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3. Kapitel
ОглавлениеUnd so beginnt Lillys Beziehung zu den Bambergers, zu den Leuten, die in der Parterrewohnung mit den zugenagelten Fenstern leben. Das Schicksal in Form einer Nonne beschränkt sich nämlich keineswegs nur auf das Schlichten eines kleinen Straßenkrawalls, es hat Weitreichenderes im Sinn.
»Du gehst sie einfach immer mal besuchen, ganz nachbarlich, auf einen kleinen Schwatz«, hat Benedicta gesagt. »Und bringst eins von deinen Babys mit, das erleichtert die Kommunikation.«
»Die Babys bestimmt nicht«, hat Lilly sich entrüstet. »Also ich selbst ... wenn Sie meinen, dass ich helfen kann, ich werd’s versuchen. Aber eins von meinen Babys als Heilmethode zu gebrauchen, das kommt nicht infrage. Jule würde das auch sowieso nicht erlauben und Mama schon gar nicht.«
»Bleibt also dein Engelchen«, hat Benedicta gesagt, »dafür bist du verantwortlich.«
»Stimmt. Und weil ich verantwortlich bin, werd ich den Teufel tun und Engelchen in diese muffigen Räume ohne Licht und Luft bringen! Da wird’s dann womöglich noch selber krank.«
»Lass mal den Teufel aus dem Spiel, Mädchen, und sorg lieber dafür, dass die Räume nicht länger ohne Licht und Luft bleiben.«
Das scheint sehr viel leichter gesagt als getan.
Miriam Bamberger ist eine magere, nervöse, schreckhafte Person, angeblich erst zweiundzwanzig Jahre alt, doch mindestens doppelt so alt aussehend. Ihr Mann, Josua, könnte ihr Vater sein, nicht nur nach der äußeren Erscheinung, sondern auch seinem Alter gemäß. Er ist der Ruhigere von beiden, trotz seiner Schwäche und Hinfälligkeit macht er sich ständig Sorgen um Miriam, lässt sie nie aus den Augen, will am liebsten, dass sie den ganzen Tag im Bett oder auf dem Sofa liegen bleibt, bringt ihr Kissen und Decken und etwas zu essen, sitzt neben ihr, hält ihre Hand und sagt immer wieder, dass sie am Leben bleiben muss, sie als Einzige, sie als Letzte, sie als Hoffnung.
»Ich hab aber keine Hoffnung mehr«, sagt Miriam dazu.
»Du bist die Hoffnung«, sagt Josua.
Sie waren von den Engländern in die Wohnung, die leer stand, weil die Vormieter in den letzten Kriegstagen umgekommen waren, eingewiesen worden, was, wie so vieles, die Neuhauser ärgerte. »Eine Sechszimmerwohnung für zwei Leute! Na klar, sind ja auch Juden, die kriegen jetzt alles nachgeschmissen.«
In der Wohnung, die im Moment nur durch ein kleines Hoffenster gelüftet werden kann, hängt der immer strenger werdende Geruch von Hühnersuppe. Josua ist der Meinung, dass Hühnersuppe das Beste ist für kranke Körper und kranke Seelen.
Miriam will aber keine Hühnersuppe essen, weil der Geschmack sie an die Geburt ihres einzigen Kindes erinnert. Dieses Kind ist, wie Benedicta Lilly erzählt, im Ghetto von Lodz zur Welt gekommen, und sein Vater Leo, Miriams erster Mann, hatte es geschafft, von der arischen Seite her zwei Hühner für seine Frau ins Ghetto zu schmuggeln. Das Fleisch war weiß und zart, und der Geruch der Suppe quoll aus dem engen Raum, in dem Leo und Miriam mit sieben Familienangehörigen hausten, hinaus auf die Straße. Dort versammelten sich die hungernden Kinder der Nachbarschaft, um das, was sie nicht essen konnten, wenigstens zu riechen.
»Ich kann diese Suppe nicht ertragen«, sagt Miriam zu Josua, »sie ekelt mich an. Und sie macht die anderen nur neidisch.«
»Wer reichlich Hühnersuppe isst, kommt wieder auf die Beine«, antwortet Josua und zwingt Miriam die Suppe Löffel für Löffel zwischen die Lippen. »Das hat man bei uns daheim schon immer gewusst. Dein Körper hat’s nur vergessen, im Lager, aber auf die Dauer wird er sich daran erinnern.«
Als Lilly das erste Mal in die Bamberger’sche Wohnung kommt, will sie am liebsten sogleich wieder weglaufen. Die Dunkelheit – es brennt nur hier und da eine kleine Funzel –, die Gerüche, die beiden Menschen, die die Besucher anstarren, feindselig, ängstlich, abweisend.
»Da bring ich Ihnen Elisabeth Steinhöfer aus dem ersten Stock«, verkündet Benedicta munter, »die will sich mal um Sie kümmern.«
»Wir brauchen niemanden«, sagt Josua.
»Aber vielleicht braucht Elisabeth Sie«, sagt Benedicta.
Wozu Lilly diese beiden Menschen brauchen könnte, ist ihr unklar. Aber sie sagt nichts. Sie steht nur abwartend da und hofft dringend, sich schnell wieder verziehen zu können.
»Und als Erstes will sie nämlich die Bretter von den Fenstern nehmen«, fährt Benedicta fort, »damit hier endlich mal gelüftet werden kann. Und Billy wird ihr dabei helfen.«
»Nein«, sagt Josua, »auf gar keinen Fall. Die Fenster bleiben vernagelt. Sonst könnte man zu uns reinsehen.«
»Und was sieht man da?«, poltert Benedicta. »Einen Mann, der Hühnersuppe kocht, und eine Frau, die sie nicht essen will.«
»Sie muss sich gewöhnen«, sagt Josua. »Haben Sie mir die zwei Hühner mitgebracht, um die ich Sie gebeten habe?«
»Da liegt doch noch eins in der Küche«, sagt Benedicta. »Und es ist momentan nicht einfach, ein frisches Huhn zu besorgen.«
»Nicht mal das ...«, murmelt Josua, »nach Ghetto und Lager und Todesmarsch, nicht mal ein frisches Huhn.«
»Ich will kein Huhn«, flüstert Miriam. »Und ich will auch nicht, dass jemand zu uns reinsieht. Wir leben im Versteck.«
Lilly hat eine Idee. »Wir haben im Keller noch die alten Rollos von der Verdunkelung. Die könnte man bei Ihnen wieder anbringen. Wenn Sie dann die Fenster öffnen, haben Sie mehr frische Luft und bleiben trotzdem im Versteck.«
»Nein«, sagt Josua.
