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Der Vater

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Dann stand er eines Tages vor der Tür, kaum wiederzuerkennen. Abgemagert, schmutzig und mit ganz traurigen Augen stand er da nach 6 ½ Jahren Trennung mit kurzen Unterbrechungen.


Damals war er nur zu einer Wehrübung eingezogen worden. Sie sollte sechs Wochen dauern. Aber er wurde von dort gleich weiter geschickt an die Front. Er kam gar nicht mehr nach Hause. Er hatte Schreckliches erlebt, wie wohl alle Soldaten. Doch er sprach nicht darüber, wie wohl viele Soldaten. Er konnte es einfach nicht.


Er war fremd, sie war fremd, sie konnten sich nicht freuen. Ihr Glück bestand darin, dass er körperlich unverletzt zurück gekommen war. Alles andere würde sich schon finden.


Aber sie hatten sich so verändert, sie kannten sich nicht mehr. Er war von den schlimmen Erlebnissen traumatisiert und verschloss sich. Sie konnte ihn nicht auffangen, nicht umsorgen, nicht trösten, sie hatte keine Liebe mehr. Er konnte das nicht ertragen. und sie war so selbständig geworden, dass er sich überflüssig fühlte. Das aber war ein Gefühl, das er gar nicht ertrug. Er war immer dominant gewesen, alle mussten auf ihn hören.


Als kleiner Junge im Alter von 10 Jahren verstarb sein Vater. Er hatte drei jüngere Geschwister, einen Bruder und zwei Schwestern. Er hatte sich um Vieles zu kümmern und konnte auch wegen der Verantwortung, die auf ihm lag, keine unbeschwerte Kindheit erleben. Und es war Krieg, der 1. Weltkrieg. Seine Mutter war schwach und kränklich. Sie war Schneiderin und schaffte es so gerade, die Familie über Wasser zu halten.


Aber es fehlte der Mann im Haus, und so übernahm Karlottas Vater das Kommando. Diese Zeit prägte ihn und machte ihn zu einem Despoten. Er war nicht einfühlsam und auch nicht zuverlässig. Als seine Frau mit dem ersten Kind schwanger war, betrog er sie. Erst viel später erfuhr sie davon. Sein Sohn beschrieb ihn einmal so: „ Er war ein Mensch, der die Arme ausbreitete, wenn man auf ihn zulief, dann aber im letzten Moment schnell zur Seite trat.“


Er war also als Kriegskind aufgewachsen und wurde dann etwa zwanzig Jahre später Soldat und Kriegsgefangener. Er kam traumatisiert zurück und konnte sich im Leben nicht mehr zurechtfinden.


Er schaffte zwar den Weg zurück in den Beruf, in dem er dann auch Anerkennung und Beförderungen erfuhr. Aber er war kein Ehemann und kein Vater mehr, er hatte jeglichen Bezug zu seiner Frau und seinen Kindern, die jetzt ja schon große Kinder waren, verloren. Seine Tochter kannte er gar nicht, als er zurückkam. Er konnte dann einfach keine Verbindung zu ihr finden, vielleicht wollte er das auch gar nicht. Sie war einfach nur ein Kind, das da war.


So hatte er sich sein Leben nicht vorgestellt. Es ging bestimmt vielen Männern so, die wieder nach Hause kamen.


Er suchte sich seinen Weg und fand ihn im Alkohol. Die Frau wollte ihm zwar weiterhin Hausfrau und seinen Kindern Mutter sein, aber sie konnte ihn nicht mehr lieben, ihre Gefühle waren im Krieg zerstört worden. Und körperlich wollte sie ihn auch nicht mehr. Welcher Mann kann das schon aushalten.


Als er dann eines Tages unter dem Einfluss des Alkohols den Bezug zur Realität verlor, verging er sich an seiner Tochter. Karlotta war gerade mal 4 ½ Jahre alt. Da das Kind sich wehrte und „Theater machte“ musste die Mutter es beruhigen, damit der Vater, der immer wütender und unberechenbarer in seinem Rausch wurde, nicht noch Schlimmeres tat.


