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2. Armani und Wellblechhütten

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Wie die Vietnamesen_innen leben

Wer nach Vietnam reist, erwartet viel Armut, nicht aber unbedingt Edelboutiquen, wie man sie auf dem Berliner Kurfürstendamm oder der Düsseldorfer Kö findet. Beides existiert in Vietnam nebeneinander. 195 Bürger_innen haben ein Vermögen von 20 Mio. US$ oder mehr. Selbst wenn sie daraus nur 1% Rendite erwirtschafteten, hätten sie das 100.000-fache eines vietnamesischen Durchschnittseinkommens. Das Wohlstandsgefälle ist in Vietnam größer noch als bspw. in Deutschland, Österreich und der Schweiz.[1] Dabei nennt sich Vietnam „Sozialistische Republik“. Versteht man unter „Sozialismus“ ganz allgemein eine Gesellschaftsordnung, die nach den Prinzipien sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit aufgebaut ist, so ist Vietnam weit davon entfernt.

Durchschnittlich haben die Menschen im Jahr pro Kopf 1.960 US$ zur Verfügung. An sich schon kaum vorstellbar, dass man davon leben kann. Doch viele sind noch wesentlich ärmer. Jede_r Vierte zählt offiziell zu den Armen. Diese müssen mit höchstens 2,24 US$ pro Tag auskommen und acht Prozent haben sogar nur 1,25 US$.[2] Hinzu kommen noch viele, deren Einkommen nur wenig über der offiziellen Armutsgrenze liegt. Gegenwärtig versucht der Staat den Mindestlohn soweit anzuheben, dass ein Erwerbseinkommen zum Leben reicht.


Fischerdorf auf Phu Quoc

Vor gar nicht allzu langer Zeit war die Armut noch erheblich größer. Noch 1993 zählten 60% der Bevölkerung zu den Armen. Gemessen daran, hat Vietnam in den letzten zwei Jahrzehnten einen gewaltigen Sprung nach vorne gemacht. Zurückzuführen ist dies auf die Neuausrichtung der Wirtschaft seit Ende der 1980er Jahre. Als 1986 der mächtige Generalsekretär der staatstragenden Kommunistischen Partei (KPV) Trường Chinh gestorben war kam es zu einem Generationswechsel, der die Einleitung einer „Politik der Erneuerung“ (Doi Moi) nach chinesischem Vorbild erleichterte. Der neu gewählte Generalsekretär Nguyễn Văn Linh soll sich wie folgt geäußert haben:

„Wir haben viele Rohstoffe und fleißige Leute; Vietnam muss nicht arm sein.“

Manche Autoren_innen bewerten diesen Politikwechsel weniger als radikale Veränderung, als vielmehr als Anpassung an das, was durch einen bereits 10 Jahre laufenden Prozess des Abweichens von den Diktaten der staatlichen Planung entstanden war (London 2006, 6). Privatunternehmen wurden zugelassen, der Finanz- und Warenverkehr wurde liberalisiert und Bauern erhielten ihre Hofparzellen zurück und können seither zusätzliches Land in Erbpacht erwerben. Mit den Reformen stieg das Angebot an Nahrungsmitteln sehr schnell und die Zeit des Hungerns war vorbei.

Bereits 1988 wurden die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften aufgelöst und bäuerliche Familienbetriebe traten an ihre Stelle. Kurz danach (1993) wurden die Bedingungen noch einmal verbessert. Das Bauernland ist seither quasi Privateingentum, auch wenn es nach wie vor dem Staat gehört: Die Erbpachtzeiten wurden auf bis zu 50 Jahre (für Dauerkulturen) bzw. 20 Jahre (für Einjahreskulturen) verlängert und die Bauern können die Rechte zur Bewirtschaftung der Ländereien – die „Landbenutzungs-Zertifikate“ – jetzt an Dritte übertragen, tauschen, vererben, verpfänden sowie Zertifikate von anderen pachten. Mittlerweile exportiert Vietnam Nahrungsmittel und gehört sogar zu den größten Reisexporteuren der Welt.