»Wie kann man nur so dickköpfig sein!«, schimpft Benedicta. »Elisabeth hatte nämlich vor, bei ihren Besuchen künftig ihr Baby mitzubringen. Aber wenn es hier so dunkel und schlecht gelüftet ist, ist das unmöglich.«
»Wir brauchen keine frische Luft und keine Rollos und kein Baby. Wir brauchen unsere Ruhe.«
»Baby ...?«, flüstert Miriam. »Sie hat ein Baby! Hat sie es gefunden?«
Lilly zuckt zusammen. »Was reden Sie denn da?«
»Gefunden ...«, fährt Miriam leise fort, »am Straßenrand in Lodz zwischen dem Ghetto und dem Sammelplatz? Da hab ich es hingelegt, ganz schnell und heimlich. Und bin weitergegangen und hab mich nicht umgesehen. Sonst hätten sie was gemerkt und mich geschlagen. Mit dem Gewehrkolben. Ich hab mein Baby einfach liegen gelassen, das war falsch, weil sie mich ja doch nicht ins Gas geschickt haben.«
Schwester Benedicta setzt sich zu Miriam auf das Sofa und legt ihr einen Arm um die mageren Schultern. »Du hast dein Baby verlassen, um es zu retten, das war nicht falsch, das war sehr tapfer. Im Lager hätte es nicht überlebt. Darum hast du es an den Wegrand gelegt, damit eine polnische Frau kommt und es rettet. Jetzt ist dein Baby schon zwei Jahre alt und kann schon laufen und reden und die polnische Frau ist gut zu ihm.«
Miriam starrt Lilly ins Gesicht. »Sie waren doch in Lodz, nicht? Auf der arischen Seite? Und Sie kennen den Weg vom Ghetto zum Sammelplatz.«
Lillys Hals schnürt sich zusammen. Sie versucht, gegen das Würgen anzuschlucken, aber das Gefühl geht nicht weg. Mühsam bringt sie ein paar Worte heraus: »Ich war noch nie in Lodz.«
»Warum wollen Sie mir mein Baby nicht wiedergeben?«, jammert Miriam. »Es ist doch das Einzige, das ich noch habe. Alle anderen sind tot. Nur mein Baby und ich, wir haben überlebt.«
Benedicta tätschelt Miriams Schulter. »Das stimmt, ihr beide habt überlebt. Aber wenn du weiterhin nicht isst und keine frische Luft an dich ranlässt, dann wirst du nicht mehr lange überlebt haben. Und Elisabeths Baby ist nicht dein Baby, es ist nämlich erst vier Monate alt. Und Elisabeth ist auch nicht die Mutter, sondern die große Schwester, verstehst du?«
»Große Schwester?« Miriam betrachtet Lilly, für kurze Zeit klärt sich ihr Blick. »Heißt du Elisabeth?«
Lilly nickt. »Aber die meisten Leute nennen mich Lilly.«
»Meine große Schwester hieß Franca. Sie hat beim Kommandanten das Silber putzen dürfen. Und dann hat er sie doch in die Gaskammer geschickt. Ich hab immer bloß Stiefel geputzt, das war besser. Ich hab nämlich überlebt. Aber ich weiß nicht, wofür.«
Lilly wirft Benedicta einen hilflosen Blick zu. Die steht vom Sofa auf und sagt: »Also dann wollen wir mal. Lilly sucht die Verdunkelungsrollos und Billy kommt heute nach Dienstschluss und nimmt von den Seitenfenstern die Holzverschalung ab. Zwar kann da sowieso niemand reinsehen, aber er wird trotzdem die Rollos befestigen. Zur Beruhigung.«
»Nein«, sagt Josua.
»Doch«, sagt Benedicta. »Sonst muss ich nämlich leider das letzte Huhn wieder mitnehmen und kann auch bestimmt kein weiteres mehr auftreiben.«
»Was haben die Hühner mit den vernagelten Fenstern zu tun?«, fragt Josua ärgerlich.
»Überhaupt nichts«, sagt Benedicta. »Und dabei wollen wir es auch belassen. Komm, Lilly, wir gehen. Und am Abend sind wir wieder hier.«
Als Lilly und Benedicta die Wohnungstür hinter sich geschlossen haben, kann Lilly ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
»Ist schon in Ordnung, Mädchen«, sagt Benedicta, »heul dich ruhig aus.«
»Sie hat ihr Kind an den Straßenrand gelegt«, schluchzt Lilly.
»Das haben manche getan. Und die waren die besten Mütter.«
»Und die polnischen Frauen haben die Kinder gefunden und mitgenommen?«
»So war’s. Jedenfalls hat das in einem Brief gestanden, den unsere Mutter Oberin aus Polen gekriegt hat. Von ihrem Neffen, einem deutschen Soldaten und guten Katholiken. Der ist fast verrückt geworden an dem, was er dort hat erleben müssen.«
»Und ... und diese polnischen Frauen, die haben dann so getan, als ob das ihre Kinder wären?«
»Genau. Und wenn sie dann angezeigt worden sind, von den lieben Nachbarn oder so, dann ging’s ihnen an den Kragen. Manche sind auch erpresst worden, haben gezahlt für ihr jüdisches Baby. Und dann sind sie mit dem Kleinen zur Kirche gerannt und der Pfarrer – wenn es ein guter Pfarrer war – hat für sie gelogen und falsche Eintragungen ins Kirchenbuch gemacht. Mit den kleinen Mädchen war’s leichter, aber die jüdischen Knäblein waren ja beschnitten. Miriams Baby war ein Mädchen.«
»Ist Miriam etwas ... ich meine, ist sie etwas geistesgestört?«
»Ja, sicher, gestört im Geist und in der Seele und im Herzen. Aber sie ist nicht verrückt, falls du das meinst. Nur krank. Und sie wird irgendwann gesunden, das heißt, wenn sie überhaupt am Leben bleibt.«
»Könnte man denn nicht nach ihrem Baby suchen, jetzt, da der Krieg zu Ende ist?«
»Das könnte man, aber es wäre sinnlos. Das Kind hat inzwischen eine andere Mutter, die hat ein großes Risiko auf sich genommen, sie wird’s nicht wieder hergeben wollen. Und der gute Pfarrer wird auch nicht helfen, weil das Kind ja jetzt katholisch ist. Beide, der Pfarrer und die Frau, werden denken, dass sie nicht nur einen kleinen Körper, sondern vor allem eine kleine Seele gerettet haben.«
Lilly sieht Schwester Benedicta von der Seite an. »Und was denken Sie?«
»Ich?« Benedicta zuckt die Schultern. »Als Nonne bin ich meinem katholischen Glauben verpflichtet, und der besagt, dass die Taufe ein Sakrament ist, das man nicht rückgängig machen kann.«
»Aber das ist doch ein jüdisches Kind.«
»Wenn es noch lebt, ist es das jetzt nicht mehr. Übrigens war Jesus Christus auch mal ein jüdisches Kind. Und nun Schluss mit dem Gerede. Du gehst jetzt am besten in den Keller und suchst nach den Rollos. Billy kommt um fünf. Alles klar?«
Bevor Lilly noch antworten kann, ist die große dicke Benedicta bereits leichtfüßig zur Tür hinaus, schwingt sich auf ihr Rad und strampelt davon. »Aber mein Engelchen bringe ich ihr nicht!«, ruft Lilly hinter ihr her.
