Читать книгу Lebensweisheiten eines ordentlichen Trinkers - Helge Hanerth - Страница 5
Eine Idee entsteht: Das Trinkprojekt
ОглавлениеNach der Landung in Deutschland empfing mich eine nette Dame mit Rollstuhl direkt an der Flugzeugtür. Irgendwie hatte ich mir die Frau anders vorgestellt, vielleicht so ähnlich wie früher die Helferinnen der Bahnhofsmissionen. Die hatten immer so einen rührend, fürsorglichen Blick mit einer erfahrenen Strenge in der Stirn. Meine Helferin war da anders. Sie war jung, hübsch und handelte bemüht hilfsbereit, ohne auch die kleinste Höflichkeit zu vernachlässigen. Einen Moment wollte ich sie fragen, ob sie BWL studiert habe. Ich ließ es lieber bleiben. Mir schien, es würde den eingespielten Ablauf stören. Sowieso ging mich das nichts an.
Für den Weg vom Flughafen nach Hause nahm ich normalerweise die S-Bahn. Diesmal bat ich, mich zum Taxistand zu rollern. Was anderes schien in ihrer Routine aber auch nicht geplant gewesen zu sein. Vor meinem Haus angekommen, schaffte ich es mit Mühe auf Krücken die Haustür zu erreichen. Erst jetzt merkte ich, dass unser Aufgang eine kleine Steigung hatte. Als sich der Taxifahrer verabschiedet hatte, schloss ich schnell die Tür und sank auf den Flur. ‚Na‘, dachte ich: ‚Da kommt wohl eine ganz neue Art von Herausforderung auf mich zu‘.
Ich wollte sicher genesen, dass hatte ich mir von Anfang an vorgenommen. Ich hatte also einen Gang zurückzuschalten und mir für die nächste Zeit einen anderen Takt anzugewöhnen. Schwierig konnte es doch nicht sein meinen Antrieb zu zügeln, dazu war die Einschränkung durch die kaputten Beine zu massiv. Ich konnte ja eh kaum etwas machen. Ich entschied mich, es positiv zu sehen. So lernte ich in den nächsten Wochen durch die Einschränkungen den Wert meiner sonst gesunden Beine zum ersten Mal so richtig zu schätzen. Das motivierte, sie zu hegen und zu pflegen. Ich wollte doch nicht, dass sie mir auf Dauer den Dienst verweigerten. Solche Gehgipse, wie ich sie trug, wurden eigentlich erst angefertigt, wenn der Heilungsprozess fortgeschritten war. Mir war klar, dass es jetzt noch gefährlich war meine Beine zu belasten. Deswegen bewegte ich mich nur kriechend und blieb im Erdgeschoss. Ich wusste was ich meinen Beinen schuldig war und benutzte die Krücken nur zum kurzfristigen Stehen.
Kurz vor Mitternacht kam der Sohn eines Bekannten. Pascal suchte einen Job, weil er sich für die Projektwoche seiner Oberstufe ein teures Auslandsprojekt ausgesucht hatte, das seine Eltern nicht voll bezahlen wollten. Das wusste ich von seinem Vater. Noch in Spanien hatte ich deswegen die Idee ihn anzurufen und zu fragen, ob er den Job als Pfleger übernehmen würde. Er hatte zugesagt.
Pascal stellte sich mir als persönlicher <Zivi> vor.
„Okay“, sagte ich zu ihm: „Dann hau mal rein Zivi.“
Mein <Zivi> holte mir aus den oberen Etagen all die Dinge, die ich brauchte, um die nächsten Wochen ein Leben ausschließlich im Erdgeschoss führen zu können. Aus dem Keller brachte er mir mein uraltes Skateboard, das ich zu letzt bei einem Möbeltransport eingesetzt hatte. Das sollte meine Mobilität erheblich erhöhen. Auf dem Sofa im Wohnzimmer baute er ein Bett. Zum Schluss gab ich ihm eine Einkaufsliste. Die bestand hauptsächlich aus Fertiggerichten und Obst. Als er gegangen war, rutschte ich zum Gäste-WC neben der Haustür. Es dauerte lange, bis ich mit meiner Körperwäsche an dem kleinen Becken fertig war. Danach legte ich mich ins Sofa-Bett und schaltete den Fernseher ein. Es war das erste Mal seit Monaten.
Am nächsten Morgen musste ich zum Arzt. Ich brauchte eine Krankmeldung für den Arbeitgeber. Der Arzt hatte aber noch so viel mehr mit mir vor. Was immer er vorschlug, ich lehnte ab. Ich bestand darauf, die Genesungsphase komplett auf dem Erdgeschoss meines Hauses zu verbringen. Selbst einen Rollstuhl lehnte ich ab. Ich hatte schon am letzten Abend festgestellt, dass ich mich gut auf einen Stuhl hochziehen konnte. Ich war sehr stolz darauf, weil ich bemerkt hatte, wie schwer das eigentlich war. Klasse, dachte ich, so hat sich Jahrzehnte langes Schwimmtraining für die Muskulatur der Oberarme ausbezahlt.
„Wie, nicht jeder kann sich so mit den Oberarmen hochziehen?“, reagierte ich auf einen Einwand meines Hausarztes: „Dann kann ich das wohl wegen des vielen Schmetterlingsschwimmens. Ich werde unbedingt das Training später fortsetzen.“
Ich erklärte meinem Arzt, dass ich ihm sehr dankbar sei für seine Bemühungen. Ich fühlte mich gut bei ihm aufgehoben, immer schon. Aber ich falle Leuten nicht gerne zur Last, selbst wenn die das nicht so empfinden. Schon als Kind habe ich mich bei höherem Fieber in mein Bett zurückgezogen. Ich fand es sogar lästig, wenn meine Mutter kam, um nach mir zu sehen. Wenn ich krank bin, dann geht es mir nicht gut. Als Kind brauchte ich dann einfach nur meine Ruhe, um zu genesen und jetzt brauchte ich eben nur etwas Zeit, bis ich wieder auf die Beine komme. Hilfe und Anteilnahme arten mir zu oft in zusätzlicher Belastung statt Entlastung aus. Ich würde mich schon melden, wenn ich wirklich Hilfe brauchte. Einen klappbaren Leihrollstuhl akzeptierte ich dann doch noch, immerhin war er gebraucht.
Vor der Praxis holte mich mein <Zivi> ab. Meinen Einkauf hatte Pascal schon besorgt. Wir holten noch bei einem Altenwohnheim den Rollstuhl ab und fuhren nach Hause. Den Einkauf packte Pascal in den Kühlschrank. Bevor er ging, gab er mir seine Handynummer mit dem Hinweis, das ich ihn jederzeit anrufen könne, wenn ich was brauche. Mit einem stattlichen Trinkgeld machte er sich davon.
So, jetzt konnte mein Alltag in Gips beginnen. Sechs Wochen waren doch wirklich keine lange Zeit. Zuerst rollte ich auf dem Skateboard zum Sekretär im Wohnzimmer. Mal setzte ich mich darauf, mal legte ich mich drauf. Die optimale Technik musste ich noch finden. Dem Rollstuhl schenkte ich nur einen verächtlichen Blick. Noch immer stand er zusammengeklappt im Flur. Das sollte auch erst mal so bleiben. Das Skateboard war mein Rollstuhl der Wahl.
Ich wählte mich ins Intranet meiner Firma ein und schaute mir die aktuellen Umsatzdaten für meine Produkte an. Dann machte ich die genaueste Marktanalyse, die ich je angefertigt habe. Als ich auf die Uhr schaute, war es gerade sechzehn Uhr geworden. Da ich gegenüber meinem Hausarzt mit meinen Oberarmmuskeln angegeben hatte, entschied ich mich für Krafttraining als nächsten Tagesordnungspunkt. Mir vielen eine Menge Übungen ein, die auch ohne Beine gut funktionierten. Das Hanteltraining war problemlos. Auch Liegestütze funktionierten mit hängenden Beinen gut, wenn ich einige Kissen auf Beckenhöhe platzierte. Nach einer guten Stunde fühlte ich Lust auf mehr. Ich entschied, dass es vernünftiger war, es nicht zu übertreiben. Angesichts mangelnder Beschäftigungsalternativen schaltete ich den Fernseher ein. Es wurde ein langer und langweiliger Abend.
Am nächsten Morgen begann ich mit Hanteltraining. Dann schaute ich im Intranet, was sich so für die Firma erledigen ließ. Ich arbeitete bis halbzwei und schob dann eine Pizza in den Ofen. Danach war der Tag wieder gelaufen. Sollte ich jetzt wieder fernsehen? Nein, bitte nicht. Mir fiel ein, dass ich mein Geburtstagsgeschenk noch nicht gelesen hatte. John Gribbins <Auf der Suche nach Schrödingers Katze> (Gribbin, John: „Auf der Suche nach Schrödingers Katze“, Piper Verlag 2010) lag noch in gelöstes, lose eingeschlagenes Geschenkpapier im Regal. Zwei Stunden lang fühlte ich mich gut unterhalten. Dann brauchte ich eine Abwechslung. Nach der Realität der Quantenphysik, versuchte ich es dann doch wieder mit der virtuellen Realität des Fernsehers. Zehn Minuten später habe ich ausgeschaltet. Das Programm war nicht zu ertragen, <no food for thought> oder wie ich auf Deutsch auch gerne behaupte: <Nix fürs Hirn>. Auf der Suche nach Alternativen entschied ich mich für eine Grundreinigung des Bodens. Das war immerhin eine sinnvolle Tätigkeit. Mit einer Bürste schrubbte ich jede Fliese einzeln. Während ich Gelassenheit in meiner monotonen Arbeit nach der Art eines Sisiphos fand (Vgl. Camus, Albert und Wroblewsky, Vincent von: „Der Mythos des Sisyphos“, Rowohlt Verlag 2000), kamen mir andere Gedanken. Mir wurde klar, dass sechs Wochen sehr lang werden können, wenn man keine Aufgabe hat.
