miroslaw ein perfekter Stratege – hat ja auch viel Übung. Früher hat er Menschen verschoben, jetzt eben Waren.«

»Du meinst, Miroslaw hat zusammen mit Onkel Jupp das Lehseburger Depot ausgeräumt?«

»Das geht dich nun wirklich nichts an. Ich kann dir nur eins sagen, nämlich dass es früher gefährlicher war als jetzt. Da ging’s nämlich um Kopf und Kragen, jetzt nur um Gefängnisstrafen. Und sowieso sind unsere verehrten Sieger mit ihrem neunmalklugen Gentlemangehabe viel dämlicher, als man gemeinhin annimmt. Das hat man ja an diesem Captain gesehen, mit dem meine Schwester durchgegangen ist. Also wenn ich an den denke ...!«

Das will Lilly aber nicht, auf gar keinen Fall will sie an Isa und den Captain denken, darum unterbricht sie Markus: »Wie war das denn nun mit dem Zettel?«

»Mit dem Zettel? Ach so, ja, das war ein Kinderspiel. Weil Miroslaw nämlich in Buchen einen Kontaktmann hat, für den kleinen Grenzverkehr, weißt du, Waren und Menschen. Denn wenn du was zum Tauschen hast, ist alles machbar. Übrigens hab ich noch erfahren, dass der letzte Transport von russischen und polnischen Zwangsarbeitern Richtung Heimat am 29. Juni abgegangen ist, nur einen Tag vor dem Gebietsaustausch, also bevor wir mit dem Lastwagen dort durchgekommen sind. Da wird sich’s bei deinem Engelchen wohl um ein Polenbaby handeln oder um ein russisches, das man da aus Versehen oder sogar mit Absicht vergessen hat. Es heißt ja, dass die Russen, die in Deutschland gearbeitet haben, daheim als Kollaborateure verurteilt werden und sofort in den sibirischen Straflagern verschwinden. Und wenn man ein Baby neben einer Wasserpumpe ablegt, dann hat es doch eine gute Chance, gefunden zu werden.«

Lilly zuckt die Schultern und sagt wieder einmal ihren üblichen Satz: »Ohne mich war’s jedenfalls verhungert.« Dann zündet sie ein Streichholz an und verbrennt den Zettel.

Markus sieht ihr zu. »Ein symbolischer Akt«, feixt er, »mit dem wir unser Findelkind nun endgültig eingedeutscht haben. Flamme empor ... und so weiter. Und falls du wieder mal männliche Unterstützung brauchst, darfst du dich vertrauensvoll an mich wenden.«

Lilly reagiert mit gewohnter Kratzbürstigkeit. »Normalerweise mach ich meinen Kram lieber allein.«

»Normalerweise gibt’s ja momentan kaum«, sagt Markus.

Im Steinhöfer’schen Rumpelkeller findet Lilly einen großen alten Kinderwagen, den Mama vor vielen Jahren für Joachim angeschafft und in dem auch sie selbst gesessen hat. Sie ölt und putzt ihn und fährt damit nun jeden Nachmittag die drei Kleinen spazieren.

Es ist ein warmer Frühherbst. Der Winter, den alle fürchten, lässt noch eine Weile auf sich warten, doch gibt es auch ohne die drohende Kälte schon jetzt ein Übermaß an Not und Elend. Hungrige, müde Menschen, die in Trümmern hausen, Bettler, deren ausgestreckte Hände niemand mehr zu füllen bereit ist, Kriegsinvaliden in zerrissenen Uniformen. An einer langen Bretterwand hängen Hunderte von Zetteln, auf denen nach vermissten Angehörigen gesucht wird.

Vor einem Trümmergrundstück am Eppendorfer Baum steht ein Mann mit dunkler Brille, dessen leeres rechtes Hosenbein hochgesteckt ist. Zwei primitive Krücken lehnen neben ihm. Wie eine Vogelscheuche steht er da, jeden Tag, bei jedem Wetter. Um den Hals trägt er ein großes Pappschild mit der Aufschrift: »Der Dank des Vaterlandes ist euch gewiss.«

Lilly ist schon viele Male an ihm vorbeigegangen. Sie hat das Gefühl, dass er sie durch seine dunkle Brille anstarrt.