Markus steht noch immer in der Wohnung auf dem Flur. Offenbar hat er die ganze Zeit auf Lilly gewartet. »Ich verbiete dir«, schreit er, »dass du dich mit diesem Polizisten rumtreibst!«
Obgleich Lilly sich ärgert, versucht sie es vorerst noch mit lässiger Ironie. »Er ist aber wirklich sehr nett! Er hat mich und die Babys eingeladen zu einer flotten kleinen Trümmertour im Jeep. Und ich kann dir nur sagen, es ist ein tolles Gefühl, zur Abwechslung mal oben auf einem Polizeiwagen zu sitzen, statt unten auf der Straße entlangzukrauchen.«
Markus schnappt nach Luft. »Das ... das finde ich wirklich würdelos!«
»Ach ja? Und das, was du machst, nämlich in der Talstraße und am Steintorplatz halb verhungerten alten Frauen für ein paar Kaffeebohnen ihr letztes Paar Ohrringe abzuknöpfen, findest du das würdevoll?«
»Niemand zwingt sie dazu!«
»Mich hat auch niemand gezwungen, ich bin ganz und gar freiwillig mit Billy rumgefahren.«
»Was für einen Quatsch redest du da! Das eine hat mit dem anderen nicht das Geringste zu tun.«
»Und du nicht mit mir. Also hör gefälligst auf, dich einzumischen.«
»Ich fühl mich aber verantwortlich für den Haushalt hier und also auch für deinen guten Ruf.«
»Hühnerscheiße! Mein Ruf geht dich überhaupt nichts an. Nicht mal verwandt bist du mit mir.«
Ihr dummer Streit wird immer lauter und unsachlicher. Schließlich steigern sie sich beide in ein derartiges Geschrei, dass Mama auf dem Flur erscheint. »Lass deinen Bruder in Ruh!«, sagt sie streng zu Lilly. »Er war die ganze letzte Nacht unterwegs und hat Ruhe verdient.«
»Er ist nicht mein Bruder, verdammt noch mal!«, schreit Lilly. »Mein Bruder ist gefallen, falls du dich noch erinnerst. In den letzten Kriegstagen im Kampf um Berlin. Und dieser hier ist nichts weiter als ein dämlicher Schwarzmarkthändler, der sich in unsere Familie reingemogelt hat und sich jetzt anmaßt, mir Vorschriften zu machen. Aber du musst ihn natürlich verteidigen, vor allem, wenn’s gegen mich geht. Typisch!« Mit diesen Worten verschwindet sie in ihrem Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu.
Wirklich, Lilly will sich nicht aufregen, und eigentlich findet sie’s sogar ganz nett, dass sie in Markus solch ein wütendes Beschützertum hervorrufen kann. Aber diese Einmischung von Mama trifft bei ihr auf einen wunden Punkt. Lillys großer Bruder Joachim ist immer Mamas Lieblingskind gewesen. Und Lilly konnte sich früher noch so sehr anstrengen – im Vergleich mit dem wunderbaren Joachim, der sich übrigens keineswegs anstrengte, war das alles nichts. Jetzt ist Joachim tot, und weil Mama das nicht aushalten kann, versucht sie aus Markus ihr neues Lieblingskind zu machen.
Lilly nimmt das Engelchen aus der Wiege und streichelt und küsst es. »Gut, dass ich dich hab!«, flüstert sie. »Bei uns beiden ist wenigstens alles sonnenklar: Du bist mein Lieblingskind und ich bin deine Lieblingsmutter – fertig, aus.« Und das Engelchen lacht über sein ganzes rundes Gesichtchen.
Es klopft an der Tür. Onkel Jupp steht da, den Kopf etwas schief gelegt in der bei ihm jetzt so typischen Aufmerksamkeitshaltung, den Blindenstock in der Hand. »Darf ich reinkommen?«
»Natürlich.«
Vorsichtig tastend geht er ins Zimmer und setzt sich auf Jules Bett. »Was war denn das eben?«
»Ach nichts. Markus und ich haben uns nur ein bisschen gekracht. Und ohne Mama hätten wir uns bestimmt gleich wieder vertragen. Aber sie muss sich ja immer einmischen.«
Darauf geht Onkel Jupp nicht ein. Er sagt nur: »Du hast einen neuen Freund?«
»Ein dummer Witz. Und der blöde Markus hat’s ernst genommen.«
»Wahrscheinlich ist er eifersüchtig.«
»Auf mich? Das glaubst du doch wohl selber nicht.«
»Markus vermisst seine Familie. Der Vater ist tot, Mutter und Schwester sind fort. Jetzt sind wir eben seine Ersatzfamilie. Und ich will nicht, dass in der Familie gestritten wird. Markus ist ein guter Junge.«
Lilly grinst. »Billy ist auch ein guter Junge. Sagt Benedicta. Alle sind sie gute Jungs.«
»Benedicta? Die Nonne?«
»Wieso, kennst du sie?«
»Miroslaw hat mir von ihr erzählt. Offenbar jagt sie ihm einen Mordsrespekt ein.«
»Mir auch«, sagt Lilly.
»Kommst du jetzt bitte mit mir und entschuldigst dich bei deiner Mutter?«
»Wofür?«
»Dass du sie traurig gemacht hast.«
»Sie macht mich viel öfter traurig als ich sie.«
»Das mag sein. Aber Trauer kann man nicht abmessen.«
»Ich weiß ja nicht mal, was ich zu ihr sagen soll.«
»Dann sagst du eben gar nichts. Komm einfach mit mir und tu, als ob nichts gewesen wäre. Bitte, Kind.«
Lilly seufzt. »Von mir aus. Es war nur gut, wenn sie dann auch so täte.«
Mama kniet auf einem Kissen im Wohnzimmer am Boden, Baby Josi liegt neben ihr. »Ich glaub, sie kriegt einen Zahn«, sagt Mama, »sie stopft sich fortwährend ihre Fingerchen in den Mund.«
»Jetzt schon?«, fragt Lilly.
»Sie ist viereinhalb Monate alt, da fängt das Zahnen langsam an.«
Als Onkel Jupp sich zu seinem Sessel hingetastet hat, legt Lilly ihm das Engelchen auf den Schoß. Sie weiß, dass er’s gerne hält. Sie lehnt gegen die Sessellehne und beobachtet ihre Mutter. So jung und zart sieht sie aus, denkt Lilly, die wieder mal das Gefühl hat, von ihnen beiden die Ältere zu sein. Bevor Papa damals nach Afrika gegangen ist, hat er zu seiner Tochter gesagt: »Wenn es allzu schwierig wird mit Mama, dann musst du sie einfach zu deinem Kind machen, das hilft.«
Damals hat Lilly das nicht so recht verstanden, ist jedoch unbewusst dem Rat ihres Vaters fast immer gefolgt. Jetzt kniet sie sich neben ihre Mutter, gibt ihr einen Kuss auf die Wange und sagt versöhnlich: »Eigentlich hab ich den Markus ja ganz gern.«
Mama nickt lächelnd. »Ich auch.«
»Und weißt du, was mir grad eben einfällt«, fährt Lilly fort, »nach viereinhalb Monaten ist es wirklich an der Zeit, Josi und Engelchen zu taufen. Dann könnte Markus für beide Taufpate sein und wäre damit schon fast mit uns verwandt.«
»Taufen?«, sagt Mama. »Ich weiß nicht so recht. Der Glaube an Gott ist mir im Krieg verloren gegangen.«
Lilly denkt an Benedicta. »Vielleicht sollte man dennoch seine Gebote erfüllen, damit er sich schließlich erbarmt und einem den Glauben wiederschenkt.«
Verwundert sieht Mama ihre Tochter an. »So etwas hab ich von dir ja noch nie gehört.«
»Na ja«, sagt Lilly und schämt sich ein wenig. Denn sie weiß ganz genau, dass sie die Taufe eigentlich nicht aus Gottesgehorsam vorgeschlagen hat, sondern vor allem, um das Engelchen noch enger an sich zu binden. Eine evangelische Taufe selbstverständlich, und damit wird sie sich ja vielleicht einen guten Pastor zum Verbündeten machen.
Am Abend kommt Billy. Die schwere Werkzeugtasche, die er über dem Arm trägt, gibt ihm fast ein ziviles Aussehen.