Was könnte ich gegen Monotonie und Langeweile in so einem großen Zeitfenster tun? Spontan fiel mir trinken ein. Ich war dem Gedanken nicht wirklich abgeneigt. Wieso auch? Es wäre ein Notfall. Der zeitliche Rahmen wäre begrenzt. Meine Frau dürfte es auch nicht verletzen, denn die war ja gar nicht da. Sorgen um eine mögliche Alkoholfahrt machte ich mir auch nicht. Zum einen mag ich nicht betrunken autofahren und zum andern kann ich mit meinen eingegipsten Beinen nicht autofahren und außerdem hatte Pascal mein Auto. Er war auch für meine Versorgung mit Lebensmitteln zuständig. Ich hatte seine Handynummer. Ein Anruf genügte und ich bekam, was immer ich wollte, eine Autofahrt mit Chauffeur inklusive.
Anrufen mochte ich ihn dann doch noch nicht. So akut war es nicht. Noch hoffte ich auf eine besondere Idee. Die kam aber nicht. So entschied ich mich für Krafttraining, putzen und Alkohol als tägliche Freizeitroutine an den Nachmittagen. Die Vormittage blieben reserviert für freiwillige Arbeiten am Rechner für meine Firma. Ich entschied die nächste Lebensmittelbestellung um Korn zu ergänzen. Bis dahin setzte ich die Grundreinigung der Fliesen für die gesamte Etage fort. Morgen würde ich mich dann noch die Treppe hocharbeiten in die nächste Etage. Bis dahin hatte ich auch das Physikbuch durchgelesen.
Als Pascal mit dem Einkauf kam, war er keineswegs überrascht, über meinen weiteren Wunsch auf der Einkaufsliste.
„Gibt es einen besseren Grund als den hier?“, fragte er ohne eine Antwort zu erwarten und sah auf meine Beine.
Von nun an sahen die Tage wie folgt aus:
6:00 Uhr Aufstehen, dann Hanteltraining
7:15 Uhr Frühstück mit Tageszeitung (ich las sonst nie Zeitungen,
keine Zeit)
8:00 Uhr Büroarbeit
13:00 Uhr Mittagessen
14:00 Uhr Alkohol, YouTube und Video
20:00 Uhr Bettruhe
Gegen 19:30 Uhr nahm ich meinen letzten Drink und rollte ins Bad. Ich wusste, dass ich dann bald einschlafen würde. Zehn Stunden Schlaf stellten sicher, dass ich morgens fit war. Dann platzte ich wieder vor Energie. Das Hanteltraining kam mir dann gerade recht.
Ich liebe solche Ordnung. Sie schafft Klarheit. Es gibt dann keinen diskussionsfähigen Grund für Änderungen. Ich diskutiere keine Ausflüchte zu einer zuvor festgelegten, legitimen Regel, die ich mit klarem Verstand vernünftiger Weise festgelegt habe. So etwas würde mich süchtig machen. Hier gibt es also etwas zu beweisen. Ernsthafte Einwände sind aufzunehmen und später zu verhandeln. Von diesem Prinzip bin ich so überzeugt, weil es im Leistungssport so gut funktioniert hat.
Die Kombination von Trinken und Sport ist für viele Menschen ungewöhnlich. Tatsächlich kannte ich persönlich auch keinen zweiten Alkoholiker, der das machte. Ganz überwiegend neigen Alkoholiker zur Trägheit. Sie sind passive Genießer. Für mich war aber der Sport immer schon da gewesen. Es wäre merkwürdig, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre. Gerade angesichts meiner totalen Freizeit war es so einfach, mal eben eine Stunde Training einzuplanen. Trinken konnte ich theoretisch dann noch den ganzen Tag. Ohne Sport hätte ich mehr trinken müssen. Denn Sport wie Alkohol binden Energien und stellen ruhig. Sport macht das allerdings auf eine angenehmere Weise. Alkohol hinterlässt nur Kater, aber Sport hinterlässt Fitness und dass Gefühl Berge versetzt zuhaben.
Immerhin fand ich heraus, dass es doch noch andere Alkoholiker gab, die ihr Trinkverhalten mit Sport kombinieren konnten. Das prominenteste Beispiel ist der Keyboarder und Texter Martin Gore von der britischen Electro-Band Depeche Mode. In mehreren Interviews hat er betont, dass er während seiner Trinkphase regelmäßig joggen ging.
Ich war auch glücklich, dass ich soviel Büroarbeit für die Firma erledigen konnte. Das füllte den Tag schon Mal zur Hälfte und gab ihm Sinn. Ich musste erst etwas leisten, um so meine Lebensberechtigung abzuholen. Das ist mir ein fundamentales Prinzip. Wenn ich das nicht tue, dann treibt es mir Schauer über den Rücken. Ohne Tagesleistung werde ich unruhig. Freizeit muss ich mir verdienen. Das ist meine Voraussetzung für Entspannung. Da es ein Bauchgefühl ist, kann ich es nicht einfach umgehen. Nichtstun überfordert mich. Es machte mich nervös und hippelig, so ganz ohne richtige Aufgaben zu sein und das für Wochen. Ich hätte mich so nutzlos, ja geradezu schuldig gefühlt. So hätte ich mich nicht aushalten können. Ich verstand mit einem Male, warum meine Eltern meinen kindlichen Aktivitätsdrang als Symptom für ein Hyperaktivitätssyndrom sahen.
Ich begann mit 0,2 l Korn, wenn ich den Ofen für die Pizza vorheizte. Eine zweite Dosis von 0,2 l trank ich kurz vor dem Schlafen gehen. Das war meine <Schlaftablette>. Am Ende der sechs Wochen, lag ich bei einer Tagesdosis von 0,5 l Doppelkorn.
Über meine Rauscherlebnisse lohnt es nicht zu berichten. Es passierte nicht viel. Ich war nie sehr <breit>, denn sonst hätte ich mich nicht ausreichend konzentrieren können, um leichten Tätigkeiten nachzugehen. Selbst Hausarbeit braucht etwas Hirn, wenn man sie gründlich macht, denn natürlich kontrollierte ich am nächsten Tag. Das musste so sein. Ich hatte meinen Tagesplan. Der wurde auch jetzt ganz automatisch umgesetzt. Kontrolle gibt mir Führung und Sicherheit.
Die Mittelmäßigkeit des Fernsehprogramms wurde immerhin akzeptabel. Das war der größte Erfolg vom Alkohol. Manchmal schienen mir Filme immerhin so interessant zu sein, dass ich sie mir rauschfrei nochmals anschaute. Oft bestätigte sich mein Interesse dann nicht mehr. Im Rausch erlebte ich wenig, was nüchtern betrachtet, immer noch die gleiche Faszination hatte. Alkohol holte mich nur runter. Es machte mich genügsam. Alkohol schlug die Zeit tot, die ich anders nicht zu nutzen wusste. Das machte Alkohol aber sehr gut. Schon in meiner ersten Trinkphase habe ich im Rausch nie bedauert, etwas anderes zu verpassen. Das Bedauern kommt immer erst im Nachhinein.
Alkohol macht lustig, aber es hat nicht das mitreißende Potenzial von Sport. Beim Denken regt Alkohol am Anfang ein wenig die Fantasie an und fordert auf, neue Fragen zustellen. Dann aber verengt es den Blick und man kann sich nicht in Details vertiefen. Es bleibt oberflächlich. Alkohol läßt keine Antworten finden oder gar Taten folgen. Trägheit und Müdigkeit folgen schnell, wo Sport mich fließen lässt. Man schafft letztlich nichts mit Alkohol. Aber genau das war in dieser Phase gefordert. Auf Dauer bleibt Alkohol unbefriedigend, weil Alkohol Stillstand bedeutet. Unter Alkohol bin ich mit dem Mittelmaß zufrieden. Langeweile und Bedeutungslosigkeit sind dann in Ordnung.
Endlich kam der wochenlang ersehnte Tag. Es war eine Erlösung gipsfrei zu sein. Aber auch ohne Gips war die alte Beweglichkeit nicht gleich wieder da. Ohne Krücken ging es noch nicht. Die Beinmuskulatur war zu sehr erschlafft. Da die Muskulatur den Knochen stützt und schützt, nahm ich die Warnungen des Arztes ernst. Noch zwei Tage benutzte ich zu Hause mein Skateboard.
Am zweiten gipsfreien Tag fuhr ich zum Schwimmbad. Es war herrlich den ganzen Körper zu bewegen. Ich fühlte mich frei. Das ganze Becken hatte ich für mich, es war auch erst sechs Uhr morgens. Nur zwei Bahnen waren für eine Schule abgetrennt, deren Schüler ich nie sah. Schwimmen schien mir die perfekte Reha-Maßnahme zu sein. Die Hauptbelastung beim Kraulen liegt bei den Armen. Die Beine konnte ich dosiert zur Unterstützung heranziehen.
Genauso befreiend war mein Arbeitsantritt. Ich musste mich etwas bremsen, um die Kollegen mit meiner Dynamik nicht zu nerven. Die hatten mich nicht vermisst. Ein Kollege hatte wegen des Betriebsübergangs, der unserer Abteilung bevorstand, bereits den Job gewechselt. Es gab nicht mehr viel zu tun. All die Analysen, die ich in sechs Wochen angefertigt hatte, blieben ohne Bedeutung. Auf keiner Besprechung konnte ich meine Charts präsentieren. Nur mein Kongress-Projekt hatte weiterhin Priorität, aber das stand weitgehend schon. Eine gewisse Lethargie in der Belegschaft übernahm ich. Deswegen änderte sich meine Tagesplanung ein wenig. Ich fing nun erst nach Feierabend an zu trinken an und ersetzte das Frühstück durch Nordic Walking. Mein neuer Tagesrhythmus wurde bestimmt durch die ungewöhnlichen, manchmal surrealen Arbeitsbedingungen zum Ende meiner langen Firmenzugehörigkeit.
