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MPU – der erste Versuch. Die Suche nach der Trinkhistorie

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Im Untersuchungszimmer empfing mich ein älterer Herr mit graumeliertem Haar. Von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch grüßte er korrekt und zeigte auf den Stuhl vor mir. Die Geste war eindeutig. Also setze ich mich und lege meine Arme auf den Schoss. So deutete ich an, dass ich bereit war und auf ihn wartete. Nach den Fragen nach Name, dokumentierter Labordiagnostik, Gewicht, Größe und Medikamenten, die dauerhaft genommen wurden, stand er auf, um mir die Manschette zum Messen des Blutdrucks anzulegen.

„124 zu 66, Herzfrequenz 78“, las er das Ergebnis vor: „Das ist doch ein guter Anfang. Sie sind entspannt.“

Ich nickte freundlich und dachte dabei, dass das Ergebnis nicht auf Entspannung hinwies. Ich fühlte mich deutlich angespannt. Die gleichen Werte maß ich auch kurze Zeit nach dem Joggen. Ich benutzte einen Herzfrequenzmesser und ein Blutdruckmeßgerät zur Leistungskontrolle. Meine Trainingsziele legte ich damit fest. Zu jeder Strecke und Geschwindigkeit gehörte immer ein passender Frequenzbereich. Meine im Ruhezustand gemessenen Werte lagen normalerweise so bei 105 zu 55.

Dieses Beispiel gleich zu Anfang war symptomatisch für ein Prinzip, das sich durch alle MPU’s zog. Jedes Ereignis wurde in einen möglichst verbindlichen Zusammenhang gestellt, der den Absichten der Gutachter diente. Wahrscheinlich suchte der Arzt nur einen freundlichen Einstieg in die Untersuchung. Natürlich war seine Interpretation des Messergebnisses eine mögliche Erklärung. Sie war aber in diesem Fall falsch. Ich erlebe das häufig, wenn Ärzte einen leicht erhöhten Blutdruck als unbedenklich interpretierten aufgrund des <Weißkitteleffekts>. Das war eben eine wahrscheinliche Möglichkeit. Ohne Berücksichtigung meiner Trainingseffekte war die Aussage des Arztes aber voreilig. Meine Ruhefrequenz ist niedriger, das weiß ich auch von meinen Hausarzt.

Was hier zu Anfang der MPU so harmlos war, kann bei anderen Fragestellungen schnell zu falschen Diagnosen führen. Plausibilität im Rahmen einer gehegten Absicht ist noch kein Wissen in der Sache. Genau darin liegt der Anspruch des Verfahrens an die Gutachter, die geleitet von Routine, Bequemlichkeit und emotionalen Überzeugungen, das all zu gerne vergessen.

Es folgte die Trinkhistorie. Er machte eine Pause und betonte, dass die besonders wichtig sei. Kein Detail dürfe hier vergessen werden, sonst seien die anschließenden Berechnungen nicht exakt. Er wollte jetzt wissen, welche Mengen, welcher Sorte Alkohol wurden wie oft konsumiert. Die Angaben sollten chronologisch sein und mit dem allerersten Trinkerlebnis beginnen. Mit den Daten sollte die Entwicklung des Missbrauchs über den ganzen relevanten Zeitraum dokumentiert werden.

Ungenaue Angaben, Korrekturen und nachträgliche Ergänzungen ließen den Arzt jedes Mal mit Stirnrunzeln kurz aufblicken. Dann sah er wieder auf seine Unterlage mit dem wissenden Blick, dass seine Vorstellung von präzisen Angaben deutlich abwich von der seiner Untersuchungsperson. Bei achselzuckendem Nichtwissen auf eine Frage verkehrte sich sein Blick in Fassungslosigkeit. Er betonte dann, dass die Tragweite der Begutachtung verlange, dass der Klient sich sorgfältig mit der Genese seines Trinkverhaltens auseinandergesetzt habe.