Billy, groß und blond und breitschultrig. Seine Hände wirken geschickt. Während Benedicta drinnen die Bambergers ablenkt, schraubt er draußen an den Seitenfenstern die Holzverschalung ab. Lilly beobachtet ihn.
»Woher kannst du so gut Englisch?«, fragt er.
»Meine Mutter ist in Sussex aufgewachsen und hat mit uns Kindern immer englisch gesprochen.«
»Schön, wenn man eine zweite Sprache lernt«, sagt Billy.
»Jetzt hast du ja auch Gelegenheit dazu.«
»Ja, schon. Aber ich bin nicht klug genug. Und ich hab nie richtig gelernt, wie man lernt. Dazu hatte ich keine Zeit, es war zu viel Arbeit auf dem Hof. Ich bin auch nie irgendwo hingefahren, nur gelegentlich nach Morpeth, das ist unsere nächste Kleinstadt. Und dann kam der Krieg, und jetzt bin ich in Deutschland.«
»Und jetzt hast du Heimweh.«
»Ich vermisse nur meine Familie. Und den Hof. Und die Tiere.«
»Wie alt bist du?«, fragt Lilly.
»Im Juni war ich zweiundzwanzig.«
»Du siehst viel jünger aus.«
»Und wie alt bist du?«
»Siebzehn«, sagt Lilly, dabei ist sie doch erst sechzehn.
»Und du siehst älter aus«, sagt er. »Gehst du mal mit mir spazieren?«
»Ich glaube, das ist unmöglich. Meine Eltern würden es verbieten.«
Er wirft ihr einen skeptischen Blick zu. »Deine Eltern? Warum versteckst du dich denn hinter denen? Du bist es doch selbst, die nicht mit mir gehen will. Wegen der Uniform.«
»Nein, nein ... oder« – Lilly entschließt sich zur Aufrichtigkeit – »oder doch etwas. Wegen all der anderen Mädchen, dieser ... na, du weißt schon. So will ich nicht sein.«
»Bist du ja auch nicht«, sagt er, stapelt die Bretter aufeinander und packt sein Werkzeug ein. »Das hab ich schon vorhin bemerkt, als du mich so angeschrien hast. Die tut’s nicht für Schokolade, hab ich gedacht. Und wenn du willst, treffen wir uns eben im Dunkeln, wenn uns keiner sieht.«
»Ich weiß nicht«, sagt Lilly.
»Also bis morgen«, sagt er. »Und nimm das Holz mit rein, das brennt gut. Weil ja der Winter kommt.«
»Du wolltest doch noch die Rollos festschrauben.«
»Morgen«, sagt er, »morgen schraub ich die Rollos fest und geh mit dir spazieren.«
»Na«, fragt Benedicta später, »hast du dich mit Billy verabredet?«
»Ich weiß nicht«, sagt Lilly wieder.
»Er ist aber ein guter Junge.«
»Mag ja sein. Aber ich will nicht. Wegen all der anderen Mädchen, die jetzt mit den Engländern gehen. Und auch wegen der schrecklichen Sachen, die ich mit Soldaten erlebt habe. Mit Engländern und Deutschen.«
»Dafür kannst du doch den armen Billy nicht verantwortlich machen.«
»Tu ich auch gar nicht. Aber deshalb muss ich doch nicht gleich mit ihm spazieren gehen.«
Schwester Benedicta grinst. »Spazierengehen ist nun wirklich nicht so schlimm. Und außerdem hat Billy eine Verlobte zu Haus. Er hat ihr die Treue geschworen.«
»Warum wollen Sie uns eigentlich unbedingt zusammenbringen?«
»Weil es immer nützlich ist, auf gutem Fuß mit der Polizei zu stehen.«
Im Laufe der nächsten Wochen gelingt es Billy tatsächlich, etwas mehr Licht und Luft in die Bamberger’sche Wohnung zu bringen; geht Lilly zur Belohnung mehrmals mit Billy im Dunkeln spazieren; beginnt Miriam Bamberger ihre Hühnersuppe freiwillig zu essen, aber nur, wenn sie vorher das Engelchen halten darf; werden die ungleichen Zwillinge Josephine und Angelika Steinhöfer ohne großes Zeremoniell in der St.-Johannis-Kirche getauft; spendiert der doppelte Taufpate Markus dafür dem Pastor ein Viertelpfund echten Bohnenkaffee; erleidet selbiger Taufpate trotz neuer Quasiverwandtschaft einen weiteren Wutanfall; baut Papa in der Küche einen neuen Ofen ein; werden Josi und Angelika gegen Pocken geimpft; kommt der Padre auf der Durchreise nach England zu Besuch und sieht Lilly immer so merkwürdig an; erweist sich Billy schließlich als ein doch nicht ganz so guter Junge; lernt Lilly die Dunkelheit des Alsterparks aus mehreren Gründen schätzen; erweisen sich Billys große Hände als nicht nur handwerklich geschickt; schenkt Billy Lilly wie versprochen nicht eine einzige Tafel Schokolade.
Wenn Billy und Lilly am Alsterufer beisammensitzen, dann erzählen sie einander gern von ihren eigentlichen Liebsten.
Lilly steckt dafür kurzerhand den Padre Jeremy in ihr bisher unbewohntes Luftschloss – nicht den ernsten, ungeschickten, blickverwirrten Jeremy der Wirklichkeit, sondern jenen ihrer alten Träume, den leidenschaftlichen, wilden, ihr vollkommen ergebenen Jeremy. Und Billy führt ihr seine lachende, stramme Kate vor Augen, wie sie hinten im Kuhstall mit aufgeknöpfter Bluse auf ihn wartet.
Diese Liebeserklärungen an das Ferne haben eine überraschend anregende Wirkung auf das Nahe.
Doch sind die beiden nicht etwa ineinander verliebt und ihre Sehnsüchte beziehen sich auch keineswegs aufeinander. Sie teilen nur ihre Einsamkeit, sie rücken zusammen und wärmen sich in einer kalten, dumpfen, desinteressierten Welt, deren Optimismus und Lebenswille durch eine Weltkatastrophe lahm gelegt worden ist. Dass sie dabei manchmal sehr eng zusammenrücken und sich die Begrenzungen ihrer eigenen Körper verwischen, ändert kaum etwas an dem grundsätzlichen Abstand. Nichts fließt hier wirklich ineinander, außer einem trostreichen körperlichen Strom, der sofort abreißt, wenn sie sich trennen.
Begegnen der englische Soldat und das deutsche Mädchen einander tagsüber auf der Straße – Billy im Jeep und Lilly mit dem Kinderwagen –, dann kennen sie einander nicht, und dazu bedarf es kaum einer Verstellung. Der Anblick seiner dienstlich zusammengepressten Lippen oder der Hände, die das Steuerrad des Jeeps umklammern, schickt ihr keinen Schauer über den Rücken. Es muss erst dunkel werden, um ihrer beider Münder zu öffnen und die sanfte Geschicklichkeit seiner Hände ins Spiel zu bringen.
»Wie geht’s denn so mit dir und Billy?«, fragt Benedicta.
»Wie soll’s schon gehen mit einem Polizisten«, antwortet Lilly mürrisch.
Benedicta lacht. »Ganz schön hochmütig, was? Jedenfalls hast du nicht mehr so müde Augen. Und du bist ja auch viel großzügiger geworden mit deinem Engelchen. Miriam hat bereits drei Pfund zugenommen!«
»Mein Engelchen ist aber keine Medizin«, protestiert Lilly wieder mal.