Ich fühlte mich, als hätte ich meinen Arbeitsbereich ganz verloren und würde nur noch Arbeit vortäuschen. Ich fand meine Arbeit immer weniger nützlich. In der Folge fand ich mich selbst dann auch etwas nutzlos. Nach etwa einer Woche wurde mir erst bewusst, dass ich meine Trinkgewohnheiten nicht einfach so weiterlaufen lassen durfte. Meine Tagesdosis lag jetzt am Wochenende bei 0,6 l Doppelkorn. Morgens schlief ich länger. Frühsport gab es nicht mehr. Es war mir plötzlich zu mühsam geworden. Auch nach einem Rausch blieb eine gewisse Trägheit zurück, kombiniert mit einer allgemeinen Lustlosigkeit. Es brauchte neuerdings meine bewusste Entscheidung für eine Aktion. Mich drängte es nicht mehr aus dem Bauch heraus zu bestimmten Unternehmungen. Meist ging ich nur am Wochenende eine Runde joggen.
Ich beschloss, mein Verhalten zu überdenken und schon mal die Trinkmenge etwas zurückzufahren. Darüber nachgedacht habe ich beim Nordic Walking, weil das im geistigen Fließen eines monotonen Tuns so gut geht.
Was sprach dagegen die Trinkphase fortzusetzen? Wieso nicht weiterhin etwas konsequenter Sport treiben und danach trinken, so lange sich im Job nichts tat und meine Familie abwesend war? Ich hatte mich an mein Feierabendsprogramm mit Video und You Tube gewöhnt. Das System war gut eingeführt. Es füllte angenehm die Abende. Wenn ich abends früh zu Bett ging, kam ich immer noch auf zehn Stunden Schlaf. Das war mir wichtig, denn ich war überzeugt, dass mich mein langer tiefer Schlaf vor Kater schützte. Natürlich musste die Aktion spätestens dann auslaufen, wenn meine Frau mit den Kindern zurückkam. Mir schien das ein überschaubarer und deswegen akzeptabler Rahmen zu sein. Ich beschloss also weiterzumachen.
Allerdings beschloss ich auch, einen ganz klaren Rahmen zu schaffen für das tägliche Trinken. Ich wollte mir beweisen, wenn ich weitertrank, dass ich alles im Griff hatte. Ich fühlte mich noch immer verletzt, dass wegen des Vorfalls vor Jahren Staatsanwalt, Richter und Gutachter mir zugetraut hatten, mich betrunken in ein Auto zu setzen. Nie hatte ich das getan. Das war eine Lüge, eine Verleumdung durch eine fachliche Fehlleistung. Dieses Vergehen wog schwer.
Kontrolle ist mir das Wichtigste. Kontrolle hatte meinem hyperaktiven Chaos als Kind Ordnung gegeben. Kontrolle machte erst meine Lebensleistung möglich. Kontrolle ging bei mir in der Pubertät so weit, dass ich dem Craving von Verliebtsein widerstand. Liebe machte mir Angst. Ich mied jede halbwegs attraktive Frau. Manchmal flüchtete ich geradezu. Die Angst vor Kontrollverlust war so groß, dass ich erst mit Ende Zwanzig einen Weg fand in vielen kleinen Schritten das Herz einer Frau zu erreichen, ohne das es mich umhaute. Daneben bewegte mich damals aber auch die ganze Zeit die Frage: ‚Was ist, wenn sich der Hormonsturm legt? Will ich dann immer noch die gleiche Frau?‘ Dahinter steckten ganz klar Bedenken, dass eine hormonelle Bewusstseinstrübung vernünftige Entscheidungen blockiert und damit Kontrollmechanismen aushebelt.
Ich war immer noch beleidigt, dass mir unterstellt worden war, ich würde mein Alkoholproblem verharmlosen. Unfähigkeit meinen Konsum und mein Verhalten unter Alkoholeinfluss zu kontrollieren, war ein weiterer Vorwurf, der sich allein auf statistische Ableitungen bezog ohne konkrete Beweise.
Langjähriger Missbrauch war mir ebenfalls vorgeworfen worden. Das war eine Annahme, die völlig unmöglich war und sich mit meinen Lebensdaten überhaupt nicht abgleichen ließ. So viele Ungereimtheiten, Unterstellungen und Lügen enthielten die Gutachten, dass ich sie nicht als seriöse Grundlage und Maßstab für den Umgang mit Alkohol sehen konnte. Im absoluten Glauben, dass große Leidenschaft für Alkohol und Trinkdruck bestimmend sind, hatten die Gutachter andere Gründe erst gar nicht in Betracht gezogen. Riskierte nicht diese Einseitigkeit ein Versagen ihrer Maßnahmen in anders gelagerten Fällen wie dem meinen? Ich war doch gar nicht ernst genommen worden.
Trotz der rationalen Feststellung blieb die emotionale Verletzung. Die wog besonders schwer, weil die gutachterlichen Feststellungen das Ergebnis einer fachlichen Expertise sein sollten. Mit allgemeinen Annahmen und statistischen Ableitungen hatte man es sich zu einfach gemacht. Die Lebensrealität des Individuums war mit Füßen getreten worden. Selbst die Begründung für eine neue Fahrtauglichkeit war bei den Haaren herbeigezogen. Wenn ich jetzt ganz bewusst alles wiederholte, konnte ich mir nochmal beweisen, dass die Anschuldigungen unbegründet waren und damit die misshandelte Seele therapieren. Auch dieses Mal würde die Trinkdauer unter einem Jahr bleiben. Ich nahm mir vor, dabei unbedingt unter der Dauer der ersten und einzigen bisherigen Trinkphase zu bleiben. Ich wollte ganz sicher sein, das mir das auch gelang.
Ich wollte Beweiskraft auf die Richter und Gutachter so gerne schwörten, ohne sie manchmal zu haben. Deswegen entschied ich mich zu einer Studie. Ich wollte endlich ernstgenommen werden. Ich ertrug es nicht, dass man meine Einwände pauschal als krankhaften Widerstand ausgelegt hatte und grundsätzlich nicht zur Prüfung bereit war. An meiner Ohnmacht gegenüber dem Absolutismus der Gutachter, speziell der zweiten MPU, hatte ich immer noch zu schlucken. Seine Missachtung meiner Realität zu Gunsten seiner scheinbar so abgeklärten Erfahrung, hatte ich noch nicht verwunden. Die Schwere seines Vergehens sah ich darin, dass er wissenschaftlich nicht korrekt gearbeitet hatte. Relative Wahrheiten benutzte er wie deduktive Beweise. Er hatte seine Erfahrung zum empirischen Beweis erhoben. Scheinkorrelationen produzierte er wo er sie brauchte. Gutachter suchen nicht nach Wahrheit. Sie gehen mit einem vorbereiteten Eindruck in eine Begutachtung. Der Klient, der die Expertise bestätigt, gilt als offen, therapietauglich und schuldbewusst. Er bekommt eine Chance auf den Führerschein. Wer kritische Fragen stellt, oder gar die Qualität wissenschaftlicher Studien zu prognostizistischen Untersuchungen wie der MPU anspricht, motiviert leider nicht den Gutachter an dessen wissenschaftlicher Ehre gepackt, zu einer gründlichen Exploration. Kritik wurde immer als Angriff oder Verweigerungstaktik abgetan. Die Reaktionen waren immer emotional. Sachlicher Diskurs war, ich vermute um der Autorität willen, ausgeschlossen.
Alle Studien über prognostizistische Untersuchungen belegen deren geringe Qualität. Wenn man die Zukunft nicht in allen Details kennt, kann man keine sichere Prognose geben. Das klingt auch ohne Untersuchung schon logisch. Wenn dann auch der Ist-Zustand nur teilweise abgefragt wird und die erhobenen Daten intuitiv interpretiert werden, sind je nach Erfahrung des Spezialisten unterschiedliche Ergebnisse möglich. Weiterhin wurden wesentliche Lebensfakten ignoriert, wenn sie nicht in ein statistisch geläufiges Bild passten. Viele von mir angesprochene Fakten wurden nicht mal ins Protokoll aufgenommen. Die Blicke, die solches Verhalten begleiteten hatte ich noch nicht vergessen. Das musste zu einem unbefriedigenden Ergebnis führen. Von diesen Fehlern will niemand, dem ich berichte, etwas wissen, denn es ist ein amtliches Gutachten. Man will einfach glauben, dass die ihren Job ordentlich machen. Das gehört doch so zu einer verantwortlichen Aufgabe. Auch ist eine Leistung schwer anfechtbar, wenn der Entscheidungsprozess mit den Lücken im Protokoll sich nicht exakt rekapitulieren lässt. Mein Fehler war, dass ich nicht weiter intervenierte, weil ich Bedenken hatte, das alles noch schlimmer kommt, wenn ich weiter auf Fakten poche. Die Exploration war schon längst auf eine emotionale Bahn gekommen. Oder war mein Fehler, dass ich überhaupt widersprochen hatte? So genau weiß ich es nicht. Intuitionen sind mein Metier nicht. Geholfen hatte der Gutachter meines Vertrauens jedenfalls nicht - nicht mal zum Sachverständnis. Dieses Versagen hatte ich als empirisch arbeitender Wissenschaftler noch nicht verwunden.
