Читать книгу New York bis September - Helge Brühl - Страница 3

Prolog - September 2011

Оглавление

Wo entspringt der Quell grenzenloser Freude und solch furchtbarer Angst? Diese Frage beschäftigte ihn nicht erst seit heute. Aber erst recht, nachdem er bis vor wenigen Minuten die Bilder von damals gesehen hatte, die einen eingeschlossenen Bodensatz von Gefühlen aufwühlten, denen er immer davonlief. Jedes Jahr, immer im September, zeigten sie die Bilder und jedes Mal aufs Neue hatte er sich fest vorgenommen den Fernseher nicht einzuschalten. Er tat es dennoch. Doch je länger er den Fernsehbildern zugeschaut hatte, desto tiefer schien es, wurde er unwillkürlich in seine jüngste Vergangenheit gezogen. Es gab Erlebnisse, die man über Jahre hinweg verdrängt hatte und die plötzlich wie aus dem Nichts auftauchten, einen nicht zur Ruhe kommen ließen, weil man dass was man erlebt hat, nie mehr vergessen kann. Inzwischen wusste er wie unerbittlich grausam Gott und das Leben sein konnten, aber zugleich auch voller Barmherzigkeit. Trotzdem gab es kein Mittel diese Geschichte in freundlicheren Farben zu malen, zu unvorstellbar war die Tragödie, als das man bis heute in der Lage war sie zu begreifen. Was er damals erlebt und gesehen hatte, lag außerhalb der Grenzen all dessen was er kannte, dass selbst das Gedächtnis bei der Erinnerung daran zurückschreckte. Es war schlicht unfassbar. Nein, er war nicht dabei als so viele Menschen sinnlos den Tod fanden, aber er war trotzdem ein Teil davon. Irgendwie war auf verrückte Art und Weise das eine mit dem anderen verknüpft. Und die Vergangenheit mitsamt den Toten begraben zu können war eine Lüge. Noch heute meinte er bisweilen, ihre verzweifelten Schreie zu hören, auch wenn er nie erfahren würde, was sich damals wirklich abgespielt hatte. Doch die Erinnerungen kamen immer wieder und waren genauso bittersüß - genauso schmerzhaft - wie damals als er versucht hatte sie zu verdrängen. Vieles ließ sich heute mit einer gewissen Distanz betrachten, die er in den letzten Jahren gewonnen hatte, doch auch mit dieser Distanz war er immer wieder zu der Überzeugung gelangt, dass die Zeit zwar viele Wunden heilt, aber auch tiefe schmerzende Narben hinterlässt. Er kniff die Augen zusammen und kämpfte mit den Tränen und den Erinnerungen, die immer wieder aufbrachen wie ein hartnäckiges Magengeschwür.

Sein Name war Frank Bender. In knapp zwei Wochen würde er seinen achtundvierzigsten Geburtstag feiern. Jetzt stand er am Fenster seines Wohnzimmers und schaute hinaus in eine stille, kühle Nacht. Nur ein leichter Wind säuselte zart durch das Laub des Lindenbaumes am Straßenrand. Es schien gerade soviel Mondlicht, dass er das Zittern der Blätter sehen konnte. Als er auf die Uhr starrte, runzelte er die Stirn, denn es war schon weit nach Mitternacht. Langsam beruhigte er sich wieder, trat ein paar Schritte zurück in den Raum und ließ den Blick über die Familienfotos wandern, die auf dem Kaminsims versammelt standen. Nur das Feuer des Kamins und der Fernseher erhellten den Raum. Doch das Resultat war eine Atmosphäre beklemmender Düsternis, die auch das flackernde Licht der Kerze auf dem Wohnzimmertisch nicht aufzuhellen vermochte. Unschlüssig schaltete er mit dem Fuß die Stehlampe an. Seine Augen zuckten kurz zusammen, als der helle Schein ins Zimmer flutete.