So rettete die Mutter zwar das Leben ihres Kindes, aber sie half mit, seine Seele für immer zu zerstören. Natürlich verboten Vater und Mutter dem Kind, je darüber zu reden. Karlotta verbarg alles, was geschehen war und noch geschah in der hintersten Ecke ihrer Seele und lebte einfach weiter wie immer, und überlebte. Die folgenden sexuellen Übergriffe des Vater nahm sie gar nicht richtig war. Sie entfernte sich in diesen Situationen von sich selbst. Wie man heute weiß, ist das die einzige Chance zum Überleben.


Auch benutze die Mutter sie in dem sehr kalten Winter als „ihre Wärmflasche“, wie sie später erzählte. Sie legte das kleine Mädchen in ihr Bett. Später, wenn sie ins Bett ging, legte sie Karlotta in das eiskalte Kinderbett. Das Kind schlief ja, das merkte bestimmt nichts, davon war die Mutter überzeugt. Aber sie selbst hatte dann ein angewärmtes Bett. Wo war der Vater in dieser Zeit?


In Karlottas Gehirn wurden diese schrecklichen Erlebnisse abgespalten, so dass sie mehrere Jahrzehnte überhaupt keine Erinnerung daran hatte.


Eines Tages, als sie und Kurt allein zu Hause waren, was zum ersten Mal vorkam, hatte dieser nur Unsinn im Kopf. Er spielte mit Streichhölzern und einer Kerze, die er in einer Schublade gefunden hatte. Er holte von draußen Buschholz, dass hinter dem Haus lag, und wollte damit Feuer im Ofen machen. Es war Sommer. Dabei brachte er eine kleine blaue Blume mit, die dann neben dem Ofen lag.


Es war eine von den Blümchen, die Karlotta am Morgen für die Mutter gepflückt hatte. Die Mutter hatte aber keine Verwendung dafür. Sie forderte Karlotta auf, die Blumen auf den Haufen Buschholz zu werfen. Karlotta war darüber sehr traurig.


Diese kleine Blume hätte Karlotta nun fast das Leben gekostet. Sie wollte sie sich holen, kroch an der brennenden Kerze vorbei. Ihre Haare fingen Feuer, und in Sekundenschnelle stand ihr Kopf in Flammen.


Ein Mitbewohner im Haus hörte das Kind schreien, stürzte in den Raum, löschte das Feuer und brachte das Kind zu einer ärztlichen Versorgung. So kurze Zeit nach dem Krieg gab es nicht überall Ärzte, nur eine Sanitätsstation war in der Nähe.


Herr Franke hatte die Kleine in eine Decke gewickelt und trug sie auf seinen Armen. Karlotta konnte sich ihr Leben lang an das Feuer auf ihrem Kopf und vor allem an dieses Gefühl der Geborgenheit erinnern. Und daran, dass sie sich die verbrannten Haare, die gekräuselt wie kleine Locken waren, vom Kopf zupfte.


Als die Eltern nach Hause kamen, lag Karlotta mit einem dick verbundenen Kopf in ihrem Bettchen. Sie rochen den Brandgeruch und weckten ihren Sohn, der schlaftrunken sagte: „Karlotta ist aufgebrannt.“ Sie gerieten außer sich, als sie das hörten. Sie schlugen ihren kleinen Sohn fast tot. Besonders der Vater verlor total die Beherrschung.


Um ihr Mädchen kümmerte sich die Mutter nur insofern, dass sie ihr den dicken Lebertran-Verband abriss, um zu sehen, was darunter zu sehen war. Damit verschlimmerte sie die Narbenbildung enorm. Der Heilungsprozess dauerte sehr lange. Karlotta behielt schreckliche Narben im Gesicht. Aber auch das überlebte sie.


Sie waren einfach keine Familie mehr. Der Vater trank immer mehr und hatte immer wieder eine Freundin. Das war gut für Karlotta. Er hatte kein Interesse mehr an ihr.


Scheiden lassen wollte er sich auf keinen Fall. Seine Ehe war der Schutz seines freizügigen Lebens. Die Freundinnen wussten von seiner Familie und konnten sich so keine Hoffnungen auf eine Heirat mit ihm machen. Er brachte diese Frauen auch mit nach Hause. Sie verwöhnten die Kinder mit Süßigkeiten, die die Mutter nicht kaufen konnte, weil er ihr nur wenig Geld gab. So versuchten diese Frauen, die Mutter in den Schatten zu stellen. Kurt und Karlotta ließen sich schon ein bisschen bestechen, aber Karlotta sah die Traurigkeit der Mutter.