Überall hat die Besatzungsmacht Plakate angebracht mit großen Fotos von dem grauenvollen Geschehen im KZ Buchenwald. Aus den Fotos deutet ein Finger bedrohlich auf den Betrachter. Dazu der Text: »Du bist schuldig!«

Nach einer kurzen Gewöhnungszeit gehen die meisten Menschen an den Plakaten ebenso achtlos vorbei wie an dem einbeinigen Invaliden. Sie denken – und sie sagen es auch: »Wie kann ich schuldig sein an etwas, das ich nicht einmal gewusst habe.« Und wenn diese Schuldzuweisung nicht stimmt, dann stimmen vermutlich auch die Fotos nicht, denken sie, und das Ganze ist bloß wieder mal eine propagandistische Maßnahme der Sieger, die das am Boden liegende Deutschland nun auch noch mit psychologischen Fußtritten traktieren. Besser gar nicht mehr hinschauen.

Lilly jedoch schaut hin, und sie weiß, dass sie sehr viel gewusst hat und noch mehr hätte wissen können, wenn sie nur offener gewesen wäre. Sie fühlt sich schuldig an etwas, für das sie nicht einmal um Verzeihung bitten kann, weil es ja keine Person gibt, der sie selbst bewusst geschadet hat. Vergeben kann einem aber nur derjenige, an dem man schuldig geworden ist. Oder Gott – und der erscheint Lilly momentan als vollkommen unerreichbar.

Ein neues Wort kommt auf, das heißt Kollektivschuld. Anfangs verschafft es Lilly in ihren Grübeleien eine gewisse Erleichterung, weil es das Unbegreifliche ihrer persönlichen Schuld nun durch eine kollektive erklärt. Doch als sie mit Onkel Jupp darüber spricht, schüttelt der nur müde den Kopf und sagt, dass es eine kollektive Schuld ebenso wenig geben könne wie eine kollektive Unschuld. »Im Kollektiv unterzugehen heißt doch immer nur, sich um die persönliche Verantwortung zu drücken.«

»Aber wenn sich nun wirklich jeder Mensch im Kollektiv schuldig fühlt und auch teilnimmt an der Schuld der anderen ...«

»Glaubst du etwa«, unterbricht Onkel Jupp, »dass sich jeder Deutsche schuldig fühlt?«

Nein, das kann Lilly denn doch nicht glauben, sie erfährt es auch täglich anders bei ihren Beobachtungen auf der Straße, in den Ämtern und beim Schlangestehen vor den Läden. Das, was sie immer wieder hört, wenn von deutschen Verbrechen geredet wird, ist: »Aber wir haben doch auch sehr gelitten!« Als ob das eine Leiden mit dem anderen abzugelten wäre.

Lilly geht es so viel besser als den meisten Deutschen, dennoch fühlt sie sich oft leer und ausgebrannt. Während des Krieges hat sie mit aller Kraft auf das Kommende, auf den Frieden zu gelebt. Außer ihren Träumen von einem Phantasie-Jeremy und der Liebe zu Isa war die Angst ihre größte Energiequelle. Inzwischen ist die Liebe irgendwie schal geworden, die Ängste um Leib und Leben sind vorbei und der Frieden ist da. Aber Lilly weiß nichts mit ihm anzufangen. Ihr Kummer um Isa ist einer schulterzuckenden Resignation gewichen, an Jeremy denkt sie nicht mehr. Oder? Doch, ja, natürlich denkt sie noch an den englischen Feldgeistlichen, aber immer mit einem merkwürdigen Gefühl der Enttäuschung. Und dann die letzte Nacht in Staaken – er ist zu ihr gekommen und hat sie umarmt und geküsst, so wie sie es sich unzählige Male erträumt hatte. Und es ist schön gewesen – wirklich. Wieso dann dieses Verlustgefühl? War ihr vielleicht der Traum wichtiger als dessen Verwirklichung?

Immer wieder kommt ihr das zynische Wort in den Kopf: »Lasst uns den schönen Krieg genießen, der Friede wird furchtbar sein.« Lasst uns die schönen Träume genießen, die Realität wird enttäuschend sein?

