Читать книгу ungewollt und ungeliebt Karlotta, geboren 1942 - Helga Hilmer - Страница 6

Die Mutter

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Nein, sie wollte dieses Kind nicht. Die Mutter des kleinen Mädchens war bei der Geburt des Kindes schon fast 40 Jahre alt. Sie wollte dieses Kind nicht haben.


Es war Krieg, und ihr wurde alles zu viel. Sie hatte schon innerhalb von vier Jahren drei Kinder geboren. Drei Söhne. Einer davon starb im Alter von zwei Jahren. Er war für sie ein besonderes Kind gewesen. Sie litt fürchterlich. Sie war allein mit der Trauer und der Sorge um die beiden Kinder Klaus und Kurt. Ihr Mann war im Krieg. Und nach seinem letzten Urlaub war sie nun wieder schwanger.


Sie wohnte in einem Mehrfamilienhaus im vierten Stock. Bei jedem Alarm musste sie anfangs mit drei Kindern, ein, zwei und vier Jahre alt, und einem Koffer mit den Papieren die vielen Treppen hinunter hasten, um im Keller Schutz zu suchen. Jetzt waren es ja nur noch zwei Kinder, inzwischen zwei und fünf Jahre alt. Und das sollte sie nun auch noch mit einem dicken Bauch bewältigen. Und bald dann noch mit einem Baby. Man konnte ja nicht wissen, wie lange der Krieg noch dauern würde.


Nein sie wollte dieses Kind nicht.


Es war alles schon so schwer genug. Sie versuchte alles, was sie wusste, um dieses Kind nicht zu bekommen. Aber dieses Kind wollte leben, dagegen war sie machtlos. Es widerstand allen Attacken und kam auf diese Welt, die schon so sehr in Trümmern lag. Es war keine gute Welt schon gar nicht für Kinder. Trotz aller Angriffe auf sein Leben überlebte das Baby.


Und nun war dieses Kind da, und es war auch noch ein Mädchen. Sie wollte kein Kind, sie wollte vor allem kein Mädchen.


Sie stellte sich die Frage, warum sie kein Mädchen wollte. Vielleicht weil sie selbst einst ein Mädchen war. Weil sie selbst nicht gewollt war. Weil sie zu früh auf die Welt gekommen war und dann in der Backröhre warm gehalten wurde. Weil man ihr gesagt hatte, dass man sie nicht wollte, aber da sie ja nun einmal da war, musste man sehen, wie man sie am Leben hielt. Weil sie ein Mädchen gewesen war, das im Krieg, dem 1. Weltkrieg, aufwuchs und die Nachkriegszeit als junges Mädchen erlebte. Sie kannte die Armut, den Hunger, die Traurigkeit. Vielleicht kannte sie aber auch mehr, vielleicht kannte sie etwas, über das sie nie sprechen würde. Über das sie vor allem nie mit ihrer Tochter sprechen würde.


Wie war ihr Leben verlaufen? Später erzählte sie ihrer Tochter manchmal von ihrem Leben. Es war ihr eigentlich ganz gut gelungen, sich in ihrem Leben einzurichten und ihren Weg zu finden. Ja, sie war zufrieden - bis der Krieg kam und alles änderte.


An ihre Kindheit hatte sie einige einschneidende Erinnerungen. Ihre Eltern besaßen ein Mehrfamilienhaus in einer größeren Stadt. Der Vater war ein einfacher, sanfter Mann, ihre Mutter eine eher harte Frau. Sie betrieben einen kleinen „Hökerladen“, und es ging ihnen für die damalige Zeit gut. Als der Vater an ein paar „falsche Freunde“ geriet und für sie gutgläubig eine Bürgschaft übernahm, verloren sie alles. Das Haus, den Laden, einfach alles. Die Mutter rettete gerade einmal das Familiensilber, indem sie es in dem Puppenwagen der Kinder versteckte.


Verwandte, die auf dem Lande lebten, nahmen die Familie auf. Die Mutter wollte sich das Leben nehmen, sie stand schon am Ufer eines Sees und wollte ins Wasser gehen. Aber ein Onkel entdeckte sie dort und konnte sie gerade noch davor bewahren.


Irgendwann zog die Familie wieder in die Stadt. Die Mutter machte wieder einen kleinen Laden auf, und der Vater zog mit der „Schottschen Karre“, das war eine einachsige Karre mit eisenbereiften Rädern, durch die Straßen um Waren zu verkaufen. Damals gab es nur Straßen, die mit Kopfsteinen gepflastert waren. Die Karre, beladen mit den Waren, darauf zubewegen, war schwerste körperliche Arbeit. Irgendwann fand er aber wieder eine Stellung in seinem Beruf als Bäcker.


