Читать книгу Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers - Helge Hanerth - Страница 4

Das neue Leben mit Führerschein

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So hatte ich endlich meinen Führerschein wieder. Das hatte lange genug gedauert und mich beinahe in eine wirtschaftliche Katastrophe gestürzt. Ich lebte wieder mein altes Leben. Alles war wieder so, wie es auch über Jahrzehnte war, nur eben nicht während der achte Monate, in denen ich täglich getrunken hatte. Die sogenannten eingeübten Verhaltensmuster bestimmten wieder mein Leben genauso wie sie es vor der Trinkphase immer getan hatten. Den Gutachtern war das Einüben von Verhaltensmustern gegen das Trinken sehr wichtig. Ich habe keine Zweifel daran, dass das Entwickeln und Einüben neuer Verhaltensmuster eine große Hilfe gegen Trinkdruck ist. Noch wichtiger finde ich aber, dass man Leidenschaft gewinnt für ein anderes Leben, denn Dinge, die permanent gefühlt werden, haben einen stringenteren Einfluss auf einen Änderungsprozess. Genügend Leidenschaften brachte ich mit. Da waren die beruflichen Herausforderungen in einer Position, die mich wichtig machten. Da war der Sport von Joggen bis Gleitschirmfliegen. Da war meine noch neue Familie und so vieles mehr. Ich war glücklich so, weil ich dieses Leben mochte, wie ich so lebte wie ich eigentlich immer gelebt hatte bis auf die Trinkphase. Von explizit neuen Verhaltensmustern konnte definitiv nicht die Rede sein. Ich lebte, wie ich fast immer gelebt hatte. Ich lebte meine Welt, die kaum Alkohol kannte, mit kleinen Änderungen wieder weiter, so wie es sich seit meiner Kindheit entwickelt hatte.

Ich fand meine Lebensweise sehr deterministisch, weil in meinem Gehirn mein mich prägender präfrontaler Cortex mit entscheidenden Kindheits- und Jugenderinnerungen wesentlichen Anteil daran hatte. Ich setzte mein Leben fort, wie ich es schon früh in meinem Leben für gut befunden hatte. Dagegen hatte Alkohol nur Punktsiege feiern können. So musste meine Trinkphase ein Anachronismus bleiben. Ich lebte auch abstinent. Nicht das ich mich darum bemühte, aber es gab einfach keine Alternative. Alles was ich machte war interessanter. Wie konnte das auch anders sein, wenn es auch früher bei gleichem Leben keine Rolle für Alkohol gab. Es war doch erst zum Missbrauch gekommen, als es zu einer Störung in meinem Leben kam, die mir eine wesentliche Entfaltungsmöglichkeit raubte. Jetzt konnte ich wieder alle Energie rauslassen. Ich musste die Energie, die in mir kochte, verbrennen, sonst konnte ich nicht schlafen. War das denn nicht normal, wenn man voll von Lebensfreude und Leidenschaft ist Berge zu versetzen? Deswegen kniete ich mich doch so gerne in Arbeit. Wenn ich dann nicht wenigstens noch ein paar Kilometer joggen konnte, fehlte mir die körperliche Ergänzung, denn Sport war mehr als nur Ausgleich. Es war so einfach, glücklich zu sein, vor allem wenn man wusste was man braucht. Ich liebte dieses Gefühl nach dem Sport völlig ausgelaugt verdienten Schlaf zu finden. Fast acht Monate musste ich auf diesen befriedigenden Schlaf verzichten. Jetzt genoss ich es, ihn wieder zu haben.

War es nicht auch vernünftig jetzt Verzicht zu üben, wo meine Frau nach der Schwangerschaft wieder ganz die Alte war? Alleine waren wir auch nicht mehr. Partner und Kind hatten doch auch Rechte und ich mit ihnen an ihnen. Ich hatte mein Leben wieder und gratis dazu neue Herausforderungen. Da war mein Sohn, der gerade erst auf der Welt war und bereits lautstark seinen Platz einnahm. Gemüsebrei kochen mit Zutaten aus biologisch kontrolliertem Anbau, füttern und Windeln wechseln bestimmten zusätzlich den häuslichen Tagesrhythmus. Da hätte Alkohol mal wieder nur gestört.

Mein Leben war wieder so alkoholfrei wie immer. Mit etwa einem Dutzend Flaschen Bier im Jahr fand ich das jedenfalls sehr alkoholfrei. Wenn ich auf neue Herausforderungen traf, dann habe ich gerade in der ersten Zeit nach der letzten MPU, mich innerlich immer wieder gefragt: ‚Und das soll ich für Alkohol eintauschen?‘, ‚Nie im Leben‘, war dann die Antwort meiner inneren Stimme. Dem Prinzip Aktivität statt Passivität, Sport statt Alkohol blieb ich treu. Es war leicht diesem Prinzip zu folgen. Meine Erfahrungen sprachen für sich, die im Gegensatz zu gutachterlichen Erfahrungen, vor allen Dingen vollständig waren für eine qualifizierte Annahme. Den Mut zur Diagnose einer lückenhaften Anamnese habe ich nicht.

Auf einer Betriebsfeier wählte ich extra einmal gegen meine Gewohnheit den Sekt statt Orangensaft. Übrigens hatte ich während der Trinkphase peinlichst darauf geachtet gehabt bei Empfängen nie Sekt zu trinken, um Beruf und Feierabend klar zu trennen. Job war Job und Schnaps war Schnaps, wie bei den Kollegen. Bei der Betriebsfeier dachte ich: ‚Und das soll mich jetzt in den Alkoholismus treiben?‘ Es war leicht, danach wieder zum Saft zu wechseln. Ein Alkoholkonsum ohne berauschende Wirkung konnte mich doch nicht animieren weiterzutrinken. Nach diesem Beweis dachte ich nicht mehr weiter über meine Risiken nach und verweigerte zugünftig wieder jedes Glas Sekt, einfach nur aus dem simplen Grund, weil Saft weniger sauer schmeckt.