Beruhigend wirkte da immerhin die Lektüre einschlägiger Literatur. Danach hatten bereits viele Wissenschaftler die Qualität prognostischer Untersuchungen beurteilt. Allein Prof. Ph. Tetlock (Vgl. Tetlock, Philip: “How Accurate Are Your Pet Pundits?“, Project Syndicate/ Institute for Human Sciences 2006) von der Berkeley University hat über 80.000 Prognosen untersucht. Die Ergebnisse zeigten, dass Prognosen in der Regel nicht signifikant vom statistischen Durchschnitt abwichen. Die meisten Untersuchungen betreffen Aussagen zu politischen Entwicklungen und Wirtschaftsaussichten. Die Datengrundlage ist einfacher zu bearbeiten. Psychologische Prognosen haben eine weitaus diffusere Datenlage, die erheblich schwerer akkurat zu messen ist. Die logische Konsequenz müsste sein, dass die Ergebnisse psychologischer Prognosen mit intuitivem Bemessungsspielraum noch schlechter abschneiden. Wenn ich bedenke, was bei meinen Explorationen nicht gefragt wurde, oder weggelassen wurde, oder mit einer einzigen nonverbalen Geste abgetan wurde, dann habe ich den Eindruck, das ein wissenschaftliches Ergebnis zu Gunsten gefühlter Erfahrung, das den Untersuchungsrahmen eingrenzte, verhindert wurde. Die Gutachter unterstrichen immer wieder, dass sie zu frieden waren mit einem Ergebnis im Rahmen ihrer abgesteckten Erwartungen. Darauf wurde auslegend hingewirkt. Grundlage waren ihre persönlichen, unevaluierten Erfahrungen. Ein Gutachter hatte auf meine Frage sogar eine Regressionsanalyse seiner Erfahrung als ungenügend abgelehnt, weil sie die Difizilität seiner geistigen Gabe ignoriere. Wie kommt man ohne gemeinsamen Nenner zu einem Ergebnis, das man gemeinsam tragen kann?
Trotz eines bestimmenden Gutachtens mit juristischer Konsequenz, gab es bei mir weiter erhebliche Zweifel, die auch noch von Sachverständigen geschaffen worden waren, in dem sie sich weigerten mir ihr Ergebnisse offenzulegen. Ich kann annehmen was ich verstehe. Diese Chance wurde vertan.
So erfand ich das Trinkprojekt. Es sollte mir helfen mit der nicht weichen wollenden Betroffenheit umzugehen. Schließlich hatte man mit dem Urteil einem Kontrollfreak sein heiliges Pflichtbedürfnis abgesprochen. Was für einen Magersüchtigen der Hunger ist, ist mir doch in ähnlicher Weise der Vollzug von Kontrollmaßnahmen.
Daneben gab es politische Bedenken. Was für eine Diktatur in Ordnung war, konnte ich schon durch mein politisches Engagement für Rechtsstaatlichkeit in einer Hilfsorganisation für politische Gefangene, nicht akzeptieren. Dafür war ich auch durch meine aktivistischen Tätigkeiten als Schüler und Student zu stark geprägt worden, die mich bis zum Erntehelfer nach Nicaragua getrieben hatten. Solche metaphysischen, den Lebenssinn bestimmenden Rechts- und Wahrheitsbedürfnisse verhindern jeden zügellosen Trinkdruck. Das gilt besonders, wenn die Bedürfnisse eine existenzialistisch, extremistische Gewichtung finden. Deswegen lässt sich die Verletzung solcher Lebensgrundsätze auch nicht mit Gewalt oder exzessivem Trinken lösen. Trinken ändert nichts, nicht einmal das Bewusstsein um Wahrheit. Nur Handeln kann entschärfen und das braucht Handlungshoheit, die es mit Alkohol nicht gibt.
Ich hatte also eine Menge Gründe mich den Gutachten zu widersetzen. Trotzdem erlaubte erst die Kombination aus Gründen und einem beweisführenden Projekt das Trinken in einem Rahmen. Ein klassischer Rückfall musste ausgeschlossen sein. Bevor die Studienidee konkret wurde, musste ich weitere grundlegende Gedanken wälzen. Durfte ich glauben, dass bei mir alles anders war? Wollte ich nicht sehen, was für Psychologen offenkundig war? Was unterschied mich vom statistischen Mittel? Was war bei mir anders gelaufen? ich wollte es herausfinden und durchleuchtete mein Leben zwei Tage lang jedes Mal vor Trinkbeginn. So lange mussten die Flaschen vom letzten Einkauf unberührt bleiben. Mir war das wichtig! Es ging immerhin um mein Selbstverständnis, das mir abgesprochen worden war. Die Vergewaltigung der Wahrheit durch Experten war mit ihrem Fachwissen untermauert worden. Trotzdem entschied keine wissenschaftlich, korrekte Rationale ihr Urteil, sondern die gefühlte Erfahrung. In meiner Ohnmacht gegen gutachterliche Gefühle sah ich mich allmählich berechtigt zu allen möglichen Vergehen, um das Verbrechen an mir zu kompensieren. Auf meinem Rücken wurde ein Exempel der Plausibilität und nicht des Wissens statuiert. Ihr Pochen auf ihre Autorität war ein Zeichen einer Arroganz zu einer Macht, die glaubt, es nicht nötig zu haben genauer hinzuschauen.
Ich bin wie jeder Mensch ein Kind der Umwelt, in die ich hineingeboren wurde. Im Laufe meiner Entwicklung habe ich versucht zu lernen mit den Gegebenheiten umzugehen, die mich umgeben. Die Erfahrungen, die mir gefielen, übernahm ich. Andere Erfahrungen, die mir nicht gefielen, versuchte ich in meinem Sinne zu beeinflussen. Die notwendigen Techniken habe ich lange erprobt. Dazu hatte ich viel Zeit, denn wir Menschen haben unter den Lebewesen die längste Entwicklungszeit. Da das menschliche Hirn über Areale wie den Neocortex verfügt, die die Erfahrungen der Entwicklungszeit verarbeiten, kann auch ich davon ausgehen, dass meine Erfahrungen mich geprägt haben. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die präpubertäre Phase als Kleinkind und Kind, die Pubertät als Jugendlicher und die finale Adoleszenz als juristisch bereits junger Erwachsener. Alle diese Phasen waren bei mir von Leistungssport und Musikunterricht geprägt. Meine Sozialisation blieb als Einzelgänger eher bescheiden. Fast jeden Wochentag und viele Wochenenden gab es ein Programm aus Training oder Wettkampf und Musikunterricht oder Konzert. Dabei haben sich Eigenschaften ausgebildet, die durch Prägung noch heute mein Leben bestimmen.
Das ist normal. Eigentlich ist das von der Evolution auch so vorgesehen. Die Fähigkeit Umwelteinflüsse aufzunehmen und in das eigene Verhaltensrepertoire zu integrieren, ist der Schlüssel, um sich auf eine sich wandelnde Welt einzustellen. Das ist der Grund, warum der Mensch so erfolgreich war, alle Habitate auf diesem Planeten zu besetzen. Deswegen findet der Mensch immer wieder neue Rezepte für neue Herausforderungen. Deswegen benutzen wir heute Energiesparlampen statt Glühbirnen. Deswegen werden unsere Autos in hundert Jahren nicht mehr mit fossilen Brennstoffen angetrieben werden. Es ist diese Anpassungsfähigkeit, die Menschen so erfolgreich macht.
Beim Sport entwickelte ich Ehrgeiz. Ich musste lernen mich zu quälen. Nur mit Fleiß, Ausdauer, Leidensfähigkeit, Hartnäckigkeit, Sturheit und anderen Eigenschaften, die alle zu entwickeln waren, kam ich mit meinem Training bis zu den Deutschen Meisterschaften. Durchhalten viel mir zunehmend leichter, je mehr Erfolg ich hatte. Der Erfolg war eine höchst befriedigende Belohnung für meinen manchmal bedingungslosen Einsatz. Der Genuss des Erfolgs war so intensiv, das selbst die Aussicht auf einen Erfolg euphorisierte. So wurde auch die Quälerei selbst zum Genuss und der Weg zum Ziel. Ich liebte die Spannung auf dem Weg zu einem Ziel. Die Ungewissheit ein Ziel wirklich zu erreichen, trieb mich an, immer neue Pläne zu entwerfen. Ich wollte Sicherheit. Bereits mein Aktionismus gab mir einen süßen Vorgeschmack auf die Bedeutung, die da durch mein engagiertes Handeln entstehen konnte.
Bestärkt nie aufzugeben, wurde ich auch von dem Vorbild eines Ruderers aus einem Nachbarort, den ich ein bisschen persönlich kannte. Er hatte olympisches Bronze gewonnen. Als Kind war ich extra nur zum Empfang des erfolgreichen Olympioniken durch den Bürgermeister gefahren, um von meiner Medaille zu träumen. Ich hatte die gleichen Rahmenbedingungen. Wieso sollte ich nicht das gleiche Ziel erreichen? Es lag nur an mir, diese Chance anzunehmen. Ein Jahr später entschied ich mit meinen Eltern, das Rudern durch Schwimmtraining zu ersetzen. Das schien uns die bessere Strategie zu sein, weil es mir besser lag. Ich fand einfach nicht die Harmonie in einem Team, wollte immer einen schnelleren Rhythmus als der Schlagmann vorgab und hatte doch die schlechteste Technik.
Gerade die durch den Sport entwickelten Eigenschaften machen mich so glücklich, weil ich ohne sie an mancher Herausforderung im Studium und im Beruf gescheitert wäre. Ich habe in meinem Leben soviel erlebt, weil ich mich getraut habe an den Erfolg zu glauben, wo andere nur Bedenken sahen. Dafür war ich bereit zu kämpfen und zu leiden. Der Sport hat mich gelehrt, dass alles geht, wofür ich mich <reinhänge>. Und wenn etwas nicht ging, dann konnte ich nicht enttäuscht sein. Ich hatte mir nichts vorzuwerfen. Ich hatte alles gegeben. So bin ich bis heute immer schnell motiviert, ein neues Ziel noch kompromissloser anzugehen.