Fotos sind schon eine seltsame Sache, dachte er, während er die lächelnden Gesichter betrachtete. Gesichter, die er über alles auf der Welt liebte, Gesichter, die ihm alle vertraut waren. Zufrieden musste er lächeln, denn heute stand für ihn fest, so unverrückbar wie der Mount Everest, dass sich der Sinn des Lebens nur im Herzen derer bemessen lässt, die man liebte und die einen ihrerseits liebten. Unter all den Dingen, die es möglich machten das Leben zu genießen, war die Liebe das Wichtigste, denn ohne Liebe war man nichts.

Franks Augen schweiften weiter, verharrten auf einem Bild, das in einem Fertigrahmen aus Acryl steckte, und etwas größer war als eine Postkarte. Behutsam nahm er den Rahmen in seine Hände und schaute auf eine Aufnahme der Südspitze von Manhattan mit den Zwillingstürmen des World Trade Centers am Battery Park, die es heute nicht mehr gab. Das Foto hatte er selbst aufgenommen, irgendwo, irgendwann, vom Ufer des Hudson River in New Jersey. Naheliegend müsste er hierbei hinzufügen, so schien es ihm, dass er damals für mehrere Monate in New York gelebt hatte, weil er dort einen wichtigen Job übernahm. Es war eine wunderbare Zeit, dachte er, eine beneidenswerte Zeit. Aber was das Leben damals unter anderem so beneidenswert machte, war die Liebe zu einer Frau, die er durch einen kuriosen Zufall mitten in dieser großen Stadt traf, die er heiraten wollte, die ein Kind von ihm erwartete und die ihn ebenfalls liebte, so dass er nur noch Augen für sie hatte. Deshalb hatte er auch eine ganz besondere Bindung zu dieser Stadt, die man ohne jeden Zweifel schon als liebevolle Hinneigung bezeichnen konnte. Dutzende Monate waren seitdem vergangen, zehn volle Jahre. Und das Leben war unaufhaltsam weitergegangen, schrieb weiter seine eigenen Storys.

Der Kamin knisterte angenehm, doch die Flammen loderten schon schwächer. Die Glut hatte bereits große Aststücke zerfressen. Frank nahm ein paar Scheite Holz und legte sie ins Feuer, dann setzte er sich in den bequemen Sessel, der freie Sicht auf die lodernden Flammen erlaubte. Den Kopf in die Hände gestützt ließ er seinen Gedanken freien Lauf.

Die Fernsehdokumentation, deren schmerzende Abfolge von Bildern, lief noch immer vor seinem inneren Auge ab und ließen sich nicht so einfach verscheuchen. Zu sehr war sie mit seinem Schicksal verbunden, denn damals stand er vor einem wichtigen Wendepunkt in seinem Leben und er musste eine Entscheidung treffen. Es ging weniger darum lange darüber nachzudenken, als etwas herauszufinden. Und Frank fand heraus, was er herausfinden wollte und dabei auch, wer er wirklich war. Was immer auch der Grund gewesen sein mochte, er hatte getan was er tun musste und so manches gelernt und verstanden, jedoch nie etwas bereut, geschweige denn irgendetwas vergessen.

Aber wie und wann hatte eigentlich seine Geschichte damals angefangen, fragte er sich, und das Gedächtnis seines Herzens begann sofort vehement zu arbeiten. Wo war der Punkt von dem aus alles begonnen hatte? Frank erinnerte sich an die Vergangenheit, wie an eine Linie von Geschehnissen und Jahreszahlen, von dem Punkt aus, wo er jetzt stand, nach hinten, immer dieser Linie folgend, bis er dorthin gelangte, wo die einzelnen Facetten der Erinnerung sich zu einer wiedererzählbaren Geschichte formten. Und die Bilder der Vergangenheit drangen wie eine Flut in ihn ein, erst grau und verschwommen, bis sich die Konturen langsam fanden und mit bunten Farben füllten, als ob man einen Film im Labor entwickelte, der wenig später auf einer Leinwand lebendig wurde. Und diesen Film konnte man nicht einfach abstellen wie bei einem Fernseher, er lief weiter und weiter bis zum Ende.

New York bis September

Подняться наверх