Die Rückkehr in den Job aus Elternzeit wurde zur Punktlandung. Das musste auch so klappen. Ich hatte unterschrieben, dass ich meiner Kündigung zustimme, wenn ich es nicht in der vereinbarten Zeit schaffe. Die Angst vor einschneidenden wirtschaftlichen Konsequenzen war groß. Als Kind litt ich schon sehr, als meine Mutter vorübergehend arbeitslos war. Dabei wusste ich schon damals, dass die Folgen nicht sehr dramatisch sein konnten für unsere Familie, weil mein Vater ja als Polizist ein Landesbeamter war.

Ich fand mich toll, mein Ziel hingekriegt zu haben, denn mir war klar, ohne meine sportlichen Stärken wie Zielstrebigkeit, Leidensfähigkeit, Sturheit etc. hätte ich das vielleicht nicht erreichen können.

Es tat gut, sich wieder in richtiger Arbeit auszutoben, deren Ergebnisse sich für die Firma und für mich in barer Münze auszahlten. Ich hatte Umsatzverantwortung. Mein Erfolg war individuell in Euro messbar. Von Anfang an stürzte ich mich auf jede Aufgabe, die ich an mich reißen konnte. Ich wollte schnell wieder mit meinen Umsätzen in den Rankings nach oben, wollte vergessen machen, dass es da eine Auszeit gegeben hatte. Schluss war nun mit Gammelei. Den Gedanken, dass man ohne mich ausgekommen war, verdrängte ich schnell. Ich wollte überall präsent sein und am liebsten unersetzlich. Das war ich doch auch dem Chef schuldig. Er hatte gegenüber der Personalabteilung meine Interessen vertreten. Sein persönlicher Einfluss war ausschlaggebend gewesen. Auf meine Loyalität durfte er jetzt noch mehr bauen.

Etwa ein Jahr blieb mir Zeit für Wiedergutmachung, dann würde der Betriebsübergang meines Betriebsbereichs uns trennen. Dann sollte unsere Abteilung verkauft werden. Im Rahmen einer strategischen Neuausrichtung wurden wir gerade in eine GmbH umgewandelt. Als externe Konzerntochter sollten wir dann als Ganzes verkauft werden. Mit dem Verkaufserlös wollte die Mutter einen anderen Zukauf finanzieren. Der Erwerber unserer Abteilung stand schon fest. Er wollte mit uns seine Marktposition in einem wichtigen Segment ausbauen. Wir passten gut in sein Portfolio, und sie hatten einiges in der Pipeline. Für eine Markteinführung wollten sie sich mit uns verstärken. Markttechnisch gesehen würden wir von den neuen Besitzverhältnissen profitieren. Rational klang das nach einem vernünftigen Deal mit einer klassischen Win-Win Situation. Emotional blieb Skepsis.

Den anstehenden Betriebsübergang spürte ich persönlich daran, dass ich über Monate immer weniger zu tun hatte. Die alte Mutter stellte immer bescheidenere Ziele. Die meisten Projekte ließ man auslaufen. Die gesamte Belegschaft ging in Warteposition. Bloß nichts tun, was nicht honoriert wird, war die allgemeine Devise. Irgendwann hatte ich nur noch ein Projekt am laufen. Das war mir aber sehr wichtig, weil es einen großen Kongress in den USA betraf. Ansonsten hatte ich zunehmend das Gefühl, ich habe mein Gehalt nicht wirklich verdient. Ich arbeitete doch so wenig. Also begnügte ich mich damit, in Startposition zu gehen für den Neuanfang und testete nebenbei meinen Marktwert durch Bewerbungen querbeet durch die Branche. Sollte der Neustart mit dem neuen Eigentümer nicht in meinem Sinne verlaufen, läge dann ein vollzugsfähiger Plan-B vor.

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Ein besonderer Höhepunkt wurde die zweite Schwangerschaft meiner Frau. Natürlich verlief alles anders als beim ersten Mal. Es war doch alles besprochen. Meiner Frau war klargeworden, dass sie nicht an meiner Liebe zweifeln musste, wenn ich Sport trieb. Sport war eben zu erst in meinem Leben gewesen und immer ging es mir mit Sport besser. Das kann man auch nicht so leicht verstehen, wenn man diese Prägung nicht selbst erfahren hat. Was man aber nicht verstehen kann, kann man trotzdem respektieren. So begann die zweite Schwangerschaft viel entspannter als die erste.

In der siebenundzwanzigsten Schwangerschaftswoche kam es zu einem einschneidenden Ereignis. Meine Tochter drängte es mit aller Macht in die Welt. Meine Frau und ich entschieden uns, als die Wehen unerwartet massiv einsetzten, nicht zum nächsten Krankenhaus zu fahren. Es gab eine Spezialeinrichtung mit eigenem RTW für Frühchen, die nicht viel weiter entfernt lag. So konnten wir sicherstellen, das alle Fachleute bereits vor Ort waren bis hin zum Kinderkardiologen für eine sehr frühe Frühgeburt. Meine Frau kam vom Auto direkt in den Kreissaal. Fünfzehn Minuten später war meine Tochter da. Sie atmete von Anfang an weitgehend selbstständig. Das war unter den Umständen ein guter Anfang. Die ersten zwei Monate verbrachte sie auf der angeschlossenen Intensivstation.

Das war eine harte Prüfung. So sehr sich die Ärzte und Schwestern bemühten, eine entspannte Atmosphäre von Sicherheit zu schaffen, wich die Anspannung nie ganz. Einmal vermisste ich auch ein anderes Elternpaar mit ähnlichem Schicksal, das ich jeden Tag getroffen hatte. Kamen sie nicht mehr, weil ihr Kind es nicht geschafft hatte? Das machte mir wieder bewusst, dass nicht immer die Anstrengungen der Fachkräfte und der Einsatz toller Technik mit Erfolg belohnt werden. So war es schon eine Erleichterung, als meine Tochter nach endlosen Wochen mit Maximalversorgung, innerhalb der Station verlegt wurde. Nach und nach arbeitete sie sich weiter hoch und wurde in Zimmer verlegt mit abnehmender technischer Versorgung. Das machte Hoffnung, als ihre Organe allmählich selbst tun konnten, wobei sie zuvor Maschinen unterstützt hatten.

