Читать книгу Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers - Helge Hanerth - Страница 3
Vorwort
ОглавлениеNie habe ich gedacht, dass ich ein zweites Buch schreiben würde über Alkohol. Nie habe ich gedacht, dass eine zweite Trinkphase möglich ist. Nie habe ich einen Rückfall für möglich gehalten. Aber das hier ist tatsächlich eine Fortsetzung. Entscheiden Sie selbst, ob es auch ein Rückfall ist. So erzähle ich also weiter über Alkohol und den Kampf gegen seine Folgen.
Die sorgten diesmal für unglaubliche juristische und gutachterliche Konsequenzen. Wieder wurde mir der Führerschein entzogen. Diesmal nach einer Personenkontrolle an einer S-Bahn Station. Ich war mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Die Streifenpolizisten waren anderer Meinung. Der folgende Antrag eines Staatsanwalts auf ein Gerichtsverfahren wurde ohne hinreichenden Tatverdacht abgelehnt. Den Führerschein erhielt ich zurück, bis auf Intervention des Staatsanwalts bei der Verkehrsbehörde diese den Führerschein wieder einzog. Diesmal musste er nichts beweisen. Es reichte seine vor Gericht widerlegte Version der Dinge, damit die Führerscheinstelle wohlwollend Bedenken erhob, die mich plötzlich beweispflichtig machten, obwohl kein Vergehen vorlag. Nur durch eine Medizinisch-Psychologische Begutachtung (MPU) konnte ich da wieder rauskommen. Dieser raffinierte Dreh des Staatsanwalts führte mich diesmal noch tiefer in ein Kuckucksnest absonderlicher Merkwürdigkeiten fern jeglicher Wahrheit, aber offizieller Realität.
Mein Vertrauen in gutachterliche Präzision auf wissenschaftlicher Basis wurde zu tiefst erschüttert. Der Gutachter hatte sich ein entsprechend seiner Erfahrung plausibles Bild gemacht, dem ich nur noch zustimmen sollte. Ein makabrer Höhepunkt seiner Annahmen war, das er von einer tatsächlichen Trunkenheitsfahrt als Anlass für die MPU ausging. Das war bei ihm wohl bisher immer so gewesen. So sah er keinen Grund an seinen Überzeugungen aus Erfahrung zu zweifeln, in denen es einen Fall wie den meinen nicht gab. Er ging also ganz selbstverständlich von der Anwendbarkeit seiner Erfahrungen aus, so das er es nicht für nötig erachtet hatte im Vorfeld meine Akte zu studieren. Ganz offiziell lag lediglich ein Verstoß gegen die Abstinenzpflicht vor. Daraus machte der Gutachter eine wiederholte Trunkenheitsfahrt. Meine Einwände fand er unglaubwürdig. Das entsprach einfach nicht seiner Erfahrung.
Der Experte war einem Kernproblem bei der Begutachtung erlegen. Wenn allgemeine Annahmen erhoben werden ohne ausreichende Wissensgrundlage, können die im Einzelfall in Widerspruch zur Realität stehen. Der Klient, der dann bei der Wahrheit bleibt, kann unmöglich gegen die Überzeugung des Gutachters bestehen. Glaube versetzt Berge, nicht das Wissen.
Ich war enttäuscht, dass man mich auf ein statistisches Niveau stutzte, das mit meiner Lebensrealität überhaupt nicht zusammenpasste. Die relativen Aussagen von Statistiken wurden zum absoluten Maßstab erklärt. Man erwartete, dass ich ihre Annahmen bestätigte. Darüber hinaus interessierte man sich nur für Maßnahmen, die ich ergriffen hatte, um aus dem tiefen Loch des Alkoholismus herauszukommen, in dem ich mich nie sah. Es war doch alles ganz lustig gewesen und die Trinkphase längst abgeschlossen.
Ich war schockiert, wie man Fakten ignorierte, wenn sie nicht die Überzeugungen der Experten und ihre Statistiken stützten. So entstanden einige systematische Fehler in ihren Folgerungen, die durch und durch falsch waren und den Prinzipien einer empirischen Vorgehensweise krass widersprachen. Vorsichtige Kritik wurde mir schnell als Unschuldsfantasie oder Widerstandstendenz ausgelegt. So kreierte man ein surreales Kuckucksnest in dem selbstherrlich des Gutachters Gespür und Bauchgefühle regierten. Assoziationen ohne rationalen Bezug dienten der Bestätigung von Überzeugungen. Wenn dem etwas widersprach, dann gehörte es auch nicht in die MPU. Die Rechtfertigungen blieben diffus, denn er suchte nur die Plausibilität, die er vorgab. Er wusste, die Beweislast lag bei mir.