Tatsächlich ist es aber schon vorgekommen, dass Lilly das Engelchen bei Miriam in Verwahrung gegeben hat, wenn sie selbst ein paar Stunden ohne Kind sein wollte, des Abends nach Sonnenuntergang.
Mama, aufgestachelt durch Markus, ist misstrauisch geworden. »Du bist neuerdings abends so oft außer Haus«, sagt sie.
»Nicht außer Haus«, antwortet Lilly schlagfertig, »ich bin mit Engelchen unten bei den Bambergers. Schwester Benedicta hat gesagt, ich soll mich um die beiden kümmern. Die kennen ja sonst niemanden hier, die sind in Hamburg nur zwischengelandet auf ihrem Weg nach England. Da gibt’s irgendeine jüdische Hilfsorganisation, die nimmt sie auf. Aber das dauert und dauert und dauert mit den Papieren.«
»Bamberger heißen die? Ich bin denen noch nie im Treppenhaus begegnet.«
»Die verlassen ja auch ihre Wohnung nicht. Schwester Benedicta bringt ihnen das Essen, und manchmal kommt auch jemand von der Besatzungsbehörde.«
»Dieser junge englische Polizist?«
»Ja, der auch.«
»Sieht nett aus«, sagt Mama. »Erinnert mich an Onkel Jupp, wie der jung war.«
»Er kann aber weder auf Händen gehen noch Tango tanzen, noch zaubern. Glaub ich jedenfalls nicht.«
»Ein Manko«, sagt Mama lächelnd.
Einmal, als Lilly von solch einem spätabendlichen Spaziergang zurückkommt, trifft sie im dunklen Flur ihres Hauses auf Albert Neuhauser. Er hält sie am Arm fest. »Du hast mal wieder mit dem Tommy rumgemacht«, sagt er.
»Lass mich los, Albert, ich bin müde.«
»Na klar, so was strengt eben an. Wievielmal schafft er’s denn, dieser Polizist? Und was zahlt er dir dafür, eine Tafel Schokolade pro Mal?«
»Wenn du mich nicht sofort in Ruhe lässt, schrei ich das ganze Haus zusammen.«
»Ich wollte dich doch nur fragen, ob du’s nicht auch mal mit mir machen willst, am besten in unserer Wohnung, wenn Mutti beim Ortsamt anstehen muss. Und ich weiß nämlich, wo sie die gesparten Fleischmarken aufbewahrt, damit könnte ich dich bezahlen.«
Lilly reißt sich los und rennt nach oben. Ihr ist übel. Sie denkt, dass sie’s Markus erzählen könnte. Der würde Albert sofort so verprügeln, dass bei dem kein Knochen mehr auf dem anderen bliebe. Aber dann hält sie doch lieber den Mund, sie schämt sich zu sehr.
Als ein paar Tage später Albert ihr erneut auflauert, geht sie zu seiner Mutter, um sich zu beschweren.
»Das hast du allein dir selbst zuzuschreiben«, sagt Frau Neuhauser. »Woher soll mein Sohn denn wissen, dass die eine Bezahlung schlechter ist als die andere?«
»Und wenn ich es tatsächlich gegen Bezahlung tun würde«, sagt Lilly kochend vor Wut, »mit Ihrem Sohn nicht mal für einen Sack voll Gold.«
Danach lässt Albert sie immerhin eine Weile in Ruhe. Und Lilly wird im Umgang mit Billy sehr viel zurückhaltender.
Im Laufe des Oktobers fängt endlich der Schulunterricht wieder an, was sich als äußerst schwierig gestaltet, da allzu viele Schulgebäude zerstört sind und ein Großteil der erhalten gebliebenen als Krankenhäuser oder als Notunterkünfte genutzt werden. Nur sechzig Schulen stehen dem Ansturm von zigtausend Schülern komplett zur Verfügung. So sucht man nach Ausweichquartieren, in Baracken und Nissenhütten und auch in Privatwohnungen, die in entsprechender Größe aber mindestens so knapp sind wie Schulgebäude.
Lillys altes Kant-Gymnasium ist nur halb zerstört. Mehrere Klassen werden zusammen in einem Raum unterrichtet, mit gleitenden Unterrichtszeiten. Nach der fast halbjährigen Pause verspürt Lilly ein unerwartetes Bedürfnis, endlich wieder zu lernen. Doch wohin mit Engelchen?
Zu Lillys Enttäuschung gibt sich Jule, deren Kräfte Lilly sonst immer unermesslich erschienen waren, im Falle von Engelchens Betreuung wenig hilfsbereit. Sie sagt, sie hätte mit dem übrigen Haushalt schon genug zu tun.
»Geht’s dir nicht gut, Jule?«, fragt Lilly erschrocken.
»Mir geht’s immer gut, weißt du doch«, sagt Jule. Dabei sieht sie blass aus, hat dunkle Schatten unter den Augen und die Milch ist ihr weggeblieben.
»Wollen wir mal zusammen zum Arzt gehen?«, schlägt Lilly vor.
»Der einzige Arzt, den ich kenne, ist Doktor Banse, und der ist jetzt bei den Russen.«
»Hier gibt’s aber auch einen, in der Beratungsstelle.«
»Ich geh nicht zu so einem fremden Arzt. Würde auch Miroslaw nicht erlauben.«
»So ein Blödsinn«, sagt Lilly, vergisst dann die Sache aber schnell, weil sie vorerst Wichtigeres zu organisieren hat als einen Arztbesuch, nämlich eine Aufbewahrungsstelle für Engelchen.
»Wie wär’s denn mit Miriam?«, meint Benedicta. »Die nimmt dir die Kleine sicher gerne täglich für ein paar Stunden ab.«
»Nein«, sagt Lilly, »sie soll sich nicht zu sehr an mein Engelchen gewöhnen.«
»Zum Gewöhnen wird wohl kaum Zeit sein«, sagt Benedicta. »Ewig kann’s doch mit dem englischen Visum nicht mehr dauern.«
Das stimmt. Und da Mama sich auch weigert – »ich hab dir ja gleich gesagt, dass es für dich während der Schulzeit schwierig wird!« –, greift Lilly schließlich doch auf Miriam zurück. Aber sie hat kein gutes Gefühl dabei.
»Immer bin ich für Mama da gewesen«, beklagt Lilly sich bei Onkel Jupp, »und wenn ich sie mal brauche ...«
Onkel Jupp lächelt traurig. »So ist sie eben. Nicht sehr belastbar.«
Lilly kann sich nicht erinnern, jemals mit jüdischen Menschen zusammengetroffen zu sein. Umso mehr hat sie natürlich von ihnen gehört. Während ihrer Kindheit waren nahezu alle öffentlichen und auch viele persönlichen Bekundungen durchzogen von Hasstiraden auf die Juden – hinterlistig und habgierig seien sie, rücksichtslos, auf den eigenen Vorteil bedacht, verlogen und verdreckt, als Volksschädlinge mindestens so schlimm wie die Zigeuner, die ja bekanntlich nicht nur Wäsche von der Leine, sondern auch Babys aus den Kinderwagen stehlen.
In Lillys Familie war das Judenthema strikt vermieden worden. Nur Joachim hielt sich nicht zurück; er schmetterte gelegentlich ein Lied, dessen Text in »Und wenn das Judenblut vom Messer spritzt ...« gipfelte. Das fand Lilly damals eklig – aber mehr wegen »Blut« als wegen »Juden«.