In dieser Zeit trank ich nicht. Es wäre so sinnlos gewesen und hätte ein neues Motiv gebraucht. Trinken wegen eines Problems, das war mir zu billig. Probleme schafft man aus der Welt. Ich bin doch ein <Macher>. Damit widersprach ich wieder Mal Gutachtern. trinken um Problemen wegzulaufen ist ein Trinkmotiv. Wieder Mal denke ich, wie wichtig ein vollständiges Bild für eine Prognose ist, das in jeder MPU gefehlt hat. Ich wusste, ich mag intensives Erleben nicht nur in guten Zeiten. Prüfungen in harten Zeiten empfinde ich als natürlich. Es ist nicht meine Art wegzulaufen, wenn es schwierig wird. Auch hier gilt mir <C`est la vie>. Es gibt Herausforderungen des Lebens, die immer aus heiterem Himmel über uns hereinbrechen können. Da darf man dann nicht erschrocken sein. Da frage ich nicht: ‚Warum trifft es gerade mich‘. Die Herausforderungen nehme ich an, weil dass das Leben ist. Sicher hilft es, wenn man sich solche Gedanken schon im Vorfeld gemacht hat. Wer Risiken verdrängt ist in jeder Situation schlecht vorbereitet.

John Lennon hat mal dazu mit einem Achselzucken gesagt: „Life is, what happens to you, while you are busy making other plans.” Einige Zeit später wurde er ermordet. Das Leben ist anzunehmen, weil wir keine Voraussagen machen können. Deswegen wurde Lennons Aussage bereits mein Leitspruch, als ich Student war und für die DLRG im Sommer Wachdienst in einem Nordseebad schob und statt mit Wasserrettung mit Reinfarkten von Herzpatienten in Kur konfrontiert wurde.

Die Situation mit meiner Tochter war eben so wie sie war. So war sie anzunehmen in aller Offenheit und Intensität. Das durfte die Kleine so von mir verlangen. Das entsprach auch meinen Lebensgrundsätzen, die ich manchmal umständlich philosophisch ableite. Ich freute mich obendrein auch deshalb, weil meine theoretischen Grundsatzüberlegungen den Praxistest bestanden. Das war doch auch Ansporn. Dazu hatte ich hier und jetzt mit meiner Tochter die Gelegenheit. In diesem Zusammenhang überhaupt an Alkohol zu denken, verbot sich selbstredend. Trotzdem tue ich es hier. Gutachter hatten in Bezug auf mich von einem Entlastungstrinker gesprochen. Andere mochten nicht an die Praxistauglichkeit meiner philosophischen Lebensmaximen glauben oder an die Prägung von Eigenschaften durch Sport. Oft genug verstand man es nicht meine philosophischen Lebensprinzipien und meine manchmal extremen sportlichen Herausforderungen zu interpretieren. Man wollte nicht sehen, dass solche Erfahrungen mir auch über den Alltag hinaus, als Vorbereitung auf besondere und manchmal extreme Lebenssituationen dienten. Ich wollte allen Schicksalsschlägen gewachsen sein, selbst wenn sie aus dem Nichts über mich hereinbrachen. Aber die Gutachter sahen mich eher als Adrenalinjunkie, der kein Risiko verantwortlich einschätzen kann. das passte besser in ihr vorbereitetes Bild. Dabei gibt es schon seit langem professionelle Seminare für Manager, wo sie in halbwegs extremen Situationen lernen können, mit klarem Kopf Risikomanagement zu betreiben. An solchen Trainings musste ich für meinen Arbeitgeber teilnehmen. Deren Wirkung und Folgerungen habe ich verinnerlicht.

Unter solchen Umständen sich zu betrinken, verhindert mein philosophisches Wissen anzuwenden. Mir würden Detaildichte und Erlebenstiefe entgehen. Ich bin gerne ein Gewinner. Deswegen brauche ich Herausforderungen. Sie sind mir mentalistisch befriedigend, erst recht dann, wenn es kritisch wird.

Alkohol trübt diese Erfahrungen. Alkohol macht schläfrig, wo mein leidenschaftliches Tun zum geistigen Fließen führen könnte. Alkohol war bei mir immer ein Spaßfaktor. Für die Bewältigung ernster Momente ist Alkohol völlig ungeeignet. Bei Schicksalsschlägen kann Alkohol nur trösten, wo eigentlich Aktion gefordert ist. Wenn ich in einer das Schicksal beeinflussenden Situation durch den Einsatz von Alkohol untätig geblieben wäre, hätte ich Angst vor dem Versagensgefühl nach dem Kater. Ich würde wahrscheinlich vor Scham im Boden versinken. In einer einmaligen Situation versagt zu haben, ist eine nicht wieder gut zumachende Schuld. Damit könnte ich nicht leben.

Selbst der immer mögliche Tod meiner Tochter konnte kein Grund sein zu trinken, weil schon meine unendlichen Anstrengungen mir Trost sind und Betrunkenheit das Band meiner Verbundenheit mit meiner Tochter auslöschen würde. Diese Verbundenheit ist eine logische und geistige Verbundenheit, die unter Alkoholeinfluss nicht möglich ist. Die geistige Verbindung ginge selbstverständlich über ihren Tod hinaus. Erst mein eigenes Ende könnte diese Verbundenheit auf Erden löschen, wenn wir im Tode wieder vereint wären.

Meine Tochter entwickelte sich aber gut. Ich war beeindruckt wie reibungslos das lief. Hut ab, dachte ich immer wieder, vor den Ärzten und Pflegern und der Technik. Nach etwa dreizehn Monaten erklärte ein Kinderarzt meine Tochter für praktisch geheilt. Es gab nur noch ein sehr kleines Loch im Herzen, das ganz normal zuwachsen würde und keine Einschränkungen bereitete. So wurde die kleine flugtauglich geschrieben für ihre erste große Reise.