Damit konnte ich mich nicht abfinden, weder als Betroffener noch als Wissenschaftler. Offizieller Unsinn muss öffentlich gemacht werden, wenn die Abweichung amtlicher Feststellungen von der Realität krass wird. Gutachterliche Qualität mit wissenschaftlichen Methoden muss eine größere und vor allem reproduzierbare Qualität haben. Sie muss unabhängig und frei von Gesinnung sein. Dafür ist die Tragweite solcher Entscheidungen zu weitreichend. Ich hoffe meine Erlebnisse können das deutlich machen.
Wieder fiel mir nach einer geplanten Trinkphase während eines längeren Auslandsaufenthalts meiner Familie ein alkoholfreies Leben leicht. Alkohol war doch immer die zweite Wahl gewesen. Und es gab so viele Alternativen. Nur wenn nichts anderes ging, dann war das nur noch eine letzte Option, um zu peppen was andere Kicks eigentlich besser konnten. Alkohol bot mir doch nur Feierabendlaune und Bettschwere als vorübergehenden Strohwitwer. Alle meine Hobbys waren prickelnder. Aber nach Feierabend, wenn ich mich im Job durchgesetzt hatte, war es doch ein netter Ausklang zu verdientem Schlummer.
Das auslösendes Ereignis zu diesem Verfahren war ein Sportunfall, der mir beide Beine brach. Nach der Rehabilitation hatte ich sowieso vor, mein altes Leben wieder zu führen. Alkohol füllte nur ein Zeitfenster. Alkohol zerstreute vorübergehend die Sehnsucht nach mehr. Alkohol blieb ein Mittel zum Zweck. Das alkoholische Craving war keine Gefahr für Prägungen, die tiefer gingen.
Das war nach meinen Überlegungen überhaupt die zentrale Bedingung, um eine Trinkphase zuzulassen. Bei meinen Lebensprinzipien hatte sich doch nichts geändert. Weiterhin galt: Ich wollte meine Familie. Ich liebte meine Arbeit und meine Hobbys viel zu sehr und wollte sie pur genießen. Nur dann erlebe ich Details und Zwischentöne. In der Tiefe solcher Erlebnisse liegt die Ursache für Nachhaltigkeit und angenehme Erinnerungen. In solchen Situationen tötet Alkohol jedes Feingefühl. Das wusste ich doch so glasklar. Dieser Eindruck hatte sich durch die alkoholfreie Zeit nach meiner ersten Trinkphase noch verstärkt. Alkohol blieb das Substitut für die besseren Alternativen. Die Verachtung gegenüber Alkohol war sogar gewachsen. Konnte es überhaupt eine Droge geben, die mehr drauf hat als die Leidenschaft aktiver Kicks? Aus meiner Alkoholerfahrung heraus, gibt es auf diese Frage ein klares Nein! Wie bescheiden muss man werden oder gar verblöden, um dauerhaft mit Alkohol glücklich zu sein? Alkohol schafft nichts. Weiterkommen im Leben kann ich mit Alkohol nicht. Meine Gier nach Erfolg, da wo er meine Seele berührt, ist die stärkere Antriebsfeder. Erlebenstiefe bleibt den aktiven Kicks mit Mehrfachnutzen vorbehalten. Nur so läuft ein Leben, das mich beeindruckt und sich nicht in einer Endlosschleife beliebiger Räusche verflüchtigt, sondern auswächst zu einer lebensspendenden Kraft die immer wieder berührt.
Mehrere Gründe mussten zusammen kommen, um mich vom Trinken zu überzeugen. Erst ein Sportunfall, der mich für Wochen arbeitsunfähig machte, war ein ausreichender Grund eine vorübergehende neue Trinkphase einzuleiten. Auch in dieser Periode kam mir Alkohol nur in den Sinn, wenn der Tag gelaufen war. Wenn nichts mehr ging oder das Bett schon rief, dann konnte Alkohol ein akzeptabler Tagesabschluss sein. Aber diese Erfahrung war nicht von Dauer. Dem Alkohol fehlten einfach ein paar Eigenschaften, um sich gegen tiefergreifende Leidenschaften durchsetzen zu können. So endete auch diese Trinkphase fast genau so, wie ich es von Anfang an vorhergesehen hatte.
Bei meinem Ausstieg half es die Techniken und Lebensprinzipien anzuwenden, die ich bereits entwickelt hatte. Sie begleiten mich größtenteils bereits seit meiner Kindheit. Wie ich das tat und wie ich meine Werkzeuge weiter präzisierte, beschreibe ich im Detail.