Meine Idole als Jugendlicher waren Polarforscher. Sie hatten Visionen und den unbedingten Willen sie zu erreichen. Das Alfred Wegener (Vgl. Rohrbach, Klaus: „Abenteuer in Schnee und Eis – Alfred Wegener“, Freies Geistesleben 2008) bei einer Expedition auf Grönland ums Leben kam, habe ich als Kind nicht mit Bedauern aufgenommen. Ich habe nur gedacht: ‚Was für ein heldenhaftes Ende, in Ausübung einer bahnbrechenden Aufgabe zur Klimaforschung, zu sterben‘. Das war ein bisschen wie mit den Cowboys, die in ihren Stiefeln starben.
Am meisten beeindruckte mich Ernest Shackleton (Vgl. Shackleton, Ernest: „Mit der Endurance ins ewige Eis: Meine Antarktisexpedition von 1914-17“, Piper Verlag 2006)
Er hatte bei seinen Expeditionen in die Antarktis sehr viel Pech. Aber er gab nie auf. Als sein Schiff im Packeis zerbarst, überwinterte er auf einer Eisscholle, um danach mit Beibooten seines Expeditionsschiffes zur Elephanteninsel aufzubrechen. Von dort ging es mit wenigen Leuten weiter durch stürmische See zum 1.500 km entfernten Südgeorgien. Dann überquerte er mit seinen Seeleuten und einem einzigen Seil das Hochgebirge der Insel, um zur rettenden Walfangstation auf die Nordseite zu gelangen. Erst dann konnte die restliche Mannschaft von der Elephanteninsel gerettet werden. Seine Entbehrungen retteten der kompletten Mannschaft das Leben.
An solche Männer musste ich bei meinem kleinen Abenteuer denken, als ich nach meinem Studium in den Chilenischen Anden Bergwanderungen auf über 6.000 m machte. Dieses Abenteuer strickte ganz selbstverständlich auf etwas andere Weise meinen Kindheitstraum von Polarforschern weiter. Mir ist es ein Beispiel für pubertäre Prägung. Eines hatte sich dabei wieder bestätigt. Entbehrungen machen Spaß.
Im Musikunterricht habe ich vor allem gelernt, mich auch in Stresssituationen wie z.B. Konzerten zu entspannen und konzentriert zu bleiben. So konnte ich bei einem Jazz-Solo noch die Muße finden, was Neues zu probieren. Mein musikalisches Talent war eher bescheiden. Große Erfolge gab es nicht. Also entdeckte ich andere Ziele. Allein das Fühlen der Musik, das eben anders ist, wenn man nicht nur passiv hört, ist so intensiv. Mir reichte das Musikmachen um der Musik willen. Öffentliche Erfolge überließ ich lieber den anderen. Man kann sich auch am Erfolg der Freunde freuen. So rang ich schon bald nicht mehr nach Preisen, sondern nach dem Applaus unserer Band auf Feten, Hochzeiten und Pfingstlagern. Meine Nebenrolle am Bass war meine Idealbesetzung. Als Basstyp durfte man auch gehemmt und wortkarg sein. Die Harmonien der Musik füllten die Harmonie in mir und mit den anderen Musikern. Dieses Fließen in der Musik war ganz anders als meine Sporterfahrungen, aber genauso schön. Das war der perfekte Kontrast.
Intensiveres Erleben als durch Sport und Musik kenne ich nicht. Beide toppen jeden Alkoholrausch und jeden Orgasmus. Die Erinnerung an einzelne Erlebnisse sind noch Jahrzehnte später so wach, dass ich in der Erinnerung an sie manchmal den Tränen nahe komme.
Ist das für andere nachvollziehbar, speziell für Gutachter? Ich glaube, man muss erst mal an körperliche Grenzen gekommen sein und diese zu übertreten versucht haben, um eine Ahnung zu bekommen was es heißt beim Sport alles gegeben zu haben. Erst wenn nichts mehr geht und alle Reserven mobilisiert wurden bekommt man ein Verständnis von Ehrgeiz und Leidensfähigkeit. Von solchen Erfahrungen waren meine Gutachter meilenweit entfernt. So wie ich schon als zwölfjähriger nach dem Kadertraining gegen 22 Uhr auf dem Fahrrad schwankend den Heimweg antrat, wäre eigentlich ne Verkehrskontrolle fällig gewesen. Aber Endorphine sind ja legale weil körpereigene Drogen. Alkohol kann das zu simulieren versuchen, kicken kann Alkohol es nicht.
Genauso erging es mir beim Fallschirmspringen, beim doppelten Gipfelglück auf dem Ojos (6680 m) in den Anden oder beim Surfen in Herbststürmen auf der deutschen Nordsee zu letzt am Campingplatz von Hörnum. Solche Erfahrungen haben ihr eigenes Craving. Da gegen ist Alkohol ein <Schiss>. Die dabei trainierten Eigenschaften sind auch in anderen Situationen eine starke Waffe. Für außenstehende Fernsehgucker in warmen Wohnzimmern reduzieren sich spektakuläre Erfahrungen leider auf schöne Bilder. Das intuitive Nachvollziehen zeigt nur einen Teil von der Kraft solcher Ereignisse.
Mein Weg war weit und dornenreich. Gerade in der frühen Kindheit habe ich gedacht, ich kann nichts. Ich sah mich als Totalversager. Es war die Unzufriedenheit mit mir, die mich hat Träumen lassen. Träume ließen mich das Hier und Jetzt akzeptieren, weil die Zukunft mich entschädigen sollte. Das Vertrauen in eine bessere Zukunft machte mir gute Laune. Das war, wie ich festgestellt habe, sogar wissenschaftlich von Neurowissenschaftlern aus Hamburg untersucht worden (Vgl. Peters, Jan/ Büchel, Christian: “Episodic Future Thinking Reduces Reward Delay Discounting through an Enhancement of Prefrontal-Mediotemporal Interaction“, Neuron 66(1) (2010) pp. 138-48).
Das Vertrauen in eine bessere Zukunft braucht aber Gründe. Diese musste ich erst schaffen. Nur wenn ich erste Schritte tat auf ein Ziel, konnte ich dieses Vertrauen in mir wachsen spüren. Dieses Gefühl ist so präsent in mir, dass die Sehnsucht danach, mich auch heute immer noch motiviert. Ich kann nicht meine Hände in den Schoß legen, wenn ich die Chance sehe, ein Ziel zu erreichen. Ich muss jedem Ziel und erst recht jedem Traum Beine machen, sonst bleiben sie Seifenblasen, die der Wind verweht.
In meinen Träumen suche ich nach Sinn. Der ist geprägt von einer Nützlichkeit, die ich ausfüllen will. Untrennbar verbunden damit ist immer die Nützlichkeit in und mit meiner Umwelt. Meine Vorstellungen vom Sinn des Lebens decken sich sehr mit den logotherapeutischen Prinzipien von Victor Frankl (Vgl. Frankl, Viktor: „Mans’s Search For Meaning“, Pocket Books 2009). Der hat in seinem Werk umfassend erforscht, wonach auch ich Zeit meines Lebens suche.
Alkohol und andere Drogen schaffen keinen Sinn. Sie trösten nur über mangelnden Sinn hinweg. Kurzfristig kann das angenehm sein. Aber spätestens mit dem Kater ist es vorbei mit solchem Trost. Langfristig trete ich mit Alkohol auf der Stelle. Ich entwickle mich nicht. Es gibt keine Zukunft im Alkohol. Gerade von der Zukunft aber, träume ich gerne, wieder und wieder. Es bleibt nie beim bloßen Träumen. Ich stutze meine Träume so weit zu recht, dass ich sie als Ziel auch konkret planen kann. Diesen realen Zukunftstraum male ich mir in den schönsten Farben aus, bis der bloße Gedanke daran mir Flügel verleiht. Solche Träume machen Spaß, weil sie erreichbar sind. Ihr Erreichen ist eigentlich selbstverständlich, wenn ich mich an die Umsetzung meiner Strategie konsequent halte.
Ich habe mein Abitur nicht gefeiert. Ich sah das Erreichen der Hochschulreife eben nicht als Glücksfall an, sondern als logische Konsequenz von Fleiß und Ausdauer. Die Erreichbarkeit eines Zieles weckt Energien, die Hindernisse aus dem Weg räumt. Die Wehmut der Erinnerung an meine Oberstufenzeit macht eh deutlich, dass die Schulzeit schöner war, als ihr Abschluss. Manchmal dient ein Ziel wie das Abitur eben nur der Erfolgskontrolle und dem Ausmachen neuer Ziele. Es war mir eine Etappe auf dem Weg zum Diplom. Die Schulzeit selbst war der größere Spaß.
Als eigenbrötlerischer Einzelgänger war ich sowieso nicht der Partytyp dem feiern lag. Ich meide gerne Menschenansammlungen. Deshalb mochte ich es auch nicht, als Psychologen mir unterstellten, ich würde in Gesellschaft trinken. Meine Allianzen mit den anderen folgen immer einem produktiven Interesse. So konnte ich dann auch meine Rolle als Bassist in einer Band finden oder als Band auf einer Fete. Oberflächlichkeit unter Menschen und pures Gelaber ohne Sinn machen mich krank. Cliquen und allgemeine Freundschaften sind mir ein Leben lang fremd.
Als Kind führte mein Glaube unfähig zu sein, zu einem starken Minderwertigkeitsgefühl. Die anderen schienen mir alles besser zu machen. Meine negative Selbsteinschätzung änderte sich auch nicht, als ich besser wurde. Egal wie gut ich wurde, es gab immer einen Besseren. Mit meiner Unfähigkeit wollte ich mich aber nie abfinden, denn dafür waren meine Träume zu schön. Dabei wollte ich nicht Mal besser sein als die anderen. Ich wollte nur mithalten können. Aus meinem Kampf gegen das Schicksal des Versagens wurde später ein Kampf um die Möglichkeiten des Lebens, als ich unbekannte Ressourcen in mir entdeckte.