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Meine Frau hatte von einer alten Freundin erfahren, dass sie einen neuen Job mit Lehrauftrag hatte. Die Sensation war, dass sich die Universität in der Heimatstadt meiner Frau befand. Der Kontakt wurde vertieft. So ergab sich bald die folgende Entscheidung. Meine Frau zog mit den Kindern für ein Jahr zu ihrer Mutter. Die ehemalige Kommilitonin besorgte ihr in der Zwischenzeit eine Teilzeitstelle in ihrem Fachbereich. So fand meine Frau wieder den Einstieg ins Berufsleben und die Oma kümmerte sich derweil um den Nachwuchs. Wir waren mit dieser Option sehr zufrieden. Sie war nützlich und machte meine Schwiegermutter glücklich.

Längere Trennungszeiten kannten wir schon. Insgesamt dreimal waren vorübergehende räumliche Trennungen notwendig, damit unsere Karrieren nicht litten. Während meiner Promotion sahen wir uns zwei Jahre lang nur ein- bis zweimal monatlich. Das war einfach so notwendig. Der Unterschied diesmal, lag in der großen Entfernung zwischen Europa und Fernost. Heimfahrten zwischendurch planten wir nicht. Das Geld wollten wir uns sparen. Ein Jahr konnte so schnell vorbeigehen. Das sah man doch an unserer Tochter. Die bange Zeit um das kleine Leben auf der Intensivstation war fast vergessen. Wir sahen nur Grund zur Freude. Für meine Frau war es eine Chance. Ich war mächtig stolz, dass meine Frau ihre Karriere fortsetzen konnte. Es hatte sich gelohnt einen alten Kontakt zu pflegen. Vor allem die Kombination mit Kinderbetreuung machte es unmöglich, dieses <rundum sorglos> Angebot abzulehnen. Ich glaubte sogar, dass dieses Jahr so ähnlich werden könnte wie damals, als ich in einer zwölf Quadratmeter großen Studentenbude meine Freiheit genoss und meine Frau in einer anderen Stadt bereits einen Job antrat.

Zu Hause wurde es ohne meine Familie sehr ruhig, eigentlich sogar totenstill. Aber so war das auch früher gewesen. Zu erst nutzte ich meine Freiheit und arbeitete fortan länger wenn es sich ergab. Schließlich hatte ich Spaß an meiner Arbeit und brauchte kein schlechtes Gewissen haben, zu spät zum Abendbrot zu kommen. Ich konnte mich ganz meinem Ehrgeiz hingeben. Wenn ich Feierabend machte, joggte ich nicht mehr. Stattdessen fuhr ich zum Schwimmtraining der Triathleten. Da konnte ich bis 22:30 Uhr trainieren. Zu Hause las ich dann noch eine halbe Stunde. Die Idee zur Nacht Alkohol zu trinken, kam mir nicht. Ich liebe viel zu sehr diese befriedigende, sportliche Mattheit nach einem Training. Die ließ mich schon als Kind wohlig einschlafen. An den Wochenenden war ich grundsätzlich auf dem Gelände meines Flugclubs. Da gab es auch bei schlechtem Wetter noch genug zu tun mit Wartungsarbeiten an Schleppwinden oder dem Packen der Rettungsschirme. Ich fühlte mich wirklich so frei wie einst als Student und genauso genügsam war ich auch. Ich hatte ein kräftezehrendes Tagesprogramm. Das war Auslastung genug. Mehr brauchte es nicht um glücklich zu sein.

Nebenbei bewarb ich mich um einen neuen Job. Ich war mir noch nicht sicher, ob ich nach dem Betriebsübergang meine Position dauerhaft halten könnte. Ich sah die Gelegenheit gekommen, meinen Marktwert zu testen und neue Herausforderungen zu prüfen. Wechselfieber stieg in mir auf. Wohnt einem neuen Anfang nicht ein Zauber inne? Das hatte Hermann Hesse mal so gesagt. Dem wollte ich gerne zustimmen. Mir kam sogar die Idee, mich doch mal nach einem Job in China umzuschauen. Meine Branche war auch dort aktiv. Erste Kontakte waren schnell geknüpft. Der Rest war eine Frage von Beharrlichkeit und Ausdauer. Ich hatte Zeit, fast ein ganzes Jahr. Aus dieser Idee entwickelte ich einen kleinen Bewerbungstourismus. Meist ließen sich die Vorstellungsgespräche auf einen Freitag legen. Das war mit beruflichen Terminen leicht zu begründen, schließlich bewarb ich mich aus einer ungekündigten Position heraus. So konnte ich einige Bewerbungstermine für ein Wochenende in Berlin, Hamburg und München privat nutzen. Die Reisekosten übernahm die Firma, die mich sehen wollte, und ich trug die Hotelkosten.

In Berlin entdeckte ich so die stalinistische Atmosphäre des sowjetischen Ehrenmahls im Treptower Park. Während ich über die Anlage schritt, lief in mir ein Film ab, den ich so mit Begleitung nicht erleben könnte. Abends hatte ich die seltene Gelegenheit in einem Konzert Gamelanmusik aus Sumatra zu hören. In Hamburg besuchte ich zum ersten Mal seit etwa zehn Jahren eine Theateraufführung. Nach der Aufführung in der Kulturfabrik auf Kampnagel genoss ich das Alleinsein so richtig. Ich konnte einfach ins Hotel zurückkehren. Ich musste nicht mit anderen noch in eine Künstlerkneipe gehen, um pseudointellektuelle Phrasen zu dreschen über die deutsche Theaterkunst und den Zeitgeist.

In München zog es mich in die Alte Pinakothek. Dort wollte ich Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht wiedersehen. Als Fünfzehnjähriger hatten mich die unendlichen Details fasziniert. Danach entdeckte ich die mir neue Pinakothek der Moderne. Das Hotelzimmer wurde mir an diesem Wochenende zur Eremitenklause. Ich las die ganze Nacht Kandinskys kunsttheoretisches Werk <Punkt und Linie zur Fläche>, als Vorbereitung für den Besuch des Lenbachhauses am nächsten Tag. Mensch, was war das ein Spaß Einblick zu finden, in die Kriterien, zur Komposition geometrischer Elemente, so dass sie als angenehm und ästhetisch empfunden werden. Es war toll in Ausstellungen ohne die Kinder zu gehen. Ich hatte Ruhe. Niemand interessierte sich für mich. Ich konnte allein sein mit mir unter Menschen. Reiner und absoluter Genuss konnte nicht schöner sein.