Juden waren etwas Fremdes, etwas Monströses, etwas Unreines. Als Isabella in Staaken zum ersten Mal von ihrer jüdischen Großmutter sprach, war Lilly zu Tode erschrocken und flehte Isa an, diese Schande in ihrem Stammbaum nur ja niemandem zu verraten. Isa lachte über Lillys Schrecken. »Jetzt musst du wohl leider die Freundschaft mit mir abbrechen, was?«
Aber dazu war es dann natürlich nicht gekommen. Lilly liebte ihre Freundin viel zu sehr, um sich von irgendwelchen Großmüttern dreinreden zu lassen. »Ist mir persönlich doch ganz egal, wie sich dein Blut zusammensetzt!«, sagte sie damals tapfer, meinte es aber eigentlich nicht ganz so.
Gegen Kriegsende dann sickerte so nach und nach einige Erkenntnis in sie ein, nämlich dass die Sache mit den Volksschädlingen und den Blutverderbern wohl ziemlich übertrieben worden war, doch hatte die propagandistische Beeinflussung zu lang und zu stark auf Lilly gewirkt, als dass sie so ohne weiteres eine innere Kehrtwendung vollziehen konnte. Und immer wieder drängte sich die Überlegung auf: Wenn eine ganze Volksgruppe so viel Hass hervorgerufen hat, wird sie sich doch wohl auch irgendwie schuldig gemacht haben? Von nichts kommt schließlich nichts.
Nach wie vor mochten weder Lillys Eltern noch Onkel Jupp über die Judenfrage reden, wohl aus unterschiedlichen Gründen. Lilly hatte nur einmal ihren Vater sagen hören: »Grundsätzlich habe ich ja nichts gegen die Juden – aber ich kann sie nun mal nicht leiden.«
Inzwischen hat Lilly viel gehört und gelesen von den Gräueltaten der Nazis und von dem unermesslichen Elend, das sie über die Juden brachten. Lilly schämt sich – nicht nur, dass sie eine Deutsche ist, vor allem schämt sie sich, dass sie selbst instinktiv oft immer noch antisemitisch reagiert. Und als sie das erste Mal unten bei Bambergers war, in dieser düsteren, ungelüfteten Wohnung, da hat sie, ob sie wollte oder nicht, denken müssen: So sind sie eben, die Juden, ungepflegt und lichtscheu.
Darum hat jetzt ihr Entschluss, den Bambergers täglich das Engelchen anzuvertrauen, wohl auch etwas mit Wiedergutmachung und mit Erziehung zu tun. In gewisser Weise will Lilly sich selbst zu der Einsicht zwingen, dass Juden normale Menschen sind.
Aber kann man von Menschen, die durch die Hölle gegangen sind, normale Reaktionen erwarten? Zwar kommt jetzt Luft und Licht in die Parterrewohnung, zwar hat Lilly aus farbigen Zuckersäcken, die Billy ihr besorgt hat, für das Wohnzimmer fröhliche Vorhänge genäht, zwar ist die Hühnersuppenzeit vorüber und Miriam isst inzwischen alles, was Benedicta ihr besorgt, zwar erträgt Josua inzwischen, Miriam auch mal aus den Augen zu lassen und sogar – wenn auch nur im Dunkeln – aus dem Haus zu gehen, doch von Normalität kann noch lange nicht die Rede sein. Miriam ist entsetzlich schreckhaft, und sowie nur ein Schritt im Treppenhaus zu hören ist, zuckt sie zusammen, und man sieht ihr an, dass sie sich am liebsten verstecken würde. Wenn Lilly ihr das Engelchen bringt und kleine Besorgungen für sie erledigt, wenn Billy in der Wohnung sein handwerkliches Geschick einsetzt, dann kann Miriam gar nicht aufhören, Danke zu sagen. Josua hingegen wirkt steinern und unberührbar, und was auch immer man für ihn tut, kein Wort des Dankes kommt ihm über die Lippen. Beide reden nie über die Zeit im Lager. Es ist, als ob ihre Erinnerung daran ausgelöscht sei, ja, als hätte das alles nie existiert.
Stattdessen redet Miriam viel von ihrer Kinderzeit in dem großen Haus mit dem Garten, von der Schaukel in den Bäumen und dem Briefkasten am Gartentor. Ihre Schilderungen wirken jedoch seltsam unbelebt, keine einzige Person kommt darin vor. Nur am Tag ihrer ersten Begegnung mit Lilly hat sie von ihrem Baby gesprochen und von ihrer Schwester Franca, die beim Kommandanten Silber geputzt hat, danach nie wieder.
Und Lilly fragt auch nicht. Sie lässt sich von Miriam durch das große leere Haus in Lodz führen, zu den Schränken voll feiner Bettwäsche, in die Küche, wo auf dem großen Feuerherd immer ein Topf Suppe für die Armen stand, in den Gemüsegarten und zu den Rosenrabatten. Und obgleich Lilly die Antwort natürlich weiß, wird sie doch immer wieder von der Frage überfallen: Wo sind denn nur all die anderen Bewohner?
Das Engelchen ist offenbar gerne bei Miriam, die sanft und geduldig mit ihm ist und es in jeder Situation zum Lachen bringen kann. Anfangs spürte Lilly einen Hauch von Eifersucht, inzwischen hat sie sich gewöhnt. Wenn Lilly das Engelchen nach unten bringt, streckt es sogleich die Hände nach Miriam aus. Aber wenn Lilly aus der Schule zurückkommt, dann gilt Engelchens Lachen und das Händeausstrecken nur noch ihr.
Der Winter kommt früh in diesem Jahr. Durch die Bombenschäden gibt es in vielen Häusern keine Heizmöglichkeiten, und wenn es sie gibt, dann in Form kleiner, ziemlich gefährlicher Kanonenöfen, deren Abzugsrohre durch die Fenster geleitet werden, aber dann fehlt es meistens an Brennbarem. Die Steinhöfer’sche Wohnung verfügt über zwei richtige Öfen, einen in der Küche und einen im Wohnzimmer. Das ist ein großer Luxus, zumal auf wundersame Weise auch immer ausreichend Briketts zur Verfügung stehen.
»Ihr habt’s schon gut getroffen mit eurem Miroslaw«, sagt Benedicta zu Lilly. »Natürlich ist er ein Gauner, aber solange wir in diesen wirren Zeiten leben müssen, ist Gaunerei ja schon fast Ehrensache.«
»Und wenn sich die Zeiten wieder ändern?«, fragt Lilly.
»Tja ...« – Benedicta wiegt ihren Kopf hin und her – »dann wird es sich zeigen, ob der Gaunerbazillus bei ihm bleibende Schäden verursacht hat.«
Lillys spätabendliche Spaziergänge mit Billy werden seltener. Es ist zu kalt, um sich noch auf die Alsterwiesen zu setzen, und die Bänke, die früher einmal dort gestanden haben, sind alle abgeholzt.