Lilly schämt sich ihrer Undankbarkeit. Nur mit Onkel Jupp kann sie darüber reden. »Hätte ich nicht das Engelchen«, sagt sie zu ihm, »dann wollte ich kaum noch weiterleben.«

»Nimm dir Zeit, Lilly«, sagt er, »die letzten Kriegsmonate haben alle deine Energiereserven aufgebraucht, jetzt musst du erst einmal neue bilden.«

Manchmal sitzt sie, das Engelchen in den Armen, am Boden neben Onkel Jupps Sessel und lehnt den Kopf gegen seine Knie. Wenn er ihr dann über die Haare streicht, wird ihr etwas leichter zumute.

»Weißt du noch ...«, sagt sie.

»Du solltest nicht immer rückwärts denken«, sagt er.

»Aber vorne kann ich überhaupt nichts sehen.«

»Wenn man nichts sehen kann, muss man sich eben etwas ausmalen.«

Und dann hilft es ihr, sich ein Luftschloss zu bauen.

Manchmal zieht Onkel Jupp sich ohne Erklärung ins Schlafzimmer zurück und kommt tagelang nicht zum Vorschein. Dann ist er angeblich krank, jedoch welcher Art diese Krankheit ist, das weiß niemand und darüber wird auch nicht geredet.

Seit einiger Zeit erscheint jeden Montag und Donnerstag eine Frau in der Wohnung, die lehrt Onkel Jupp die Blindenschrift. Sie heißt Ingelore Bierisch, ungefähr dreißig Jahre alt und so mager, dass man meint, durch sie hindurchsehen zu können. Wenn sie da ist, sitzt Mama immer irgendwo in der Nähe und hört und schaut zu. »Die Frau hat so hungrige Augen«, sagt sie zu Lilly.

Als die Bierisch sich auch noch erbietet, Onkel Jupp täglich eine Stunde vorzulesen, lehnt Mama dies in nahezu beleidigender Form ab. »In unserer Familie gibt’s genug Vorleser, dazu brauchen wir Sie nicht.«

Nach dem Unterricht übergibt sie der Frau jedes Mal ein vorbereitetes kleines Paket mit Essbarem. Die Frau bedankt sich nie, nimmt das Paket und geht ihrer Wege.

»Undankbar ist sie auch noch«, sagt Mama.

Nachdem Lilly viele Male an dem Invaliden mit dem Schild vorbeigegangen ist, denkt sie, dass sie vielleicht etwas für ihn tun könnte – für ihn und dadurch auch für sich selbst.

Sie erbittet von Jule die Reste des Mittagessens.

»Für wen soll denn das sein?«, fragt Jule.

»Für jemanden, der bestimmt sehr hungrig ist.«

»Sind doch die meisten Menschen hungrig heutzutage, und wir können sie nicht alle satt machen.«

»Aber wenigstens diesen einen.«

Jule wirft Lilly einen schrägen Blick zu. »Willst wohl den Herrgott bestechen? Aber das funktioniert so nicht.«

»Was redest du denn da«, sagt Lilly unwillig. »Ich will niemanden bestechen, ich will nur jemandem etwas zu essen bringen. Das ist alles.«

»Heutzutage kriegt niemand etwas zu essen ohne Bezahlung«, sagt Jule, füllt dann aber Gemüse und Kartoffeln in eine Schüssel.

Lilly denkt, dass Jule früher im Krieg ganz anders gewesen ist. Da hat sie sogar ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um Menschen zu helfen. Und heute fällt es ihr schwer, die Reste vom Mittagessen umsonst herzugeben.

»Dass du mir aber ja das Geschirr zurückbringst!«, verlangt Jule.

»Was denkst denn du!«

Lilly schiebt den Kinderwagen mit den drei Kleinen zum Eppendorfer Baum. Als sie vor der armseligen Vogelscheuche stehen bleibt, weiß sie nicht, wie sie ihr Essen loswerden soll. Wieder hat sie das Gefühl, dass der Mann sie durch die Brillengläser anstarrt.

Sie räuspert sich. »Entschuldigen Sie bitte«, sagt sie.

»Bestimmt nicht!«, sagt der Mann. »Da kann man mich noch so sehr bitten, ich entschuldige nichts.«

»Aber ich wollte doch nur ...«

»Gehen Sie, machen Sie, dass Sie wegkommen. Dies ist mein Platz, und ich will hier alleine stehen.«

»Ja, natürlich«, sagt Lilly erschrocken und drückt ihm das Schüsselchen in die Hand. Wenn er es jetzt fallen lässt, denkt sie, dann kann ich das auch nicht ändern. Der Mann jedoch packt die Schüssel so fest, als wolle er sie zerdrücken.