Die Suche nach einem Job in China gestaltete sich aufwendig. Direkte Jobs gab es nur mit einschlägiger Auslandserfahrung. Viele Unternehmen meiner Branche erwarteten einen ganz bestimmten Karriereverlauf im Unternehmen, der erst zum Auslandseinsatz qualifizierte. Die wollten von mir erst mal eine Performance in ihren Abteilungen im Inland sehen, bevor sie eine Verwendung im Ausland erwägen wollten.

Meine Bewerbungen bei Konkurrenten auf eine Position, die der aktuellen vergleichbar war, waren erfolgreicher. Nach der zweiten Zusage brach ich diese Schiene ab. Jetzt kannte ich meinen Marktwert. Es war beruhigend zu wissen, dass es Alternativen gab zu meinem jetzigen Arbeitgeber. Meinen Chinatraum strickte ich konsequent weiter, weil auch meine Frau am Telefon durchblicken ließ, dass ihr Job der Beginn einer postnatalen Karriere sein konnte. Offensichtlich war man mit ihren Leistungen zu frieden.

Nach einem sehr intensiven Schwimmtraining fragte ich mich, warum sich meine Bauchmuskulatur immer noch versteckte. Vor zwanzig Jahren war das <Six-Pack> mein ständiger Begleiter. Der Grund lag natürlich in den vielen Geschäftsessen und der Verpflegung auf Tagungen. Ich wollte das <Six-Pack> noch mal sehen. Also entschied ich mich für eine Diät. Diätische Maßnahmen wirken sich im Berufsleben sehr leicht kontraproduktiv aus. Lecker essen ist der Kit für geschäftliche Beziehungen und für den guten Draht zum Chef, wenn der wie meiner, mindestens zwanzig Kilogramm Übergewicht hat.

Ich begann also im privaten Bereich. Ich entschied, dass Essen nur noch erlaubt war, wenn es ein klares Hungergefühl gab. Appetit war kein Grund zu essen. Interessanterweise kam kein Hunger. Also ging ich am ersten Tag meiner Diät ohne Essen zu Bett. Am nächsten Morgen war immer noch kein Hunger zu spüren. Als der Hunger dann mittags mit Macht anklopfte, hatte ich keine Zeit. Ich hatte einem Kollegen versprochen einen Vorgang schnell zu bearbeiten. Erst am späten Nachmittag bot sich wieder die Gelegenheit, als sich die Türen nach einer Besprechung öffneten. Als ich die Berge von Kuchen sah, entschied ich mich trotz des mittlerweile gravierenden Hungers, die Kalorienbomben links liegen zu lassen. Ich fand mich toll, der süßen Versuchung nach Sahnetörtchen widerstanden zu haben. Gestärkt von diesem Gefühl, wurde der Hunger bedeutungslos. Ich entschied mich deshalb die Null Diät fortzusetzen. Erlaubt waren nur noch Getränke in tagesüblicher Dosis. Vier Tage zog ich die Diät so durch. Ich war fasziniert von dem permanenten Hunger, der trotzdem nicht zu seinem Recht kam. Es brauchte schon einen wirklichen Vernunftsgrund mit meiner Radikalität zu brechen. Ich tat es nur unter der neuen Bedingung, eine vollwertige Mahlzeit einzunehmen.

Letztlich führte ich die Null Diät damit eingeschränkt fort, denn biologische Vollwertkost war umständlich zu besorgen. Oft genug tat ich es einfach nicht und bekam meiner Regel zu folge nichts zu essen. Bei dieser Ernährungsweise blieb ich. Das Essen schmeckte immer besser. Seltenes Essen steigert die Lust auf das Essen und intensiviert das Geschmackserlebnis. Mein Hunger zeigte sich als guter Geschmacks- verstärker. Essensentzug, so schien es, sensibilisierte meine Geschmacksknospen.

Nur bei einem Pizzaessen im Schwimmverein aß ich mehr als jeder andere. Das war aber okay. Ich konnte es mir doch wieder erlauben. Da spürte ich, wie meine Disziplin wieder belohnt wurde, weil erst die praktizierte Disziplin die Ausnahme erlaubte. Jetzt hatte ich noch einen Grund streng zu sein bei meiner Nahrungsaufnahme. Ich änderte meine Diät so weit ab, dass ich ein ungesüßtes Müslifrühstück mit Banane und Frischmilch einführte. Im Tagesverlauf waren dann nur noch Geschäftsessen und Obst erlaubt. Der Tagungskuchen blieb dauerhaft gestrichen. So schien mir die Diät gesundheitlich ausgewogener. Eine innere Stimme forderte radikalere Maßnahmen. Die Stimme sagte: ‚Iss nicht wenn du Hunger hast. ‘ Ich musste ihr einen Verweis erteilen. Nachgeben war nicht zielführend.

Ich empfand die Diät als ein gutes Alltagsbeispiel dafür, wie man entdecken kann, dass es sich manchmal lohnt, Bedürfnissen wie Hunger zu widersetzen. Es stärkt den Willen zum <Triumph> über das Fleisch. Nur darf der Genuss der Macht über den Hunger nicht in ein neues Extrem umschlagen. Magersucht (Amorexia nervosa) ist keine Kontrolle. Sie ist höchstens eine aus dem Ruder gelaufene Kontrolle. Man muss sich bei einer Diät genauso wie bei jeder Angelegenheit, die mehr als eine Alternative kennt, die ganze Zeit im Klaren bleiben, warum man tut was man da tut.