Ähnliches vollzog sich in den anderen Wirtschaftsbereichen. Bereits 1992 wurde in der Verfassung die marktwirtschaftliche Ordnung – wenngleich mit dem Adjektiv „sozialistisch“ – festgeschrieben. Damit ist gemeint, dass ein Großteil der Betriebe in staatlicher Hand verbleiben soll. Zunächst wurden Privatunternehmen noch kritisch beäugt, Unternehmensgründer_innen mussten aufwändige Genehmigungsverfahren durchlaufen und es gab ein enges Kontrollsystem. Den Durchbruch brachte im Jahr 2000 ein Unternehmensgesetz, das die Möglichkeiten der Einflussnahme seitens der Behörden drastisch verringerte. Binnen zehn Jahren stieg die Zahl der Unternehmen um das Fünfzehnfache. Von besonderer Bedeutung war darüber hinaus, dass die USA 1994 das bisherige Handelsembargo aufhoben. Zudem trat Vietnam ein Jahr später der Freihandelszone Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) bei und 2007 schließlich der Welthandelsorganisation (WTO). Gegenwärtig laufen Verhandlungen mit der EU mit dem Ziel, die gegenseitigen Zölle abzubauen. Vietnam gelte mittlerweile als eine der offensten Ökonomien der Welt, schreibt die IHK Pfalz, die deutsche Unternehmen bei ihren Aktivitäten in Vietnam berät.

Verändert haben sich damit auch die Wirtschaftsstruktur und die Einkommensmöglichkeiten. Waren 1990 noch drei Viertel aller Vietnamesen_innen in der Landwirtschaft beschäftigt, so sind es heute nur noch weniger als die Hälfte. Der Anteil derjenigen, die in der Regel besser bezahlte Jobs in Industrie und Dienstleistungen gefunden haben, hat sich seither verdoppelt.

Dieser Einkommenszuwachs ist an der Ausstattung mit Konsumgütern deutlich abzulesen. Bereits 2010 hatten 89% aller Haushalte einen Fernseher; 1993 war es nur jeder fünfte. Drei von vier Haushalten haben heute ein „motorbike“ (1993, 11%) und elektrisches Licht gibt es nahezu überall. Das Niveau der schulischen Bildung ist ebenfalls deutlich gestiegen. Vier von fünf Kindern besuchen die Schule über die verpflichtende fünfjährige Grundschule hinaus; 1993 waren es weniger als ein Drittel. Auffällig ist lediglich, dass nur sehr wenige Vietnamesen_innen ein Auto besitzen (1% der Haushalte). Die Ursache sind sehr hohe Luxussteuern von – je nach Größenklasse – 45% bis 195%. Doch es bestehen erhebliche Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Regionen.

Verbesserungen der Lebensbedingungen


Quelle: World Bank 2012, 18.

Während in den Megastädten Hanoi und Saigon (bzw. Ho Chi Minh City, wie der offizielle Name seit 1976 lautet) 98% der Einwohner_innen in Häusern mit festen Wänden (solid material) leben und in den übrigen Großstädten immerhin noch 91%, lebt auf dem Land fast ein Drittel in Wellblechhütten oder Bretterverschlägen. Auch die Versorgung mit Toiletten mit Wasserspülung ist ähnlich verteilt; hierüber verfügt auf dem Land nur gut ein Drittel der Haushalte. Zudem wird dort

Unterschiede zwischen Stadt und Land



Quelle: World Bank 2012, 81.

noch überwiegend auf einem mit Holz betriebenen Herd gekocht und selbst an elektrischem Licht fehlt es mancherorts. Arme Vietnamesen gehören meist einer der 53 ethnischen Minderheiten an. (Diese machen 13% der Bevölkerung aus.) Sie verfügen über wenig Bildung und leben in Regionen, wo es wenig Industrie und nur wenige Arbeitsplätze mit höheren Qualifikationsanforderungen gibt. Die Basis des Lebensunterhalts ist häufig die Landwirtschaft. Nicht die einzelnen Merkmale führen zwangsläufig zu Armut, sondern deren Kumulation. Gegenwärtig scheinen benachteiligte Gebiete, die vornehmlich von ethnischen Minderheiten besiedelt sind, erhöhte Aufmerksamkeit zu erhalten: Die Verkehrsinfrastruktur soll verbessert und es sollen dort mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, dass es in diesen Gebieten in den 2000er Jahren etliche Aufstände gegeben hat (vgl. Kapitel 5).