»Ich hab auch einen Löffel mitgebracht«, sagt Lilly. »Und lassen Sie sich ruhig Zeit, ich komm dann später vorbei und hol die Schüssel ab.«

Schnell geht sie davon und schiebt den Kinderwagen um die nächste Ecke, ohne sich noch einmal umzusehen.

Als sie nach einer Stunde zurückkommt, ist das Essen nicht mehr in der Schüssel, stattdessen liegen ein paar Münzen darin, englische, soweit Lilly sehen kann. Da hat also ein Siegersoldat einem invaliden Verlierer etwas geschenkt.

Lilly findet das schön, obgleich Jule es vermutlich wieder als Herrgottsbestechung angesehen hätte. »Kann ich jetzt bitte meine Schüssel wiederhaben?«, sagt sie.

»Sie haben mich zum Bettler gemacht«, murmelt der Mann.

»Ich dachte doch nur«, verteidigt sich Lilly, »dass Sie vielleicht hungrig sind. Und das Geld, das da jetzt in der Schüssel ist, das hat ein Engländer hineingetan. Dafür kriegen Sie mindestens eine Schachtel Marlboro, und für Zigaretten kann man heutzutage alles kaufen.«

»Nur kein neues Bein«, sagt der Mann.

Lilly schluckt. »Bitte geben Sie mir die Schüssel, ich muss sie zu Hause wieder abliefern.«

Als der Mann nicht reagiert, versucht sie vorsichtig, sie ihm aus der Hand zu nehmen. Er aber hält eisern fest.

Eine alte Frau bleibt stehen und fährt Lilly an: »Was machst du denn da, willst einen Invaliden um sein Erbetteltes betrügen!«

»Aber es ist meine Schüssel«, sagt Lilly.

»Deine Schüssel? Das glaubst du wohl selber nicht.«

Zwei weitere Frauen kommen dazu, die eine greift nach Lillys Arm und versucht sie wegzuzerren. »Lass den armen Mann in Ruhe, aber sofort!«

In Lilly braut sich Trotz zusammen. »Ich geh hier nicht weg«, schreit sie, »bevor er mir meine Schüssel zurückgegeben hat!«

»Das wollen wir doch mal sehen«, faucht die erste Frau und gibt Lilly einen so kräftigen Stoß, dass sie zur Seite taumelt, wodurch der Einbeinige, der immer noch die Schüssel umklammert hält, ins Wanken gerät und zu Boden stürzt. Das Schild fällt neben ihn, die Schüssel geht zu Bruch, klirrend hüpfen die Münzen über den Gehsteig.

»Nun hat sie ihn auch noch umgeworfen«, keift die Frau.

Lilly wird ganz übel vor Schreck. Baby Josi, durch den Lärm aufgewacht, fängt an zu schreien, und das Engelchen schreit sogleich zur Gesellschaft mit.

Ein englischer Jeep von der Military Police fährt vorüber, bremst scharf und setzt zurück. »What’s going on here?«, ruft der Soldat und springt ab.

Die Frauen reden alle durcheinander, sie zeigen auf Lilly. Ein paar weitere Passanten bleiben stehen und betrachten neugierig die Szene. Niemand kümmert sich um den am Boden liegenden Invaliden, alles Interesse richtet sich jetzt auf Lilly.

Der Soldat bemerkt die am Boden liegenden Münzen. »English money«, sagt er, »somebody has stolen English money!«

»Sie war’s, die da war’s«, schreit die erste Frau.