Es gab auch einen anderen Anlass, dass Karlotta die Frauen, die der Vater mitbrachte, nicht mehr mochte. Die Familie saß mit einem mit dem Vater befreundeten Ehepaar und einer seiner Freundinnen am Abendbrottisch. Das Ehepaar hatte einen Schäferhund dabei, der neben dem Tisch saß und bettelte. Die Freundin bestrich ein Stück Brot so dick mit Leberwurst, dass Karlotta das Wasser im Mund zusammenlief. Das leckere Brot war aber nicht für sie bestimmt, es wanderte in das Maul des Hundes. Dazu sagte die Freundin: „So wird es hier sein, wenn ich eure neue Mutter bin“.


Karlotta schossen viele Gedanken durch den Kopf: was hatte das zu bedeuten, was sollte mit ihrer Mutter geschehen, sie wollte sie nicht hergeben, sie wollte diese andere Frau nicht als Mutter, warum wehrte sich die Mutter nicht. Sie sah ihre Mutter hilfesuchend an, aber ihr Blick wurde nicht erwidert. Ihre Mutter sah still vor sich hin, zeigte keine Reaktion. Sie tat, als wenn diese Worte nicht gesagt worden wären. Aber Karlotta bekam diese Worte ihr Leben lang nicht aus ihrem Kopf. Und das dadurch entstandene bedrohliche Gefühl auch nicht.


Der Alkoholkonsum des Vaters wurde immer größer. Und so betrunken fuhr er auch mit dem Auto. Er hätte aber auch nicht mehr gehen können. Zum Glück war damals noch nicht so viel Verkehr auf den Straßen und er kam immer unbeschadet dort an, wo er hin wollte. Auch die Kontrollen waren noch nicht so streng. Er hatte einfach immer Glück. Seine größte Sorge in Bezug auf den Alkohol war, dass seine Mutter etwas über seinen Lebenswandel erfahren könnte. Er drohte seiner Frau Schlimmes an, wenn sie ihr je etwas erzählen würde. Als seine Mutter starb, war für ihn diese Sorge ja vorbei, und er wurde noch hemmungsloser.


Inzwischen war Karlotta so alt, dass sie begriff, dass es ihrer Mutter nicht gut ging. Sie erlebte auch, dass der Vater, wenn er betrunken war, unberechenbar werden konnte. Einmal schlug er die Mutter, ein anderes Mal warf er die ganze Familie nachts aus der Wohnung. Zum Glück schlief er einfach ein, als noch alle ihre Schuhe suchten. Karlotta hatte Angst vor ihrem Vater, aber sie hatte noch mehr Angst um ihre Mutter. Sie hatte ständig das Gefühl, dass sie sie beschützen müsste.


Dieses Gefühl bestimmte Karlottas ganze Kindheit und Jugend. Sie war immer nur darauf eingestellt, so schnell wie möglich und so viel wie möglich bei der Mutter zu sein. Sie wollte immer nur sehen, dass der Mutter nichts Schlimmes passiert war.


Aber die Mutter konnte das nicht verstehen. Einmal, als die Mutter abends die große Wäsche vorbereiten musste, ging Karlotta mit in die Waschküche im Keller.


Es gab ja noch keine Waschmaschinen. So wurde in der Waschküche unter einem großen mit Wasser gefüllten Kessel Feuer angezündet wie in einem Ofen. Wenn das Wasser zusammen mit dem Waschpulver heiß war, legte man die Wäsche hinein. Man wartete bis das Wasser anfing zu kochen, dann ließ man das Feuer ausgehen und die Wäsche bis zum nächsten Tag darin einweichen. Dann wurde die Wäsche auf einem Waschbrett gerubbelt und in großen Bottichen gespült.


Karlotta saß an diesem Abend die ganze Zeit in diesem ungemütlichen Raum auf einer harten Holzbank und wartet bis die Mutter ihre Arbeit beendete. Immer wieder forderte die Mutter sie auf, in die Wohnung zu gehen. Ohne Erfolg. Karlotta wusste, warum sie da saß. Es gab für sie auf der ganzen Welt keinen schöneren Platz, als in der Nähe ihrer Mutter und weit weg vom Vater.

ungewollt und ungeliebt Karlotta, geboren 1942

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