Der magersüchtige Christian Frommert (Vgl. Frommert, Christian: „Dann iss halt was“, Mosaik Verlag 2013) schreibt in seinem Buch, dass er beim Wiegen manchmal Gefühle hatte, die einem Orgasmus vergleichbar waren. Das Gefühl fand ich leicht nachvollziehbar. Ich habe es ähnlich empfunden bei meiner Diät. Ich wollte beim täglichen Wiegeritual unbedingt die sieben am Anfang stehen sehen, auch wenn ich schon vorher mit 84 kg im grünen Bereich angekommen war. Diät wird geil, wenn es zum Wiegen kommt. Als ich die achtzig Kilogramm Marke unterbiete waren die Gefühle überwältigend. Als die sieben in der Anzeige der Waage sichtbar wurde, war das ein Höhepunkt, der den ganzen Tag ausfüllte. Schon der Tag davor ließ eine freudige Anspannung entstehen. Die sieben an erster Stelle auf der Gewichtsanzeige zu sehen, war zwar kein Weltrekord, aber in jedem Fall meine persönliche <Bestzeit> auf der Waage. Solche Erlebnisse schätzte ich schon in meiner pubertären Zeit im Leistungskader als überwältigender ein als Sex.

Ich will dringend vor Magersucht warnen. Ich will aber auch deutlich machen, wie süß das Gefühl der Herrschaft über den Körper sein kann. Wer diese Fähigkeit dosiert nutzt, hat eine starke Waffe gegen jedes Craving. Erst mit einer Magersucht erhebt sich in krankhafter Weise der Geist über den Körper. Wir sind dem körperlichen Craving nicht ausgeliefert, wenn wir um die Kraft des Willens wissen. Was bei einer Amorexia nervosa pathologisch wird, kann dosiert eingesetzt andern Orts substanzabhängigen Süchtigen helfen. Das ist wie mit einem Schlangengift, das zum Antiserum wird. Ein ordentlich trainierter Geist kann die gleiche Kraft entwickeln wie vegetative Triebe. Das ist auch ein wichtiger Nutzen aus meinem Leistungssport. Wenn man das sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen hat, wirkt das ein lebenslang.

Diese praktische Erfahrung ließ mich nach weiteren Wegen gegen störende Versuchungen suchen. Was machte ich als Sportler um nicht aufzugeben? Nie gebe ich da bei erster Erschöpfung auf. Ich versuche auch gegen Widerstände meine Leistung zu steigern. Ich genieße das Gefühl Chef im eigenen Körper zu sein. Ich sage wo es langgeht. Da werde ich schon mal zum <Schleifer> in mir. Ich bin überzeugt von einem positiven Masochismus als einer Kunst sich im Willen um Zielerreichung selbst in den Allerwertesten zu treten.

Ähnlich war es auch als katholisches Kind, als ich mit Beginn der Fastenzeit anfing keine Süßigkeiten zu essen und mit dem eingesparten Geld ein Sparziel entwickelte, das ich immer weiter ausdehnte. Es tat weh mir materielle Wünsche zu versagen. Der Druck nachzugeben war aber nie so groß, wie die Freude über meinen Kontostand, denn der war Indikator für meine Willensstärke und für die Dinge, die ich mir jetzt leisten konnte.

Mit meiner Diät war ich zu frieden. Sie ließ sich gut steuern und nach anfänglicher, schneller Gewichtsreduktion hatte sich die Gewichtsreduktion auf 500-800 g pro Woche eingependelt. Die große Überraschung gleich am Anfang war, wie lange es dauerte bis tatsächlich der erste echte Hunger kam. Normalerweise essen wir bevor wir wirklich Hunger bekommen. Normalerweise essen wir, weil die nächste offizielle Essenszeit ansteht. Mich treibt nie blanker Hunger zum Mittagstisch, sondern eine soziale Pflicht. Die ist besonders wichtig gegenüber den Kollegen am Arbeitsplatz. Das gemeinsame Mittagessen mit den Kollegen oder auch mit Kunden festigt die persönlichen Beziehungen. Viel zu oft essen wir aus Gewohnheit und zur Pflege unserer sozialen Beziehungen. Das wertet Essen in seiner primären Bedeutung ab. Das Bewusstsein half bei der Umstellung. Es ging so schnell. Hatte sich mein Körper bereits über Nacht umgestellt? Egal, jedenfalls gefiel mir dieses Gefühl, das weder Hunger noch Sattheit kannte. Es lag so unbestimmt dazwischen, war weder Fisch noch Fleisch. Das Gefühl war weich austariert. Ausschläge in die eine oder andere Richtung hatten eine geringe Wirkung. Ich merkte, dass ich dieses Gefühl somit leicht steuern konnte. Mein Ehrgeiz war geweckt. Ich wollte diese Kontrolle nicht wieder abgeben, sondern radikal ausnutzen für mein Ziel. Den Sieg über den Hunger würde ich mir nicht mehr nehmen lassen. Tatsächlich setzte ich meine Diät nicht nur konsequent fort; ich reduzierte weiter die geplanten Essensrationen. Es machte mir Spaß den Hunger herauszufordern um dann wieder eine Ausnahme zu zelebrieren. Es gefiel mir in der Flexibilität meine Souveränität zu beweisen. Es stimmt nicht uneingeschränkt, was ein biblisches Sprichwort sagt, dass das Fleisch willig ist aber der Geist nicht. Ich bewies gerade das Gegenteil.

Alles ist so leicht, so lange ich alleine entscheiden kann. Die einzige und große Herausforderung beim Essen sind die Anderen. Die Anderen wollten zur Pflege ihrer Beziehung zu mir mit mir essen. Einige reagierten geradezu beleidigt, wenn ich sie nur zum Essen begleitete aber nicht mitaß. Auch der Kompromiss, dass ich nur einen Salat mitesse, stimmte sie nicht einvernehmlich. Ihnen schmeckte ihr Steak nicht, wenn ich Salat aß. Einige forderten, dass ich für sie eine Ausnahme mache. Ihnen zu Liebe. Das sei ich der Freundschaft schuldig. Mit einer Ausnahme konnte ich leben. Das Problem war nur, es forderten zu viele eine Ausnahme. Das ging natürlich nicht. Also blieb ich nicht aus Sturheit, sondern aus Überzeugung bei meinem Salat. Ich vertraute darauf, dass man sich im Willen um unsere Freundschaft an meine Salatmahlzeiten gewöhnte. Das funktionierte in dem Moment, wo meine Bekannten den sichtbaren Erfolg meiner Bemühungen zum Abnehmen wahrnahmen. Dann wurde mir sogar gratuliert zu meiner Konsequenz. Aber so weit musste man erst mal kommen. So lange musste man erst mal gegen alle Widerstände durchhalten.