Ich nutzte die Chancen, die ich nicht hatte. Ich vertraute darauf, dass sich da was ergab, wenn ich aktiv suchte und mich ausprobierte. Immer wieder bin ich von Eigenschaften in mir überrascht worden, die ich zuvor nicht kannte. Es gab Fähigkeiten, die von mir unbeachtet, in einer Art <Stand-By> Modus liefen. So hätte ich z.B. nie gedacht, dass mir Tanzen mal Spaß machen könnte. Ich ging davon aus, dass ich als Grobmotoriker natürlich kein Talent hatte, mich intuitiv und trotzdem exakt zu einem Rhythmus zu bewegen. Umso überraschter war ich, dass mit meiner Tanzpartnerin aus Puerto Rico, selbst karibische Tänze funktionierten und ich mich nach langem Üben sogar selbstbewusst auf ein Salsa Turnier traute.
Ich bemerkte, dass wenn ich eine neuentdeckte Fähigkeit in Anspruch nahm, sich deren Performance automatisch verbesserte. Mit gezieltem Training waren auch weitere Leistungssteigerungen drin. Ich benutzte Körper und Hirn wie Muskeln. Heute können Wissenschaftler bestätigen, dass neuronale Vernetzungen ein Leben lang möglich sind. Das macht auch unser Hirn ein Leben lang lernfähig.
Als Kind habe ich das in der vorösterlichen Fastenzeit immer wieder probiert. Ich habe Süßigkeiten vermieden. Als mir das leicht fiel, habe ich extra Süßigkeiten bevorratet, um der Versuchung zu naschen stärker ausgesetzt zu sein. Zum Schluss habe ich Süßigkeiten so platziert, dass ich sie permanent sah. Die Versuchung wurde so allgegenwärtig. In wirkliche Versuchung kam ich nie, dazu waren die katholischen Drohgeschichten vom Höllenschlund, der die Sünder erwartete, zu schön und plastisch.
Ich war immer dann erfolgreich mit meinem Hirntraining, wenn ich in kleinen Schritten vorging. So habe ich selbst ohne Grund zum Optimismus den Mut, daran zu glauben, dass ich mir noch unbekannte Potenziale erschließen kann, um ein Ziel zu erreichen.
Das Vertrauen in mich, dass entstand, wenn ich gewann, hat meine Ängste nie beseitigt. Es hat sich lediglich als eigenständige Kraft neben der Angst etabliert und war mit der Angst zum Dialog bereit. So konnte ich meine Zukunft auf Vertrauen bauen, ohne mich zu überschätzen, weil die Angst wachsam bereit stand. Es braucht eben beides. Für dauerhaften Erfolg muss man ein Wagnis eingehen und gleichzeitig bereit sein, wenn man den Bogen überspannt, zu parieren. Mut ist immer der Mut zur Aktion und auch der Mut zum Nein-sagen.
Ich lehnte mich gegen das Schicksal als Totalversager auf. Aus meinem Widerstand wuchsen die Wege, die mir halfen mich aus dem Loch zu ziehen. Aus Trostlosigkeit malte ich meine Träume. Wenn ich das schon als Kind gelernt hatte, dann sollte ich als Erwachsener mit dieser und weiteren Erfahrungen, die Kraft haben, noch mehr zu erreichen.
Über Jahrzehnte habe ich meine persönliche Technik entwickelt, um meine Ziele für mein Stück vom Kuchen des Lebens zu erreichen. Die Grundlagen hierfür haben Sport und Musikunterricht gelegt in der Kindheit. Ich entwickle meine Technik ständig weiter, heute vor allem bei meiner Arbeit als Verantwortlicher für Projekte und für Umsatzziele. Jetzt helfen mir sogar professionelle Coaching-Maßnahmen, die meine Firma bezahlt. Interessanter Weise sind die manchmal gar nicht so grundsätzlich anders als die Techniken meiner Kindheit.
Ziele brauchen Planung. Die Planungsschritte brauchen Maßnahmen. Maßnahmen müssen überprüft und optimiert werden. In meinen sokratischen Monologen am Ende eines jeden Tages, träume ich einerseits von der Zukunft. Andererseits plane ich die Maßnahmen für den nächsten Tag. Natürlich beurteile ich auch kritisch die Zielerreichung der Maßnahmen des vergangenen Tages. Erst so weiß ich, wie weit ich von meinem Traum noch entfernt bin. Jede Entscheidung muss exakt beschrieben werden, um eindeutig zu sein. Auslegungen sollen so vermieden werden. Sie müssen nachgehalten und mit einer konkreten Maßnahme eingeleitet werden. Will ich z.B. am folgenden Tag zum Schwimmen gehen, dann ist bereits am Vorabend die Sporttasche zu packen. Zusätzlich lege ich die Zehner-Karte schon mal auf den Frühstückstisch.
Für größere Ziele gibt es einen Aktionsplan. Alle Vereinbarungen dazu werden schriftlich fixiert in einer Maßnahmenmatrix.
Niemals finde ich mich mit einer Situation ab, nicht einmal mit einer guten. Es geht immer auch anders und besser.
Problemen weiche ich nicht aus, auch wenn sie kompliziert erscheinen. Ich stelle mich ihnen, weil ich die Schwierigkeiten vor der Auseinandersetzung mit einem Problem weniger fürchte, als die Ungewissheit, wenn ich Probleme vor mir herschiebe. Häufig entpuppen sich Probleme bei genauer Betrachtung als gar nicht so schwer lösbar. Mittlerweile ziehen mich deswegen Probleme sogar an. Ich löse gerne Probleme. Bei meiner Arbeit ist ein Problem, das ich angehe, immer auch eine Gelegenheit mich zu profilieren. Es sind die Projekte, die ich übernehme, die mich auszeichnen.
Ich spreche über alles, was mich bewegt. Das tue ich auch, wenn ich von einer Person nicht erwarte, dass sie einen Ratschlag parat hat. Meine Erfahrung zeigt, dass ich oft überrascht werde. Die Sichtweisen anderer schaffen neue Blickwinkel auf den gleichen Sachverhalt. Das liefert bei Problemen zusätzliche Lösungsansätze.
Für große Ziele suche ich mir Bundesgenossen. Heute spricht man auch von sozialen Netzwerken. Vereint bin ich stärker, das gilt nicht nur für die <Drei Musketiere>.
Vereint bin ich auch im Verein. In meinem Verein für Gleitschirmflieger bin ich unter Gleichgesinnten. Da ist das Leben nicht nur viel schöner, die stellen auch mehr auf die Beine, als ich das alleine könnte. Bei Alkoholproblemen könnte so ein Verein eine Selbsthilfegruppe sein.
Halbherzigkeit ist eine Todsünde. Es ist Zeitverschwendung etwas mit halber Kraft zu tun. So erreicht man nicht anspruchsvolle Ziele. Unbewusste Halbherzigkeit ist oft Ausdruck dafür, dass man von den Maßnahmen zur Zielerreichung nicht wirklich überzeugt ist. Fortgesetzte Halbherzigkeit ist somit auch die Ansage, den Erfolg nicht zu wollen. Wenn ich das weiß und nichts ändere, dann bedingt Halbherzigkeit sogar vorsätzliches Versagen.
Ziele müssen positiv begründet werden, damit klar ist, wofür ich etwas tue. <Ich gehe joggen, weil mich das mit Energie auflädt>.
Vermeidungsziele sind nicht zugelassen. Statt zu sagen, <ich esse kein Frühstückt> sage ich <ich gehe morgens joggen>.
Ziele dürfen verschoben werden – einmalig.
Wenn ich in Versuchung bin nachzugeben, frage ich mich, ob ich zu dieser Entscheidung auch noch am nächsten Tag stehen werde.
Nie bei erster Erschöpfung pausieren. Man kann auch mit reduzierter Leistungsfähigkeit noch eine Menge schaffen. Schwierigkeiten und Widerstände sind normal. Das darf nicht stören. Es gibt keinen Anspruch auf Glück. Glück ist, was uns in den Schoß fällt oder was wir uns erarbeiten. Unter Umständen muss es mit Schweiß dem Leben abgerungen werden.
Der Stundengong der Wanduhr ist die Gelegenheit, sich selbst bewusst zu machen und zu checken, ob ich mich im Rahmen meiner Vorgaben bewege. Das habe ich als Kind schon gemacht, als ich mir meine erste digitale Armbanduhr kaufte. Mit dem Stundensignal habe ich damals versucht mich in Gesellschaft nicht wie ein kopfloser, fremdgesteuerter Idiot zu verhalten. Ich habe innegehalten, um mich bewusst und situationsgerecht neu auszurichten.
Ich gehe früh zu Bett, um früh aufzustehen. Nur dann sind meine Batterien aufgeladen. Nur dann ist volle Leistungsfähigkeit gewährleistet. Ich gehe gerne Joggen, wenn morgens in allen Häusern noch die Rollläden geschlossen sind oder ich im Winter im frischen, nur von einigen Kaninchen und Katzen berührten Schnee meine eigene <Loipe> trete
Fehler müssen Konsequenzen haben. Wenn Fehler passieren, suche ich zu erst bei mir nach Ursachen. Ursachenforschung vermeidet unnötige Wiederholungen. Vielleicht musste ich ja scheitern? Vielleicht war das Ziel zu anspruchsvoll? Vielleicht liegt die Lösung darin, ein Ziel in mehrere kleine Etappenziele aufzuteilen? Ein Fehler ist immer auch eine Herausforderung. Ein Fehler ist die Chance zum Bessermachen. Ein Fehler enthält immer auch die Option zum Triumpf über das Versagen.