Der junge Militärpolizist, der aussieht, als hätte er gerade eben erst die Grundschule hinter sich gebracht, müht sich um Autorität. »Everybody should disperse«, ruft er, »go to your homes.« Und zu Lilly, die er energisch am Arm packt: »And you come with me to the Station, you are under arrest!«

Vor lauter Schreck hat Lilly all ihr Englisch vergessen. »Das geht doch nicht«, ruft sie, »ich muss meine Kinder nach Hause bringen!«

»We’ll deal with that problem later. No fuss now, don’t cause any trouble!«

To the Station? Fuss? Trouble? Und das Kinderproblem später erledigen? Was bildet sich der Kerl eigentlich ein? Gott sei Dank kann Lilly plötzlich auch wieder englisch reden, und wie sie das kann! Eine Schimpftirade allerersten Ranges bricht aus ihr heraus, sie knallt dem polizeilichen Milchbart ihre ganze Wut an den Kopf (die sich eigentlich mehr auf die alten Weiber und sogar auf den verrückten Invaliden als auf den Soldaten bezieht). Mit vor Aufregung überkippender Stimme teilt sie ihm auf Englisch und Deutsch mit, dass er ein Idiot sei und von nichts eine Ahnung habe und überhaupt noch nicht ganz trocken hinter den Ohren, denn sonst würde er sich nicht anmaßen, to deal with that problem later, das Problem schreiender, hungriger Kinder nämlich, die er offenbar auf der Straße stehen lassen wolle, weil er in ihnen nur fuss und trouble sehen könne, anstatt sich vielleicht mal um diese bösartigen Weiber hier zu kümmern, die nichts anderes zu tun hätten, als hier rumzustehen und sich einzumischen in Dinge, die sie überhaupt nichts angingen. Und der Einzige, der wirklich fuss and trouble mache, das wäre er selbst mit seinem dämlichen Siegerverhalten und überhaupt – Lilly kommt immer mehr in Rage – und überhaupt sei das Ganze absolute Hühnerscheiße.

Dieses Wort – Hühnerscheiße – ist Lillys einziges richtiges Schimpfwort. Es stammt noch aus Staaken, wo Jule das Galitzer Gold im Hühnerstall versteckt hatte, und sie benutzt es relativ selten, um es immer schön frisch zu halten.

Momentan reagiert der Polizist verblüfft und hilflos. Solch eine minderjährige weibliche Furie hat er offenbar noch nicht erlebt. Was allerdings passiert wäre, wenn Lilly weitergemacht hätte und er nach dem anfänglichen Schock zu sich gekommen wäre, will man sich doch besser nicht ausmalen. Kein Deutscher hatte das Recht, einen Siegersoldaten zu attackieren, und sei es auch nur in Worten!

Gott sei Dank greift das Schicksal rechtzeitig ein. Es heißt Schwester Benedicta, ist reifen Alters, groß und dick, trägt trotz des warmen Wetters einen Mantel, hat auf dem Kopf eine Art verrutschter Schwesternhaube und fährt Fahrrad. Das Schicksal Benedicta also kommt im genau richtigen Moment herangeradelt, fährt mitten in den anwachsenden Pulk aufgeregter Menschen, erblickt den am Boden liegenden Einbeinigen, springt ab, knallt dem Militärpolizisten ihr Fahrrad in die Hand, sagt »Da, halt mal« und beugt sich zu dem Invaliden: »Wer hat Sie denn umgehauen?«

»Keiner«, murmelt der Mann, »ich bin ganz von selbst umgekippt.«

»Und das schöne Schild war Ihnen überhaupt keine Stütze?«, feixt Benedicta. »Also hoppla, Junge, vor Gott soll der Mensch nicht im Dreck liegen, sondern aufrecht stehen, und ein Bein ist immer noch besser als gar keins. Kann mir mal jemand helfen?«

Lilly springt herzu und gemeinsam bringen sie den Mann endlich wieder auf sein Bein. Benedicta arrangiert das Schild um seinen Hals, drückt ihm die Krücken in die Hand und klopft ihm auf die Schulter. »Wir sehen uns dann nachher in der Suppenküche«, sagt sie.

Inzwischen haben sich die Neugierigen stillschweigend davongemacht, nur noch Lilly und der Soldat stehen da. Er hält sich am Fahrrad fest, Lilly am Kinderwagen,

»Wer hat denn hier mit Münzen rumgeschmissen?«, fragt Benedicta, beugt sich schnaufend hinunter und sammelt das Geld ein. »Zwei Shilling Sixpence, damit kann man schon was machen.« Sie steckt das Geld ein und wendet sich dem Soldaten zu. »Und du, Billy? Hast mal wieder Autoritätsschwierigkeiten? Mit dir haben sie wirklich den Falschen zum Polizisten gemacht.«

Es ist nicht ganz klar, ob der Angesprochene die Worte verstanden hat. Er grinst etwas unsicher.