Dann begann ihre Schulzeit. Die Eltern hatten sie und ihre ein Jahr ältere Schwester zur gleichen Zeit eingeschult, also mit 5 Jahren. Sie war sehr ehrgeizig. Und der Vater sagte: „Was die Große kann, kannst du auch!“ Sie meisterte die Schule als gute Schülerin, aber sie musste sich dafür sehr anstrengen.


Über den Krieg in ihrer Kindheit sprach sie nie. Entweder konnte oder wollte sie sich nicht erinnern.


Sie war 13, als sie die Schule mit einem guten Abschlusszeugnis verließ. Sie konnte aber erst mit 15 Jahren eine Lehre anfangen und musste also zwei Jahre überbrücken. So kam sie erst einmal aufs Land zu einem Bauern. Dort wurde sie ausgenutzt, schlecht behandelt und hatte unheimlich Heimweh.

Als ihr Vater sie dort einmal besuchte, nahm er sie mit nach Hause. Die Mutter empfing sie mit den Worten: „Was will „de Deern“ (das Mädchen) denn hier? Die bring ich morgen wieder hin.“ Und sie brachte sie den nächsten Tag wieder hin. Zurück an den sie so traurig machenden Ort. Sie musste dort ein Jahr durchhalten. Danach suchte sie sich eine Stellung in einem Haushalt.


Sie hatte dort drei Kinder zu betreuen, bekam wenig Geld und hatte immer einen langen Weg zu gehen, morgens hin, mittags zum Essen nach Hause, dann wieder hin und abends zurück. Sie war erst 14, und die Kinder waren groß und kräftig, so dass sie körperlich und auch sonst überfordert war. Aber man musste dadurch. „Lehrjahre sind keine Herrenjahre!“ sagten ihre Eltern.


Dann bekam sie eine Lehrstelle in einem Damenmodengeschäft. Sie mochte ihren Beruf, sie hatte immer schon für sich Kleider genäht. Sie bekam auch die Möglichkeit nach der Lehre eine Dekorationsschule in einer anderen Stadt zu besuchen. Das machte ihr viel Spaß. Sie wohnte dort bei einem Onkel und einer Tante. Aber als ihr Vater verstarb, musste sie die Schule abbrechen. Zurück in ihrer Heimatstadt arbeitete sie wieder in ihrer Lehrfirma. Sie musste Geld verdienen, um die Mutter zu unterstützen. Aber es war alles gut so wie es war.


Sie war hübsch und hatte eine gute Figur und so durfte sie bei Modenschauen der Firma Kleider vorführen. Sie ging auch öfter auf Reisen mit dem Chef, weil sie als Einkäuferin tätig war. So kam sie auch nach Berlin, was damals außergewöhnlich war. Dort wurde sie dann ins Theater und zum Essen eingeladen. In ihrer Freizeit spielte sie oft als Statistin im Theater ihrer Heimatstadt und hatte viel Spaß dabei. Dieses Leben gefiel ihr.


Dann lernte sie ihren Mann kennen, einen großen, starken, gutaussehenden Mann. Er befand sich beruflich in einer sicheren Position mit Aufstiegsmöglichkeiten. Das war absolut wichtig für sie. Nach zwei Jahren Verlobungszeit, in der beide ihr Geld sparten, um sich später eine schöne Wohnung einzurichten, heirateten sie. Nach der Eheschließung durfte die Frau damals ja nicht mehr arbeiten, darum mussten sie warten bis sie genug Geld zusammen hatten. Bis zur Hochzeit war Sex für sie tabu. Aber danach wurde sie dann auch sehr schnell schwanger, Klaus kam zur Welt. Ihr Leben war genauso, wie sie es sich wünschte.


Doch dann brach der Krieg aus und damit brachen alle ihre Träume von einer glücklichen Familie zusammen.


Gerade mal 4 Jahre währte ihre glückliche Welt. Nein das war nun keine glückliche Familie mehr, in der einer für den anderen da war. Wo die Kinder, inzwischen waren es drei, von den Eltern behütet aufwachsen konnten, und man Freude und Glück teilen konnte.