Seitdem haben sich weitere Gelegenheiten zum Trinken nicht ergeben. Ich bin in der Zwischenzeit auch anspruchsvoller geworden und erwarte mehr von Freizeitgestaltung als Alkohol und TV bieten können. Der Verlauf der zweiten Trinkphase war etwa nach der Hälfte der Zeit nur noch mäßig interessant. Alkohol war ausgereizt. Das war auch so meine Annahme vorher schon gewesen. Das hatte ich schon zuvor in den Protokollen zu der ersten Trinkphase so festgehalten. Dort stand bereits, dass ich mir sicher war, das mir Alkohol ein Auslaufmodell sein würde und die Fortsetzung des Trinkens unbefriedigend. Deswegen sehe ich auch keine Chancen für eine dritte Trinkphase. Ich würde ganz bestimmt auch nicht die Zustimmung meiner Familie bekommen. Und ich mache nichts ohne Frau und Kinder. Deswegen war diese Trinkphase schon von Anfang an terminiert auf die Rückkehr meiner Familie. Wie alles im Alltagsleben und im Beruf eines Kontrollfreaks, war das schriftlich geplant inklusive Dosisreduktionen. Ich wollte nichts dem Zufall überlassen. Der Übergang zur Rückkehr meiner Familie musste unbedingt reibungslos verlaufen.
Ich habe mich auch gefragt, warum es mir so leicht fiel, vom Alkohol zu lassen. Die Gründe sind vielfältig und haben einen Schwerpunkt in meiner Pubertät und Adoleszenz. Für die Gutachter waren Verhaltensprägungen neben dem Craving durch Alkohol überhaupt nicht untersuchungswürdig. Sie kannten eine Art Standardalkoholiker und dieses Modell wurde universell eingesetzt. Differenzierende Zwischentöne waren unerwünscht. Beeindrucken konnte mich ihre kategorische Ablehnung bald nicht mehr, dafür hatten sie die Wahrheit zu sehr verdreht. Die Antworten die ich fand für meine Art mit Alkohol souverän umzugehen, breite ich im Buch weit aus.
Ich will mich rechtfertigen gegen alkoholische Eindimensionalität auf beiden Seiten. Es geht bei den gutachterlichen Feststellungen ja nicht nur um Überzeugungen, sondern um amtliche Feststellungen mit dem Status von Beweiskraft. Solche Urteile sind rechtsverbindlich. Ich befürchte, dass Fundament für einen solchen Anspruch muss erst noch gebaut werden.
Darüber hinaus glaube ich nicht, dass mein Umgang mit Alkohol außergewöhnlich ist. Andere können das auch. Wieder andere können das lernen. Ich hatte doch erst mit mitte vierzig mit dem Trinken angefangen, als ich auf eine sehr verbreitete Trinkkultur stieß. Ich kopierte doch nur das Verhalten von Arbeitskollegen, die das immer schon so machten. Diese Kollegen, die ihre Feierabende ganz unauffällig mit Alkohol vor dem Fernseher zelebrierten, gab es doch in tausenden anderen Firmen im ganzen Land. Mein Wissen über das schöne Leben mit Alkohol teile ich gern. Nachteile und Einschränkungen gab es keine. Das war ein rundum gelungener Lebensabschnitt, garantiert autofrei bei mir und den Kollegen. Auf Dauer interessanter blieben aber aktive Kicks.
Das Buch ist der zweite Teil meiner Lebensweisheiten. Den dritten Teil habe ich bereits begonnen. Er handelt über mein alkoholfreies Leben in Asien und soll den Weg aus dem Kuckucksnest erzählen. Erscheinen wird er nach meiner Rückkehr nach Deutschland.
Zum Schluss will ich noch anmerken, dass der Name des Autors natürlich ein Pseudonym ist. Alkoholismus ist eine Schande, damit gibt man nicht an. Außerdem will ich kein Gerede hinter meinem Rücken und schon gar nicht, wenn es berufsschädigend wird, weil sich Kollegen und Geschäftskunden daran beteiligen. Ich will nicht den Vorurteilen ausgesetzt sein, gegen die ich in diesem Buch angehe. Im Gegensatz zum Alkohol ist meine berufliche Karriere ein Angelpunkt, den ich pflegen will und mehren, weil er mein Leben schön macht so wie Frau und Kinder und vieles mehr, das nur ungetrübt von Drogen den Geist bis hin zum Anschlag kickt.