»Und wieso musstest du dich ausgerechnet an die kleine Steinhöfer machen? Die hat’s nun wirklich nicht verdient.«

»Aber ... woher kennen Sie denn meinen Namen?«, fragt Lilly verwirrt.

»Ich bin hier so was wie ‘ne Gemeindeschwester. Mein Name ist Benedicta. Ich kümmer mich um die Suppenküche. Und auch noch um ein paar Leute, die’s besonders nötig haben. Zum Beispiel um die Bambergers.«

»Die Bambergers?«, fragt Lilly.

»Die wohnen im gleichen Haus wie du.«

»Nein«, sagt Lilly, »die wohnen da nicht.«

»Doch«, sagt Benedicta, »die haben bloß kein Schild an der Tür.«

»Alle müssen ein Schild haben und auf der Liste stehen.«

»Diese nicht. Und jetzt machst du dich mal besser auf den Heimweg. Oder nein, warte, Billy kann dich nach Hause fahren. Du siehst ziemlich mitgenommen aus. Den Kinderwagen verstauen wir hinten im Jeep. Billy fährt ganz langsam und ich radle nebenher. Ich wollte sowieso mal bei euch vorbeischauen.«

»Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, sagt Lilly.

»Macht nichts. Ich kenne übrigens auch euren Polen, dieses Schwarzmarktgenie. Wenn der sich allzu sehr bereichert hat an anderer Leute Hunger, dann kommt er manchmal in unsere Andachtsbaracke und tut Buße in Form von Brot und Butterschmalz und für besonders große Sünden zahlt er sogar mit Kaffee. Sehr angenehm.«

»Sind Sie denn katholisch?«, fragt Lilly etwas dumm.

»Und ob«, sagt Schwester Benedicta.

»Ach so«, sagt Lilly und nickt, als ob dadurch nun alles vollkommen klar wäre. »Vielen Dank übrigens, dass Sie rechtzeitig eingegriffen haben, weil nämlich dieser da ...«, sie deutet mit den Augen zu dem Soldaten, »das ist wieder mal so einer, der überhaupt nichts begriffen hat.«

»Ach was. Billy ist ein guter Junge. Nur etwas überfordert. Und ziemlich einsam hier. Der stammt aus ’ner großen Familie, weißt du, und er hat schreckliches Heimweh.«

Langsam fährt der offene Jeep den Eppendorfer Baum entlang, hinten der Kinderwagen mit den drei Kleinen, Lilly vorne neben Billy. Schwester Benedicta hält sich am Jeep fest und lässt sich mitsamt dem Fahrrad ziehen.

»Du hast ja auch eine große Familie«, sagt sie.

Lilly nickt. »Und Sie?«

»Eine sehr große Familie. Kloster Seelbach im Schwarzwald.«

»Etwa lauter Nonnen?«

Benedicta grinst. »Jedenfalls keine Mönche.«

»Schon lange?«

»Seit sechsunddreißig Jahren.«

Lilly seufzt. »O du meine Güte. Und wieso sind Sie hier?«

»Wieso, wieso. Weil man mich hergeschickt hat natürlich.« Sie schaut in den Kinderwagen. »Deine drei Kleinen sind sehr verschieden«, sagt sie, »wer ist denn nun wer?«

Lilly erklärt: »Der Winzling da, der heißt Julius und ist der Sohn von unserer Jule und dem Schwarzmarktgenie. Und Josi und Engelchen sind die Zwillinge von Mama und Onkel Jupp, wobei es der Gerechtigkeit halber so aufgeteilt ist, dass Josi Mama gehört und Engelchen mir. Gewissermaßen.«

»Etwas wirre Verhältnisse, was?«, fragt Benedicta.

»Nur, wenn man sie nicht durchschaut«, antwortet Lilly, und vorsichtshalber – schließlich ist die Frau Nonne – fügt sie noch hinzu: »Wir sind nämlich alle gegen Scheidung. Mein Papa hat’s auch von Anfang an gewusst und inzwischen ist er einverstanden. Er kann nämlich nicht ohne Familie leben.«

»Aha«, sagt Benedicta. »Durchschaubar oder nicht, Hauptsache, Liebe. Du weißt ja wohl: ›Und die Liebe ist die größte unter ihnen.‹ Erster Korinther dreizehn, Vers dreizehn.«

Lilly seufzt. »Da bin ich aber froh, dass Sie das auch finden.«

Vor der Haustür in der Sieglindenstraße angekommen, laden sie den Kinderwagen ab. Josi und Engelchen hat die Fahrt in dem schlecht gefederten Jeep offenbar gut gefallen, der kleine Julius schläft wie üblich.