Von Armut betroffen sind insbesondere auch Kinder: 29% wachsen in materieller Armut auf. Von den zwei- bis vierjährigen Kindern war 2010 ein Drittel nicht hinreichend gegen Kinderkrankheiten geimpft und im Jahr vor der Befragung auch keinem Gesundheitszentrum vorgestellt worden. 39% der bis zu 15-Jährigen lebten in Wohnhäusern ohne hygienische Sanitäranlagen und ohne sauberes Trinkwasser. Zwei Drittel der Kinder im Alter von bis zu vier Jahren besaßen kein Spielzeug und keine Bücher (leisure). Auch müssen viele Kinder arbeiten, obwohl Kinderarbeit in Vietnam verboten ist. Von den unter 12-Jährigen sind es 4% und von den 12-14-Jährigen 21% (ILO 2014, 16). Zumeist arbeiten sie auf den elterlichen Bauernhöfen mit; Fabrikarbeit von Kindern dagegen ist selten. Vietnam war sogar das erste Land Asiens und das zweite weltweit, das der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN) beigetreten ist. Aber wo Armut herrscht, bleiben auch die Kinder nicht verschont.

Kinderarmut nach Bereichen



Quelle: World Bank 2012, 86.

Der vietnamesische Staat hat eine Fülle von Maßnahmen zur Unterstützung der Armen entwickelt. Dazu gehören u.a.:

 Zuschüsse zu den Kosten medizinischer Behandlungen

 Stipendien für Schüler_innen und Studierende

 Zuschüsse zu den Kosten des Schul- und Universitätsbesuchs

 Versorgung mit Lebensmitteln

 Unterstützung selbstständiger Tätigkeit, z.B. die Verbesserung landwirtschaftlicher Produktionsbedingungen.

Die obigen Zahlen verdeutlichen, dass die Programme längst nicht ausreichend sind. Immerhin aber ermöglichen sie, dass auch Kinder aus armen Familien die Schule über die verpflichtende Grundschule hinaus besuchen können.

Eine besonders hässliche Seite Vietnams ist die Korruption, die offenbar keine moralischen Schranken kennt. Darüber, wer arm ist, entscheiden lokale Behörden oft willkürlich (London 2006, 15). Nur jede_r Zweite der extrem Armen erhält soziale Leistungen, aber jede_r achte der Bezieher_innen hat ein Durchschnittsgehalt oder mehr und hätte somit gar keinen Anspruch (World Bank 2012, 88). Korruption, und sei es in Form von „Beziehungen“, wird in Vietnam auch seitens der Regierung heftig kritisiert. Dennoch existiert sie überall – und zwar auch zulasten der extrem Armen.

Das Fazit aus diesem Kapitel ist: Preise herunterzuhandeln gehört in Vietnam dazu und betrügen lassen sollte man sich auch als „reiche_r“ Tourist_in nicht. Aber Menschen, die pro Tag nur gut 2 US$ zum Leben haben, kann man mit sehr wenig Geld glücklich machen. Gerne und gleichzeitig beschämt denke ich an die Straßenverkäuferin, der ich zwei Tage vor der Abreise zwei Stangen Zigaretten abkaufte. Sie war überglücklich und bestand darauf, mir ein Feuerzeug zu schenken. Als ich am nächsten Tag noch einmal zwei Stangen kaufte, standen ihr Tränen in den Augen.

Rätselhaftes Vietnam - Hintergrundwissen für Touristen und andere

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