Alles ist einfach, was einen Anfang findet. Ist der erste Schritt getan, folgt der zweite schon fast automatisch. So bald man eingespielt ist und einen Rhythmus findet, geht es ganz selbstständlich. Manche propagieren die Diät ohne zu hungern. Wo bleibt da der Spaß. Wo es keine Mühe gibt, kann es auch kein Recht auf Belohnung geben. Das Hungern ist doch der Anreiz. Für jeden Entzug von Essen belohnt sich der Körper. Die Macht über sich selbst ist zu tiefst befriedigend und ermutigt zu größerer Strenge gegenüber sich selbst. Dann kann ich sehr konsequent werden. Mein Prinzip von Konsequenz wird dann, dass es keine Ausnahmen mehr gibt, auch nicht jene die tolerierbar wären.

Dann muss ich mich immer wieder aktiv daran erinnern, dass zu schnelles Abnehmen ungesund ist. Wichtig muss neben dem Abnehmen bleiben, dass man langfristig seine Ernährungsgewohnheiten umstellt. Dies ist ein wichtiger Gedanke der verinnerlicht sein muss, um die Diät so steuern zu können, dass man mit allen Parametern im Zielkorridor landet und nicht in extreme Verhaltensweisen abdriftet.

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An einem Wochenende veranstaltete unser Flugclub einen Grundkurs im Gleitschirmfliegen an einem <Idiotenhügel>. Ich war als Helfer eingeteilt. Geübt wurden Aufziehübungen. Mit etwas Glück hob man ab und konnte einige Meter fliegen. Allen Teilnehmern gelang das in der Regel. Hier lernte ich einen Fallschirmspringer kennen. Der wollte nur mal gucken, wie sich das so anfühlt. Vielleicht würde Paragliding ja auch für ihn interessant. Er stellte jedoch fest, dass zumindest im Grundkurs der Adrenalinkick fehlt. Ich war über seine Einschätzung nicht überrascht. Fallschirmspringer ticken in der Regel anders als Gleitschirmflieger. Deswegen hatte ich das Lager der Fallschirmspringer vor Jahren verlassen. Ich fand Fallschirmspringen klasse. Als Unisport fand ich es sogar außergewöhnlich. Aber ich vermisste das Gefühl, dass Luft Balken haben kann. Fallschirmsprünge sind von kurzer Dauer und die Rödelei ist lang bis zum nächsten Sprung. Der Spaß ist ganz klar adrenalin- und bei vielen auch risikobetont.

Beim Gleitschirmfliegen konnte der Aufenthalt in der Luft so viel länger sein. Ich suchte nach der Harmonie mit den physikalischen Naturkräften. Ich wollte Wind und Thermik nutzen, um mit ihnen aufzusteigen bis zu den Wolken.

Als bei einem Flug in Südtirol ein Greifvogel zu mir aufstieg, war ich so glücklich. Wenn er zu mir kam, dann musste ich doch wohl das optimale Steigen zentriert haben. Nach einigen Runden mit mir im Bart hatte er mich ausgedreht und entschwand nach oben. Das war Fliegen auf Augenhöhe. Auge in Auge mit dem vermutlichen Milan in der Höhe. Das Erlebnis war wie ein Ritterschlag. Ich fühlte mich damit mit den Vögeln gleichberechtigt.

Meine Fluggefühle konnte Dieter nachvollziehen, aber sie machten ihn nicht an. Im Gegenzug versuchte er, mich mit seiner Adrenalinbegeisterung anzustecken. Er machte sich wohl Hoffnung, immerhin wusste er, dass ich so etwas grundsätzlich kannte. Mir gefiel seine Begeisterung beim Erzählen. Er meinte, ich solle mal wieder fallschirmspringen. Mit einem sportlichen Gerät würde ich vielleicht meine Einstellung ändern. Damit meinte er, dass ich einen Hochleister mit kleinerer Kappe versuchen sollte, der wendiger ist.

Da ich nicht ausschloss, dass das lustig ist, lud er mich auf ein Wochenende zum Fallschirmspringen nach Spanien ein. Spanien versprach warmes, sonniges und wolkenfreies Wetter bei geringen Windgeschwindigkeiten. Ich zögerte nicht lange. Ich hatte im Moment keine Verpflichtungen. Warum nicht mal wieder Fallschirmspringen. Meine Lizenz war unbeschränkt gültig. Also plante er mich für das nächste Event fest ein. Sein Anruf ließ nicht lange auf sich warten. An einem Donnerstag fiel die Entscheidung zu fliegen. Am Freitag flogen wir nach Madrid. Mit uns flogen noch zwei Mitglieder aus seinem Verein. Sie alle machten das öfter. Alles musste so spontan gehen, um zeitnah auf eine gute Wettervorhersage zu reagieren. In Spanien war es wärmer als in Deutschland und vor allem trockener.