»Also danke«, sagt Lilly, »vielen, vielen Dank.«

»Hör mal ...«, sagt Benedicta. »Du könntest was für mich tun. Oder besser für den armen Billy, damit der nicht vor lauter Einsamkeit noch irgendwelchen Unfug macht. Du sprichst ja offenbar gut Englisch – jedenfalls kannst du fabelhaft schimpfen. Geh doch mal mit ihm spazieren ... oder so. Seit Juli ist doch der Kontakt zwischen den Besatzern und der Bevölkerung erlaubt.«

»Ich mit einem englischen Polizisten? Nein ... also ich glaube wirklich, nein, das kann ich nicht. Da würde ich mich doch irgendwie schämen.«

»Schämen, wieso?«

»Weil ich nicht aussehen will wie all diese Mädchen, die ... na, Sie wissen schon. Erst himmeln sie die deutschen Uniformen an und dann, übergangslos, die englischen. Für ein bisschen mehr Essen und ein paar Strümpfe.«

»Du himmelst ja nicht. Und dass du zu essen hast und auch Strümpfe, ist nicht dein Verdienst.«

»Ja ...«, sagt Lilly und macht sich betreten an dem Kinderwagen zu schaffen. »Also ich geh jetzt. Und nochmals vielen Dank.«

»Billy hilft dir, den Kinderwagen hochtragen. Come on, Billy, you help her the Kinderwagen carry up.«

Billy nickt und packt ohne Umstände den vorderen Teil des Wagens, sodass Lilly gar nichts anderes übrig bleibt, als zuzugreifen und hinter ihm herzustolpern.

»Und dass du ihn ja nicht kränkst«, ruft Benedicta hinter Lilly her. »Er kann nämlich nichts dafür, dass er Engländer ist.«

Da wendet Lilly sich noch einmal zurück – als Engländer-Feindin will sie nun auf gar keinen Fall gelten. »Darum geht’s doch gar nicht«, ruft sie, »meine Mutter ist halbe Engländerin und meine erste Liebe war ein Engländer!«

Benedicta stößt ein dröhnendes Gelächter aus. »Na, dann ist ja alles in Ordnung.«

Als die beiden vor der Steinhöfer’schen Wohnung den Kinderwagen absetzen, lehnt die Neuhauser oben im zweiten Stock über das Treppengeländer. Hinter ihr steht ihr Sohn Albert, ein magerer, pickeliger Siebzehnjähriger. »Ist doch typisch, nun hat sie sich auch noch ‘nen Tommy zugelegt! Keine Würde hat diese Familie«, sagt sie zu ihrem Sohn.

Und Albertchen quengelt: »Und was wird aus mir, Mutti? Ich find sie nämlich ganz toll!«

»Lass mich mal machen, Jungchen, ich denk mir was aus.«

Inzwischen ist Markus erschienen. Er stutzt, macht einen hastigen Schritt nach rückwärts und knallt die Tür Lilly vor der Nase zu.

»Sorry«, sagt sie zu Billy, »that was my brother, he is a bit nervous. The war, you know. Awful memories.« Dann bedankt sie sich noch einmal, schließt die Tür wieder auf und verschwindet mit dem Kinderwagen in der Wohnung.

Drinnen wartet Markus und in der Tat wirkt er hochnervös. »Was ist denn passiert?«, fragt er. »Hast du irgendetwas angestellt?«

Lilly grinst. »Das war nur mein neuer Freund. Er hat mir mit dem Kinderwagen geholfen.«

»Du spinnst wohl!«, faucht Markus. »So jemanden hier raufzubringen. Ist dir denn nicht klar, dass wir – mit unseren Schwarzmarktwaren in der Besenkammer – auf einem Pulverfass sitzen?«

»Billy wird’s schon nicht anzünden. Er ist ein guter Junge. Und so einsam. Ich hab versprochen, mit ihm spazieren zu gehen.«

Daraufhin kriegt Markus einen Wutanfall. »Das wird ja immer besser! Erst treibst du’s mit einem verheirateten Padre und jetzt mit einem Polizisten! Willst du etwa sein wie all die anderen Weiber, die sich für eine Tafel Schokolade irgendeinem hergelaufenen Tommy an den Hals werfen?«

Lilly beginnt sich zu amüsieren. »Ich hab noch nie gern Schokolade gegessen«, sagt sie.