»Ein Kamerad von mir hat eine deutsche Freundin«, sagt Billy und betrachtet dabei intensiv seine Schuhspitzen, »und die würde uns für ein paar Zigaretten stundenweise ein Zimmer abtreten, ein geheiztes Zimmer. Ich meine ja nur ... weil’s doch draußen jetzt schon so unfreundlich ist.«
Lilly erschrickt. »Ganz bestimmt nicht!«, sagt sie heftig. Die Vorstellung, mit Billy in ein fremdes Zimmer zu gehen und unter den anzüglichen Blicken der Vermieterin die Tür hinter sich zu schließen, treibt ihr die Schamröte ins Gesicht. Draußen im Dunkeln, unter freiem Himmel, wo keiner sie sieht oder etwas von ihnen erwartet, da brauchen sie sich noch nicht der Wirklichkeit verpflichtet zu fühlen. Eine Art Traumspiel ist das, gegen die Einsamkeit. Aber sich für Zigaretten ein gewärmtes Zimmer zu erkaufen, vermutlich mit einem Bett darin, ganz zielgerichtet auf etwas, das sich sonst nur in Andeutungen und wie aus Versehen ergibt, das scheint ihr ganz und gar unmöglich zu sein. Sie weiß nicht einmal, was sie dort mit Billy reden sollte.
»Na, dann nicht«, sagt Billy und versteht sie nicht oder versteht sie vielleicht doch, jedenfalls kommt er nicht wieder auf die Sache zurück. »Wahrscheinlich werd ich ja sowieso nicht mehr lange hier bleiben. Und überhaupt gefällt’s mir nicht in diesem Land.«
»Da bist du wohl nicht der Einzige«, sagt Lilly. »Aber mein Freund bleibst du doch?«
»Ja«, sagt er, »dein Freund will ich bleiben.«
In Hamburg sterben in diesem ersten Nachkriegswinter Hunderte von Menschen an Entkräftung und Unterernährung. Sie sitzen in ihren feuchten, ungeheizten Kellern und Trümmerhöhlen, haben keinen Lebenswillen mehr und warten auf Erlösung, die sie sich nach den grausamen Kriegserfahrungen schließlich nur noch im Wegtauchen, im Tod vorstellen können.
Diejenigen, die noch die Kraft dazu haben, stehlen von fahrenden Güterzügen Kohlen, sägen in den Parks die letzten Bäume ab, durchwühlen auf der Suche nach Brennbarem die Ruinen, wobei noch manch einer durch nachstürzende Mauern erschlagen wird.
Auch der Einbeinige vom Eppendorfer Baum, dem Lilly die Bekanntschaft mit Billy und Benedicta verdankt, überlebt diesen Winter nicht. Dabei war es Lilly sogar gelungen, ihm aus zwei alten Pferdedecken, die sie Miroslaw abgeschmeichelt hatte, einen dicken Umhang zu nähen. Aber der hatte ihn nur wenige Tage wärmen können, dann war er ihm gestohlen worden und kurz drauf war der Mann erfroren.
»Dabei hätte er bei uns in der Suppenküche bleiben können«, sagt Benedicta, »da ist doch geheizt. Aber er wollte unbedingt jeden Tag weiter sein Plakat hinhalten, das hat er als eine Art Mission empfunden. Und wer bin ich denn, jemandem seine Mission zu verwehren!«
Die Bemühungen der neuen Machthaber, die Deutschen umzuerziehen und ihnen nach zwölfjähriger Abhängigkeit von einer alles entscheidenden Staatsmacht jetzt plötzlich die Segnungen der Demokratie schmackhaft zu machen, fallen auf kargen Boden. Welch ein armseliges System muss diese Demokratie sein, wenn sie es nicht einmal schafft, ihre Menschen zu wärmen und zu ernähren! Denn wie man hört, ist es auch in England kaum besser. Immer noch Lebensmittelmarken und auch Kohlen nur auf Bezugsschein.
Die Erfahrung jahrelanger Entmündigung hat bei vielen Menschen die Fähigkeit zur Eigenverantwortung lahm gelegt und die ständigen Schuldzuweisungen durch die Sieger bewirken bei den Besiegten weniger Einsicht als ein ungläubiges Abwiegeln. Tatsachen, so wie etwa die deutsche Kriegsschuld oder die Verbrechen an den Juden oder der heimtückische Überfall auf Russland, kommen ihnen oft genauso anfechtbar und unzuverlässig wie Meinungen vor, weil sie ja gerade erlebt haben, dass nichts unumstößlich ist und dass das, was heute als richtig und gut proklamiert wird, morgen schon als falsch und böse vom Sockel gestoßen werden kann.
Obgleich Lilly sich sehr bemüht, nicht Teil dieser allgemeinen Mutlosigkeit zu werden und ihr das nicht enden wollende Gerede von den jüdischen Machenschaften zynisch und pervers vorkommt – bei sechs Millionen ermordeter Juden! –, so kann sie sich doch nicht ganz verschließen, weder vor dem allgemeinen müden, dumpfen Skeptizismus noch vor der Frage, wieso das denn alles hatte geschehen können. Was nur hatte ein derartig grausames Wüten gegen die Juden hervorgebracht und ermöglicht? Und wieso hatten die meisten Deutschen es hingenommen, ja sogar willig mitgemacht?
»In England gibt’s doch auch viele Juden«, sagt Lilly zu Billy, »erzähl mir von ihnen.«
Billy denkt nach. »Die Juden leben wohl eher in den großen Städten. Bei uns jedenfalls auf dem Dorf und in der kleinen Stadt gibt es keinen einzigen. Darum kann ich dir auch nichts über die Juden erzählen. Aber irgendwie glaube ich, dass ich sie nicht sehr gerne haben würde. Sie sind doch irgendwie sehr anders als meine Leute. Das hab ich jedenfalls gehört.«
»Wie war das vor dem Krieg mit den Juden?«, fragt Lilly ihren Vater.
»Wie soll’s schon gewesen sein. Jüdische Ärzte gab’s ziemlich viele und Anwälte und Universitätsleute. Die schoben sich gegenseitig die besseren Posten zu, das wurde jedenfalls erzählt. In meinem Beruf, bei den Bauleuten und Ingenieuren, gab’s nicht viele. Und eines Tages waren sie alle weg und eigentlich hat sie niemand vermisst.«
»Die waren weg und man hat sie umgebracht«, sagt Lilly.
»Ach, weißt du«, Lillys Papa hebt beide Hände, als wolle er etwas von sich schieben, »nachher ist man immer klüger und es wird ja jetzt so viel geredet. Aber schließlich war Krieg und jeder war beschäftigt mit seinen eigenen Sorgen, da hat man eben versucht, die Juden zu vergessen. Und auch die Zigeuner und die Kommunisten und noch ein paar andere, die man irgendwie als undeutsch empfand.«
»Und Mitleid hattet ihr nicht?«
»Man redete von Schutzhaft, damals, und das wollten wir wohl glauben«, sagt Lillys Vater.
»Was hältst du eigentlich von den Juden?«, fragt Lilly Markus.
»Woher soll ich das wissen? Ich kenne keine.«
»Aber die Bambergers unten ...?«
»Die kenn ich auch nicht, sie verlassen ja nie ihre Wohnung. Aber wenn du ihnen unser Engelchen anvertraust, dann müssen sie wohl in Ordnung sein.«
»Isa hat mir von eurer jüdischen Großmutter erzählt. Erinnerst du dich denn gar nicht an sie?«
»Kaum. Ich war sieben oder acht, als sie starb. Übrigens scheint sie sehr schön gewesen zu sein und ist mehrfach gemalt worden, blondlockig und blauäugig. Mutter hat eins ihrer Porträts gerettet und an die Rückseite eines Schrankes genagelt. Da hab ich’s mir manchmal angeschaut. Sie sah ganz ähnlich aus wie meine Schwester.«
»Dann sah sie auch ähnlich aus wie du«, sagt Lilly.