Wiederholte Fehler brauchen Strafen, deren Anwendung schmerzhaft und erprobt ist. Ich muss die Disziplin haben mir etwas zu versagen, was mir lieb und teuer ist.
Es braucht einen Plan B bei totalem Versagen oder bei realer Unmöglichkeit ein Ziel zu erreichen. Plan B ist als abgespecktes Minimalziel definiert. Der Plan B garantiert, dass ich immer erfolgreich bin. Es geht darum, die Richtung zu halten. Die Richtung ist ein angenäherter Weg zum Ziel.
Machen mich meine Lebenserfahrung und meine Kontrollmechanismen stark genug gegenüber Alkohol? Ich war nach diesen Überlegungen der Meinung, die Frage mit Ja beantworten zu können. Mit meiner Persönlichkeitsentwicklung traute ich mir das auch ein zweites Mal zu. Schon in der ersten Trinkphase hatte ich immer einen genauen Trinkplan, der stets eingehalten wurde. Auch damals hatte ich die Trinkphase selbstständig beendet. Während der Trinkphase hatte ich mich nie nach Alkoholkonsum zu einer Autofahrt entschieden. Wieso sollte das jetzt anders sein? Die Gutachter sahen das Risiko doch nur, weil sie von falschen Annahmen und statistischen Hochrechnungen ausgingen. Sie waren überfordert mit einer Prognose, deren Parameter sie nicht sämtlich erschließen konnten. Ihre Vorsicht war in Unwissenheit begründet. Ich und mein Leben waren doch gar nicht wirklich Gegenstand ihrer Untersuchungen gewesen. Ihre Beurteilungen waren wissenschaftlich nicht korrekt und gingen manchmal an der Wahrheit vorbei.
In meiner Studie sollte es keine externen statistischen Bezüge geben. In meiner Studie zählten nur Bezüge auf das Individuum in seinem wirklichen Verhalten. Meine Annahmen mussten besser sein, weil ich erkannte, was sie nur glauben wollten oder zu wissen glaubten. Meine einschlägigen Lebenserfahrungen berechtigten in ihrem Umfang zu den getroffenen Entscheidungen. Wer die nicht auch hat, den muss ich dringend vor einem solchen Experiment warnen. Es braucht den kompromisslosen Willen selbst am Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs die Entscheidung zur Umkehr zu treffen und auch zu exekutieren.
Ich nannte meine Studie Trinkprojekt. Den letzten Ausschlag gegen Bedenken zum Trinkprojekt gab eine Erinnerung an einen Mann, der in einer Fußgängerzone eine Spielzeugente auf Rädern hinter sich herzog. Damals löste sich meine Verwunderung, als ein Kommilitone erklärte, dass das Teil einer Therapie sei, die von einer bekannten psychologischen Praxis durchgeführt wurde. Die meisten Patienten seien Alkoholiker, die lernen sollten, angesichts der permanenten Gegenwart von Alkohol, damit umzugehen. Nichts anderes hatte ich im Trinkprojekt vor.
Vom Studiendesign her konnte es natürlich keine doppelblinde, randomisierte Studie werden. Aber es sollte eine Studie mit klarem Endpunkt und permanenter Verlaufskontrolle, sowie täglichen Evaluationen werden. Sämtliche Details waren schriftlich zu regeln, bis hin zu den Bedingungen für einen Abbruch und Sanktionen für Regelverletzungen. Ich wollte in meinem Trinkprojekt genauso vorgehen, wie in den pharmakologischen Studien, mit denen ich mich bei meiner Arbeit beschäftigte.
Dafür legte ich auf meinem Firmen-Laptop mit MS-Project das Trinkprojekt an. Mit dem Programm konnte ich über ein zeitliches Verlaufsdiagramm sämtliche Planungsschritte dokumentieren und überwachen. Alle Maßnahmen und Prozesse mussten zuvor beschrieben werden. Unter MS-Word begann ich dazu mit einer Präambel.
In der Studienpräambel nannte ich als Grund für die Untersuchung die Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdbeurteilung, hinsichtlich meines Trinkverhaltens und den Verhaltensweisen unter Alkoholeinfluss. Mein Glaube falsch beurteilt worden zu sein nagte an mir. Das Problem war zu lösen, damit ich wenigstens meinen Frieden finden konnte, wenn ich schon nicht auf Gerechtigkeit hoffen durfte. Das Zeitfenster der Studie sollte sieben Trinkmonate betragen. Das war kürzer als der Zeitraum meiner ersten Trinkphase. Alle Details der Studie bedurften der Schriftform. Durch eine ausschließlich auf das Individuum bezogene Untersuchung, die frei von allgemeinen statistischen Prämissen war, sollte in erster Linie der Kontrollverlust beurteilt werden. Dafür wurden zwei Endpunkte als Studienziele festgesetzt:
Als primäres Studienziel legte ich die Abstinenz nach sieben Monaten fest. Stichtag war der Monatsultimo. Danach waren einen Monat lang auch geringe Mengen Alkohol nicht erlaubt. Totale Abstinenz in diesem Beobachtungszeitraum war Pflicht. Deswegen betrug die Gesamtdauer der Studie auch acht Monate. Sie bestand aus sieben Monaten Trinkphase und einem Monat Abstinenzphase. So blieb auch, wenn man die etwa fünfwöchige Trinkzeit der Gipsphase hinzurechnete, eine kürzere Trinkperiode als während der ersten Trinkphase.
Das zweite primäre Studienziel war Verkehrsfreiheit in der Trinkphase. Es war in dieser Phase absolut verboten ein Fahrzeug unter allen Umständen zu führen, sobald der erste Tropfen getrunken war.
Weiterhin gab es sekundäre Ziele. Diese Ziele dienten dazu, die Zielerreichung der primären Ziele sicherzustellen. Die Studie sollte helfen, meine Kontrolle weiter zuverstärken. Die Evaluation sollte Schwachstellen erkennen lassen.
Wichtigstes sekundäres Ziel waren die erlaubten Trinkmengen. Die maximale Tagesdosis, die nicht überschritten werden durfte waren 0,7 l Doppelkorn. Die Menge hatte ich noch nie zuvor erreicht. Ich entschied mich so, weil ich mich auch etwas herausfordern wollte, den Geltungsbereich meiner Widerstandskräfte auszuloten. Außerdem orientierte sich die 0,7 l Marke an ein Erlebnis aus meiner Kindheit.
Damals prahlte ein Straßenarbeiter, der vor unserer Haustür ein Telefonkabel verlegte damit, dass er beim Feiern alleine eine ganze Flasche Doppelkorn trinken konnte. Das schien mir schon als Kind eine viel zu große Menge zu sein. Nicht Mal auf Schützenfesten hatte ich gesehen, dass jemand so viel trank. Diese Schwelle wollte ich im Trinkprojekt auf keinen Fall erreichen, aber man hielt mich ja für zu blöd. Ich wollte es ihnen schon zeigen. Mein Unbehagen über diese riesige Menge führte zu zwei Einschränkungen.
Erstens, es durfte nicht eine ganze Flasche 0,7 l ausgetrunken werden. Ein Schluck musste symbolisch zurückbleiben. Wie groß der war, sollte ein Eichstrich markieren, der nüchtern anzubringen war. So konnte ich faktisch nicht Gleichziehen mit dem Arbeiter aus meinem Kindheitserlebnis. Der Rest musste verworfen werden, also ausgegossen in die Spüle oder Toilette, bevor die letzte Dosis getrunken wurde.
Zweitens musste nach Erreichen der Maximaldosis nach maximal zwei Wochen die Tagesdosis reduziert werden auf höchstens 0,6 l. Im vorletzten Studienmonat war die Trinkmenge in Stufen auf Null zum Monatsultimo zu reduzieren.
Der erste Alkoholkontakt eines Studientages durfte erst nach der Arbeit stattfinden. Das schloss auch offizielles Sekttrinken auf einem Empfang aus. An dieser Stelle fragte ich mich, ob das wirklich mit aufzuführen war. Trinken vor oder während der Arbeit war mir unmöglich. Ich brauchte doch das Tageswerk, um mir die emotionale Berechtigung zum Trinken abholen zu können. Und auf Empfängen bevorzugte ich ganz klar O-Saft. Aber dann fiel mir ein; Studien werden nicht nur gemacht, um neues Wissen zu finden, sondern vor allem auch in der Industrie, inklusive meiner Branche, um offizielle Bestätigung zu finden für sichere Annahmen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zutrafen. So schützte man sich auch gegen Vorwürfe der Einseitigkeit aus marktwirtschaftlichen Gründen. Und wollte ich nicht auch Bestätigung finden für Dinge, um die ich wusste und mich gleichzeitig den Vorwürfen als kranker Alkoholiker einseitig zu argumentieren, erwehren?
Die Tagesdosis war in drei Einzeldosen aufzuteilen. Ich suchte nämlich nie den Vollrausch, sondern eine gewisse Gemütlichkeit in der ich dem Fernsehprogramm noch folgen und die Hausarbeit erledigen konnte. Dabei brauchte ich die letzte Dosis zum sicheren Einschlafen. Nur durch langes Schlafen verschlief ich den Kater, den ich so fürchtete. Wenn ich mich wieder so verhielt wie in der ersten Trinkphase, dann konnte ich mich auch von den Koma-Trinkern unterscheiden.
Um auch während dieser Trinkphase Autofahren auszuschließen, galten die gleichen Regeln wie in der ersten Trinkphase. Mein Rennrad stellte ich hinter das Auto in die Garage. Es wäre also auch diesmal zu entfernen, bevor ich die Absicht zu einer Alkoholfahrt umsetzen könnte. Außerdem legte ich den Autoschlüssel auf dem kleinen buddhistischen Altar meiner Frau. So sollte es mir schwer fallen vor den Augen Gottes und meiner Frau eine Untat zu begehen. Im Kofferraum meines Autos lag eine zweite Flasche Schnaps, damit ich Trinkdruck als Ursache für eine Besorgungsfahrt mit dem Auto ausschließen konnte.