Ungefähr eine Stunde später, während der Lilly zusammen mit Jule die Kleinen versorgt hat, klingelt es an der Wohnungstür. Lilly will öffnen, Markus versperrt ihr den Weg. »Etwa wieder dieser Polizist?«

»Weiß ich doch nicht.«

»Den kannst du hier nicht reinlassen.«

»So jemand kann sich ohne weiteres Einlass verschaffen, weißt du doch. Also wollen wir ihn besser gar nicht erst reizen.«

Sie schiebt Markus zur Seite. Vor der Tür steht Benedicta. »Ich dachte, du könntest mal mit mir kommen«, sagt sie zu Lilly.

»Wohin?«

»Zu Bambergers. Weil du die ja noch nicht kennst.«

»Sind das die Leute, die hier wohnen, aber nicht auf der Liste stehen?«

»Stimmt«, sagt Benedicta. »Sie haben sich nämlich geschworen, sich nie wieder irgendwo registrieren zu lassen. Also kommst du?«

Lilly ruft Markus zu: »Ich bin gleich wieder da.« Im Treppenhaus dann fragt sie vorsichtig: »Ist mit denen irgendetwas nicht in Ordnung?«

»Stimmt«, sagt Benedicta wieder. »Mit denen ist so ungefähr nichts in Ordnung. Außer dass sie überhaupt am Leben sind. Sie kommen beide aus Auschwitz.«

»O Gott!«, sagt Lilly.

»O Gott!«, bestätigt Benedicta. »Warum hat er das zugelassen. Das frag ich mich jeden Tag.«

»Aber Sie sind doch katholisch«, sagt Lilly.

»Was hat denn das damit zu tun?«

»Ich dachte nur ...«, sagt Lilly unsicher, »ich dachte, die Katholiken dürfen überhaupt keine Fragen stellen, weil bei ihnen sowieso alles reglementiert ist und weil ihr katholischer Gott ...«

»Hör auf, Mädchen. Es gibt nicht meinen Gott und nicht deinen Gott und nicht Bambergers Gott, es gibt nur einen, und damit basta.«

»Manchmal denke ich, es gibt überhaupt keinen«, sagt Lilly leise.

»Ich auch, was glaubst denn du. Aber ohne Zweifel kann es keine Gewissheit geben.«

»Und wenn man nun überhaupt nicht mehr glauben kann?«

»Dann muss man eben so tun, als ob, und weiterhin die Gebote des Herrn erfüllen. Irgendwann wird er sich dann schon erbarmen und einem den Glauben wiederschenken.«

»Und wenn er’s nicht tut?«

»Dann hast du’s nicht richtig gewollt. Aber Schluss jetzt mit der Götterei, darüber können wir später reden. Momentan geht’s um die Bambergers. Sie haben sich in Auschwitz getroffen und unmittelbar nach dem Krieg geheiratet. Klingt nett, nicht? Wie eine ganz normale Ferienbekanntschaft, aus der dann eine Ehe geworden ist. Dabei ist es das größte Grauen und die größte Anomalität überhaupt!« Plötzlich kommen Benedicta die Tränen. »Ach, verdammte Scheiße!«, flucht sie.

Eine fluchende Nonne in Tränen – wie verhält man sich denn da? Unbeholfen streichelt Lilly Benedictas Arm.

Die zieht ein großes Taschentuch aus dem Ärmel, schnauzt sich und wischt sich die Augen. »Allzu viel Elend momentan!«, grummelt sie. »Da kann man kaum noch gegen anbeten. Und nun komm endlich mit, die Bambergers warten.«

»Auf mich?«

»Ich hab gesagt, dass du kommst, hab dich ihnen sozusagen verordnet.«

»Ich bin doch keine Medizin«, wehrt sich Lilly.

»Wer weiß. Man soll nichts unversucht lassen.«

Lilly und Engelchen

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