Markus grinst. »Mit deiner Erlaubnis nehm ich das als Kompliment.«
»So war’s aber nicht gemeint«, sagt Lilly und spürt zu ihrem Ärger, dass sie errötet.
Zu Onkel Jupp sagt Lilly: »Miriam Bamberger und ich sind jetzt miteinander befreundet.« Sie sagt das in dem unbewussten Versuch, mit Worten Tatsachen zu schaffen.
Onkel Jupp jedoch spielt nicht mit. »Wieso?«, fragt er.
»Wieso wieso?«, sagt Lilly ungeduldig. »Wie eben zwei Leute befreundet sind, ganz normal.«
»Zwischen Frau Bamberger und dir kann es nicht normal zugehen, dafür sind eure Lebenserfahrungen zu verschieden. Und du solltest dir gut überlegen, ob es dir tatsächlich um Freundschaft geht oder nur darum, von der Täterseite ein wenig abzurücken und zur Opferseite überzuwechseln.«
»Also das ist ... das find ich nun wirklich ungerecht! Ich versuche doch nur, Miriam zu helfen.«
»Ich will dich nicht kränken, Lilly. Aber was auch immer du für sie tust, es wird nie genug sein. Dafür ist ihr Leid zu groß.«
»Was soll ich denn machen? Mich überhaupt nicht mehr um sie kümmern?«
»Du solltest genauso weitermachen wie bisher. Nur dich dabei nicht der Hoffnung hingeben, ihr könntet normal befreundet sein.«
»Und wie ist das mit Benedicta? Die ist doch auch mit Miriam befreundet.«
Onkel Jupp lächelt. »Ja, die wunderbare Schwester Benedicta. Bei ihr ist alles klar und überschaubar. Was sie tut, tut sie aus Barmherzigkeit und für die Liebe des Herrn. Nicht, weil sie dafür als Gegengabe eine andere Liebe erhofft. Aber bei dir ist das anders.«
»Mach’s doch nicht so schrecklich kompliziert«, sagt Lilly ärgerlich. »Du tust ja grad so, als ob es mir bei Miriam um eine Art Geschäftsbeziehung ginge.«
»Nun bist du doch gekränkt. Und dabei wollte ich dich nur vor einer Enttäuschung bewahren. Wie wär’s, wenn du dir die Miriam, wie du sie gerne hättest, in dein Luftschloss holst? Eine aufgeschlossene junge Frau, die zwar Schlimmes erlebt hat, aber nun auf dem Weg der Besserung ist. Eine mit normalen Reaktionen und normaler Fähigkeit zur Freundschaft. Eine, der man vertrauen kann und die Vertrauen schenkt. Eine zum Lieben und zum Versorgen.«
»Für diese Person brauch ich kein Luftschloss zu bauen, die wohnt nämlich ein Stockwerk unter uns!«
Onkel Jupp schüttelt den Kopf. »Und für die Person, die unter uns wohnt, solltest du versuchen, ein wenig zu werden wie Benedicta.«
»Ich bin aber keine Nonne!«, sagt Lilly wütend, und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt sie sich von Onkel Jupp nicht verstanden.
»Du gehst jetzt so oft zu den Juden im Parterre«, sagt Jule, »bringst ihnen sogar dein Engelchen. Meinst du, das tut ihm gut?«
»Wenn ich das nicht meinen würde, dann würd ich’s ja nicht tun«, sagt Lilly.
»Miroslaw mag die Juden nicht. Und weil doch das Engelchen ein Polenkind ist ...«
Lilly reagiert ärgerlich. »Hör doch endlich auf mit dem Gerede vom Polenkind. Das Engelchen ist meins und damit fertig. Das sagt auch Markus.«
»Markus?«, fragt Jule lächelnd. »Seit wann hörst du denn auf das, was Markus sagt?«
»Tu ich doch gar nicht«, antwortet Lilly und wendet sich ab.
»Tust du anscheinend doch. Und warum auch nicht. Sieht gut aus, der Markus ist groß und kräftig. Hat schöne Augen und starke Hände. Gehört zu uns, ist zuverlässig, sagt Miroslaw. Und ist in dich verknallt, sag ich.«
»Unfug. Markus ist uns allen von Mama aufgedrückt worden als Ersatz-Joachim. Und dabei konnte ich schon den richtigen Joachim nicht leiden, weißt du doch.«
»Dein Bruder ist tot.«
»Das ändert doch nichts daran, dass ich ihn nicht leiden konnte.«
»Lilly, so etwas sagt man nicht!«
Mürrisch zuckt Lilly die Schultern und schweigt. Eigentlich waren da ja doch Momente gewesen, da sie ihren Bruder ziemlich gut hatte leiden können, natürlich ohne es zuzugeben oder gar zu bekunden. Isa und sie hatten sich eben darauf eingeschworen, dass ältere Brüder etwas ganz Fürchterliches seien. Ob dieser alte Schwur nun noch seine Berechtigung hat, in Bezug auf Markus, das weiß sie nicht, sieht auch keinen Anlass, darüber nachzudenken.
Nach ein paar Schweigeminuten sagt Jule plötzlich leise: »Miroslaw kommt nicht mehr so oft. Und wenn er kommt, redet er nicht mehr so viel mit mir, immer nur mit Onkel.«
Lilly horcht auf. Da ist ein Ton in Jules Stimme, der nicht zu ihr passt.
»Was ist los mit euch beiden? Habt ihr etwa Streit gehabt?«
»Nein«, sagt Jule, »kein Streit.«
»Was denn?«
Jule zuckt die Schultern. »Weiß nicht. Fasst mich nicht mehr an, der Miroslaw. Macht ihm wohl keinen Spaß mehr mit mir. Bin ich ja auch nicht mehr so stark wie früher. Kann ich nicht mal mein Baby stillen. Bin nicht mehr gut genug für ihn.«
»Wie kannst du bloß so etwas denken!« Lilly läuft zu Jule und umarmt sie. »Du bist nur etwas müde. Hast ja auch viel Arbeit und wenig Hilfe. Und überhaupt bist du so dünn geworden. Nächste Woche gehen wir beide zum Arzt.«
»Du vielleicht, ich nicht!«, sagt Jule. »Nachher findet der Arzt, dass ich krank bin. Und Miroslaw will eine gesunde Frau. Gibt so viele andere Frauen. Soll er nur, wenn er zu mir zurückkommt. Kommt aber nicht, wenn ich krank bin.«
Plötzlich fängt Jule an zu weinen. »Ich glaub, mit mir ist was nicht in Ordnung«, schluchzt sie.
Lilly schämt sich, dass sie während der letzten Zeit Jule so wenig beachtet hat. »Gleich morgen kümmere ich mich um den Arzt«, sagt sie, »ob du willst oder nicht. Und ich werde auch mit Miroslaw reden.«
Jule fährt hoch. »Tust du nicht! Auf gar keinen Fall. Bin ich sonst deine Freundin nicht mehr, wenn du redest mit Miroslaw.«
»In Ordnung, reg dich nicht auf. Aber du musst mit mir zum Arzt gehen.«
»Ja, gut. Aber nicht morgen oder übermorgen, nächste Woche.«
»Versprochen?«
»Na ja, wenn du unbedingt willst, dann versprochen.«