Vom Flughafen aus ging es mit einem Taxi zu einem günstigen Autoverleih und dann mit dem Mietwagen ins Umland. Wir fuhren durch die Hochebene Kastiliens. Ich konnte sogar einige Windmühlen ausmachen, die mich allein durch die Bauweise, natürlich an Don Quichotte erinnerten, bevor sie von der Abenddämmerung verschluckt wurden. Irgendwo in der Weite Kastiliens war unser Ziel. Als wir ankamen war es bereits dunkel. Sehr spät war es noch nicht. Trotzdem ging man bald zu Bett, weil wir uns am nächsten Morgen bereits sehr früh auf dem Flugplatz treffen wollten. Die Nacht verbrachten wir in einer kleinen Pension. Sie war das elterliche Wohnhaus eines Sprunglehrers. Am nächsten Morgen ging es gleich nach einem schnellen Frühstück los in Richtung Flugplatz. Unterwegs wurden noch zwei Britten und zwei Belgier abgeholt. Auf dem Fluggelände versammelten wir uns vor der Cessna 182, die unser Absetzer war, zu einem Briefing. Nach der Einweisung sollte es schnell losgehen, um möglichst viele Sprünge zu schaffen. Zu erst war eine Gruppe Schüler dran, die an diesem Wochenende ihre Lizenz erwerben wollten. Ich war überrascht zu erfahren, dass die aktuelle Ausbildung ohne automatische Methode auskam. Ich durfte damals beim Unisport meine ersten Sprünge nur mit einer Aufziehleine machen, die fest mit dem absetzenden Flugzeug verbunden war. Hier begann die Ausbildung mit einem Tandemsprung. Danach folgen Freisprünge mit sichernden Flugbegleitern.

Weil ich sehr lange nicht gesprungen bin, wurde mein erster Sprung ein offizieller Überprüfungssprung. Es waren wegen der Sprungschüler viele Sprünge geplant. Deswegen war der Ausstieg bei nur 3000 m. Die Absetzprozedur verlief standardisiert. Als die Tür aufging wurde es sofort kalt. Draußen spürte ich kurz den Kreislauf. Nach einer Sekunde war er wieder stabil. Das war normal. Diese Sekunde braucht mein Körper, um sich an die Situation anzupassen. Danach fühlte ich mich so surreal normal wie immer. Ich könnte in diesem Augenblick eine Zeitung aufschlagen und `ne Kola trinken, so entspannt ist dann mein subjektiver Eindruck. Die Erde kam scheinbar gar nicht näher. Nur der Gegenwind erinnerte mich daran, dass es wirklich abwärts ging. Auf exakt 1500 m löste ich aus. Ich war der erste. Die andern ließen sich teilweise noch sehr lange Zeit. Aber ich suchte ja das andere Erlebnis in der Luft. Ich flog enge Kurven, jauchzte bei jedem gelungenen Wing-Over und flog einige Steilspiralen. Nach maximal drei Umdrehungen leitete ich aus. Mehr vertrug ich nicht.

Nachmittags kam Dieter direkt nach einem Sprung zu mir. Ich sollte doch seinen Hochleister probieren. Wir packten gemeinsam das Gerät. Ja, die Kappe flog sich wirklich anders. Sie war definitiv schneller. Kein Wunder bei der kleinen Fläche. Wendiger war sie auch und sie reagierte unmittelbarer auf Bremsleinenzug. In Steilkurven überraschte mich schon die Dynamik, die dann doch noch ihren toten Punkt fand. Auch das Ausleiten aus einer Steilspirale erfolgte direkt und widerstandslos. Da war ich von Gleitschirmen andere Zicken gewohnt. Ich empfand die Steilspirale gar nicht mehr als ein Manöver, das man üben musste. Als ich mich in die Position begab, um die Landevolte zu beginnen, merkte ich bereits, dass ich sehr tief war. In Bodennähe fiel es mir schwer, das hohe Sinken richtig einzuschätzen. Es passierte einfach zu schnell. Deswegen brach ich den Queranflug erschrocken ab. So schaffte ich es noch über ein Feld mit Rebstöcken und erreichte die Landewiese. Ich bremste spät und viel zu stark. Die Kappe stallte und begann eine Pendelbewegung. Als ich die Kappe vor mir sah, war mir sofort klar, dass ich in zwei langen Sekunden einbomben würde. Fünf Meter Höhe sind zu wenig, um die Pendelbewegung dosiert abzufangen. Mir blieb nur noch, dass schlimmste mit einem sauberen Landefall zu verhindern. Ich hatte das sprichwörtliche Glück im Unglück. Ich brach mir nur das rechte Bein und den linken Fuß. Außerdem waren am ungebrochenen Bein die Bänder gedehnt.

Nach dem Unfall brachte man mich in ein Krankenhaus, das nach einschlägiger Erfahrung der einheimischen Springer, sehr zu empfehlen war. Wir bestanden auf ambulante Privatbehandlung. Deswegen hoben wir noch auf dem Weg dorthin Bargeld ab. Mein Fahrer versprach mir, dass ich dann genauso versorgt werden würde, wie die Fußballprofies von Real Madrid.

Eine erstklassige Versorgung war wichtig, denn mit zwei eingegipsten Beinen wäre meine Mobilität dramatisch eingeschränkt. Ein Liegegips war deswegen tabu. Die Behandlung im Krankenhaus war tatsächlich so kooperativ und perfekt, wie man es mir versprochen hatte. Man war freundlich, kompetent und schnell, einfach so ganz privatärztlich. Gehen konnte ich danach trotzdem nicht wirklich. Man warnte auch davor. Ich sollte mich möglichst ausschließlich im Rollstuhl bewegen.

Ich dachte daran, früher zurückzufliegen. Aber das ging nicht. Das ist nun mal der Nachteil besonders günstiger Tickets. Ich langweilte mich auch nicht. Es gab vor Ort einen Rollstuhl. Den hatten schon andere Fallschirmspringer gebraucht. So konnte ich auch am nächsten Tag am Sprungplatz mit dabeisein. Langweilig wurde es mir nicht. Ich bekam genug Bücher zu lesen. Ich war also gut beschäftigt meine Spanischkenntnisse aus der Schule wieder aufzufrischen.

Bei einem kleinen Abschiedsessen am frühen Sonntagabend wurde landesüblich Wein gereicht. Den hatte der Koch aus eigenem Anbau gezogen. Ein Nein verkniff ich mir deswegen natürlich. Es blieb bei zwei Gläsern, denn man hatte ja noch einige Stunden Reise vor sich. Ich war nicht frustriert über mein kleines Unglück. Ich fand es schön das erste Mal im Herzen Spaniens zu sein. Dies war ein wirklich gelungenes Wochenende.

Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers

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