Sie war nun allein mit den Kindern und musste immer wieder mit ihnen in den Keller rennen. Alle in dem Keller hatten Todesangst, natürlich auch sie. Aber sie durfte sich vor den Kindern nicht gehenlassen, immer die Starke spielen. Und außerdem musste sie die Angst um ihren Mann aushalten.


Wirklich nachvollziehen kann dieses Gefühl nur jemand, der es auch aushalten musste. Verzweiflung, Angst und Sorge bestimmten das Leben. Sie wollte dieses Leben nicht, aber irgendetwas in ihr trieb sie immer wieder an. Sie wurde hart, schob alle Gefühle weg.


So hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt. Aber so hatten sich in Moment alle Frauen in diesem Land ihr Leben nicht vorgestellt.


Seit Beginn des Krieges waren Lebensmittelmarken an die Bevölkerung ausgegeben worden. Das bedeutete, dass die Menschen nur festgelegte Mengen von den lebensnotwendigen Nahrungsmitteln wie unter anderem Fett, Fleisch, Brot, Mehl, Zucker, kaufen konnten. Nur gegen Abgabe der entsprechenden Marken konnten sie die Waren kaufen. Die Mengen waren sehr knapp, und es gab nicht ein Gramm mehr, als auf den Marken stand. Der Händler sammelte die Marken und konnte damit dann wieder neue Waren für den Laden kaufen. Er hatte also auch keine Möglichkeit, mehr Waren auszugeben. Das bedeutete, dass die Ernährung für sie und die Kinder stark eingeschränkt war. Und das Essen wurde noch karger, da die Mengen im Laufe des Krieges immer wieder reduziert wurden.


Das war einfach kein Leben mehr, das war eben Krieg.


Dann zerstörte eine Bombe teilweise das Haus, in dem sie wohnte. Eine Außenwand des Hauses war zerstört und somit war es unbewohnbar. Ihr Mann bekam Urlaub von der Front, um alles zu regeln. Sie konnten zum Glück fast alle Möbel retten. Sie bekamen ein Haus ca. 20 km von der Stadt entfernt. Da war es ruhiger. Klaus, der schon zur Schule ging, musste nicht mehr auf dem Schulweg bei Fliegeralarm schnell zu dem nächsten Bunker laufen und mit seiner Angst bei fremden Leuten, also mehr oder weniger allein, klarkommen. Das nahm ihr eine große Sorge. Jetzt war sein Schulweg ungefährlicher. Die Angst vor dem Einschlag einer Bombe wurde kleiner.


Dann war der Krieg endlich zu Ende. Doch es gab wenig zu essen. Die Kinder wurden größer und ihr Hunger auch. Ihr eigener Hunger war unwichtig.


Klaus wünschte sich zu seinem Geburtstag zum Frühstück eine Scheibe Brot mehr und ein Zuckerei für sich allein.


Sie musste noch aktiver werden, um die Kinder satt zu bekommen. Sie fuhr mit dem Fahrrad über 30 km zu einem Bauern, um beim Kartoffelsammeln zu helfen. Dafür bekam sie dann ein paar Kartoffeln als Lohn. Außerdem konnte sie anschließend auf den abgeernteten Feldern nach liegengebliebenen Kartoffeln suchen, aber man fand nur hin und wieder eine. Dann fuhr sie die 30 km zurück. Sie war total erschöpft, und es blieb einfach keine Zeit für Liebe zu den Kindern. Liebe zu ihrer kleinen Tochter Karlotta gab es gar nicht. Sie hatte sie einfach nicht.


Es ging in dieser Zeit nur ums Überleben.


Karlotta war ein Jahr alt, als die Mutter merkte, dass ihr Kind schielte, fürchterlich schielte. Sie versuchte es zu ignorieren, das würde sich schon geben. Wenn Leute sie darauf ansprachen, wurde sie sehr ärgerlich. Es war für sie wie eine persönliche Beleidigung, ihr Kind schielte nicht.


Karlotta merkte die Lieblosigkeit nicht. Für sie war das Verhalten der Mutter normal. Und außerdem liebte Karlotta ihre Mutter so sehr, dass dieses Gefühl für sie reichte. Wenn sie geschlagen wurde, aus welchem Grund auch immer, dann suchte sie die Schuld bei sich. Sie war nie böse auf die Mutter, nur traurig, dass sie die Mutter dazu gebracht hatte, sie zu schlagen.


Und der Vater war immer noch nicht da, er war in Gefangenschaft gekommen.

ungewollt und ungeliebt Karlotta, geboren 1942

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