Einmalige Regelverstöße blieben sanktionsfrei. Wiederholte Regelverstöße sollten geahndet werden. Drei Regelverstöße zwangen zum Studienabbruch aus ethischen Gründen und zum sofortigen Besuch des Hausarztes für therapeutische Maßnahmen. Drei Regelverstöße, wenn auch nicht in Folge, bewiesen in meinen Augen fortgesetzten Kontrollverlust. Der war aus vielerlei Gründen nicht hinnehmbar.
Sanktionen bei Regelverstößen. Das kontrollierte Trinkprojekt brauchte Konventionalstrafen für Verstöße. Nur dann macht die Evaluation Sinn. Jede Abweichung von den Trinkmengen, die nicht vor dem Trinken festgelegt wird, sollte geahndet werden. Strafen verstärken die Sensibilisierung für Regelverstöße. Regelverstöße werfe ich mir als persönliches Versagen vor.
Ein einziger, einmaliger Verstoß sollte toleriert werden. Um Missverständnisse auszuschließen waren die Trinkmengen vor Beginn des Trinkens zu portionieren. Diese Regel gab mir Sicherheit. Mit dieser Regel war ich mutiger das Projekt durchzuziehen. Letztlich besiegelt wurde die Entscheidung durch ein leichtes Hochgefühl, hinter dem sich ein gewisser Stolz versteckte über die Macht in mir, dass auch so locker umzusetzen. Ich sah durch die Regeln und ihre Umsetzung das Vertrauen in meine Glaubwürdigkeit unterstrichen. Auch als Kind habe ich mich in ähnlicher Weise kasteit. Wer konnte nach dem Trinkprojekt noch behaupten, dass ich einer Verharmlosungstendenz oder Unschuldsfantasie erlegen war? Denen konnte man nur noch ein: ‚Dilettanten olé‘, an den Kopf werfen. Die zu erwartenden Projektergebnisse konnte man doch nur mit ideologischer Absicht abtun. Diese Möglichkeit würde trotzdem weiterhin als reale Gefahr bestehen bleiben, weil sich Gutachter weiterhin überwiegend von ihrem Gefühl aus anderen intensiveren Erfahrungen leiten lassen könnten.
Neues Wissen ist der Feind gewachsener Erfahrung. Neuen Erkenntnissen begegnet man gerne mit Vorbehalten oder Ablehnung. Das ist eine natürliche Intuition. Das musste ich mir gerade wegen meiner großen Überzeugung bewusst machen. Mit Fakten alleine konnte ich schon in vergangenen MPU’s nicht immer überzeugen. Neben meinem Trinkprojekt war es vielleicht noch wichtiger ein Konzept zu entwickeln, das neben der akademischen Ratio die Gefühlslage der Gutachter ansprach, weil dort die Entscheidungshoheit wohnte. Das war auch bei den Veröffentlichungen von Studien auf Fachkongressen und Symposien so, die ich erlebt hatte. Manchmal amüsierten mich die Verrisse der Fachkollegen, wenn sie sachlich völlig am Thema vorbeigingen. Wieso wollten da Fachleute den Fachkollegen plötzlich falsch verstehen? Die Gründe waren immer so unwissenschaftlich, wie man es von Wissenschaftlern eigentlich nicht erwarten sollte. Emotionen waren aber nun mal stärker, wenn sie von Neid bestimmt waren oder man eine Kränkung mit allen Mitteln abzuwehren suchte, weil eine jahrelang demonstrativ vertretene Position mit dem frisch präsentierten Wissen des Kollegen nicht mehr zu halten war.
Die Strafe für Versagen sollte am Tag auf ein Vergehen erfolgen. Sie musste im nüchternen Zustand vollzogen werden, um das volle Bewusstsein der Tragweite zu garantieren.
Natürlich zog ich meine Strafrituale durch. Dafür sind sie da. Das ist schlicht eine Frage der Glaubwürdigkeit mir selbst gegenüber. Die muss mit einem Testlauf bewiesen werden. Außerdem entsteht durch Strafe ein allgemeiner Nutzen. Das war letztlich in meinem Interesse. Das entschädigte und tat gut. Und ich war es den Helden vom Klondike schuldig, denen ich schon als Kind nacheifern wollte, um wie sie zu sein. Eine Alternative zur Strafe war nicht erlaubt. Am Klondike in Alaska gab es während des großen Goldrauschs auch keine Alternative. Nicht konsequentes Durchziehen bedeutete dort ein fahrlässiges Versagen, das schnell zum Tod führte. So etwas ist unverzeihlich.
Büßen ist leicht. Diese Erfahrung brachte ich aus meinen katholischen Jugendgruppen mit, wo wir Spiele spielten bei denen der Verlierer sich geißeln musste. Buße durch Selbstkasteiung war effektiv. Meine Großeltern haben solche Versuche zur Besserung unterstützt. Ihre älteste Tochter, eine Franziskanerin, besaß sogar für besondere Bußtage eine Art Fußfessel aus Stacheldraht.
Auch beim Sporttraining konnte ich die Effizienz von Leidensfähigkeit bestätigen. Ich hatte den Eindruck, meine Erfolge waren umso größer, je mehr ich mich quälte. Wurde ich beim Sport mit einer Dopaminaussschüttung belohnt, so war das zudem eine Belohnung, die keine Schuldgefühle auslöste. Ich hatte mir das dann verdient. Das Bußziel war leichter als das Primärziel. Es war im Gegensatz zum Können nur vom Willen und Fleiß abhängig. Das kann doch jeder.
Als Strafe für wiederholtes Versagen im Trinkprojekt sah ich die Verbrennung zweier 50 € Scheine vor. Vor der zweiten Scheinverbrennung war eine Pause von fünf Minuten zu machen, damit der Schmerz die volle Stärke und das volle Bewusstsein bekommen konnte. Ein schneller Affekt um es schnell hinter sich zu bringen durfte die Aktion nicht sein. Der Schmerz sollte weh tun, nur dann konnte er gut tun, denn der Schmerz ist die Voraussetzung für den konditionierenden Effekt.
Ich war mir sicher, dass meine Regel funktionieren würde. Ich weiß wie weh es mir tut, überhaupt Geld auszugeben. Schon als Kind habe ich Geld gesammelt wie Dagobert Duck. Wenn ich mir Süßigkeiten versagte, dann habe ich den gesparten Betrag als Einnahme gebucht. Die Freude am Reichwerden beflügelte mich schon damals so sehr, dass ich erst gar nicht zur Kirmes ging, um Versuchungen zu entgehen. Dabei brauchte ich die Sicherheit durch das selbst auferlegte Kirmesverbot nicht wirklich, weil schon der bloße Gedanke an eine Einnahme glücklich machte.
Durch mein ausgeklügeltes Verfahren konnte ich mir zeigen, dass ein funktionierendes Sicherheitssystem bestand aus konsequenter, folgenschwerer Evaluierung. So konnte ich vielleicht Regelverstöße schönreden oder irgendwie entschuldigen, aber ich konnte den Konsequenzen meines schriftlich, fixierten Vertrags nicht entgehen. Drei Verbrennungen bzw. Regelverstöße zwangen den Arzt aufzusuchen, weil sie Beweis wären dafür, dass ich mein Trinkverhalten nicht kontrollieren kann. Ein nicht erfolgter Arztbesuch wurde als endgültiger Regelverstoß gewertet und als abschließender Beweis für Kontrollverlust.
Alkohol durfte nur mit einem bestimmten Portemonnaie gekauft werden. Das Geld war abgezählt und eingeschlagen in einen Beipackzettel für Acomprosat einem Therapeutikum gegen Alkoholabusus. So sollte sichergestellt werden, dass nur dieser geringe Betrag ausgegeben wurde. Das limitierte die kaufbare Alkoholmenge. Diese Methode hatte sich schon bei mir im Grundschulalter zur katholischen Fastenzeit bewährt. Damals reduzierte ich so den Genuss von Süßigkeiten. Auch konnte ich den Genuss bereits gekaufter Schokoladen ausschließen, wenn ich sie in meine Kinderbibel steckte.
Jeden Tag war ein Protokoll zu schreiben. Angehängt war eine Checkliste. Oberster Eintrag war die Anzahl der Alkoholfahrten. Damit ich erst gar nicht in Versuchung kommen konnte mir weiteren Alkohol spontan zu kaufen, bevorratete ich immer eine Menge, die größer war als die tägliche Konsummenge. Das war somit auch ein Test, ob ich einer Versuchung zum Weitertrinken widerstehen konnte. Meine Angst vor Kater und dem Horrortrip durch eine Überdosis halfen diesen Test zu bestehen.
Um zu verhindern, dass ich in meiner Freizeit nur noch trank, legte ich Sporteinheiten und Regeln für den Haushalt fest. Ich musste z.B. benutze Gläser und Geschiere nach Gebrauch sofort spülen. Genau festgelegte Putzregeln bestimmten den Reinigungsplan. Pflichten durften durch das Trinken nicht vernachlässigt werden.
Mit diesem Konzept konnte ich guten Gewissens anfangen, die Wartezeit auf die Rückkehr meiner Familie zu verbringen und den schwer auflösbaren Schmerz über gutachterlichen Unwillen verwinden. Sie hatten sich trotz ihrer Expertise geweigert, eine qualifizierte Prognose für ein Individuum zu treffen. Mein Projekt kam einer echten Studie nahe. Alle Elemente waren bekannt und erprobt, neu war nur die Kombination. Insgesamt gesehen war das also eine Aufgabe, die zu schaffen war.