Ich gab mir aufrichtige Mühe seiner Forderung gerecht zu werden und schilderte alles was mir einfiel so genau wie möglich. Ich fing also bei meinem ersten Bier als Wahlhelfer bei einer Landtagswahl an. Ich nannte zwei Pils zu je 0,3 l. Weitere Alkoholereignisse aus meiner Jugend gab es nicht. Der Arzt war überrascht und bat mich nochmals nachzudenken, denn das sei sehr ungewöhnlich. Mir fiel seine Art auf, wie er ungewöhnlich betonte. Es klang fast so wie, unglaubwürdig. Jedenfalls weckte die hilfsbereite Art, mit der er sprach, mein Bedürfnis mich zu rechtfertigen.

So erzählte ich von meinen Aktivitäten im Schwimmverein, im Ruderclub und auch im Tauchclub. Ich erwähnte die Klavierstunden in der Musikschule und das ich lange Kontrabass in einem Jazzquartett gespielt hatte. Ich vergaß natürlich nicht die Wochenenden anzuführen, die ich mit Kadertraining im Landesleistungszentrum und mit Wettkämpfen verbrachte. Da sei für andere Aktivitäten weder Zeit noch Interesse gewesen.

Meinen ersten und einzigen Disco-Besuch hatte ich dann auch später erst, während meiner Bundeswehrzeit. Er blieb alkoholfrei. Der Aufenthalt dauerte eine knappe Stunde. Dann hatte ich es nicht länger mit den Leuten ausgehalten, die mich mitgenommen hatten und war gegangen. Das war auch auf Jahre mein letzter Disko-Besuch.

„Was war los mit den Leuten“, kam die Nachfrage. Ich sagte, dass ich als Eigenbrötler ganz allgemein ein Problem in Gruppen hatte, mit denen ich kein explizites Interesse teilte. Solche Situationen machten mich erst immer unsicher, weil ich nicht recht wusste, worüber ich reden sollte. Später langweilte ich mich und verabschiedete mich halt.

Bei der Bundesmarine kam ich das zweite Mal mit Alkohol in Berührung. Ich kam nach meiner Ausbildung nach Wilhelmshaven auf eine Fregatte. Mein Maaten-Deck war unter Eingeweihten das Partydeck. Es gab einen Fernseher, Videoanlage und Hi-Fi. Bier wurde großzügig <gebunkert> (gelagert). Die umfangreichen Whiskybestände stammten aus dem bordeigenen Duty-free-Shop, den es bei jeder Seefahrt zollfrei zu erstehen gab. Es war ein Privileg hier eingeladen zu werden. Das wurde mir gleich zu Anfang gesagt. Und das ich besonderes Glück habe, dass hier meine Koje sei. Gelegentlich waren auch Bordfremde dabei. Bei besonderen Gästen wurde schon mal der hintere Teil des sehr langgezogenen Decks abgetrennt für Poker-Vergnügungen.

Der Umgangston war großspurig aber auch empfindlich gereizt, wenn es um Politik ging. Ich habe schnell angefangen diese Gemeinschaft zu meiden. Das war schwer, denn hier befand sich ja meine Koje. Dieses Deck war jetzt und für geraume Zeit mein Zuhause. Also saß ich da mit ihnen am liebsten in zweiter Reihe und nuckelte lange an meinem Bier. Zu feiern war mir absolut nicht zumute. Schon bald eröffnete mir der Decksälteste, dass ich monatlich 300 DM in die Deckskasse einzahlen müsse. Das war mir dann der Unterstützung dieser makabren Gemeinschaft zu viel. Mein im Nachhinein naiver Einwand in diesem Umfeld, die Summe übersteige meine monatlichen Zuwendungen für Amnesty International und Greenpeace zusammen, und sei deswegen moralisch unverhältnismäßig, löste einen Eklat aus.

Ich wolle doch nicht ernstlich die Harmonie dieser wunderbaren Kameradschaft stören? Streitigkeiten und Handgreiflichkeiten nahmen zu. „Sind wir dir nicht gut genug? Du trägst Brille. Hast du etwa Abitur“, lästerte der Decksälteste eines Abends: „Klugscheißer, Weltverbesserer, <Bolschewikenpack> und andere <Fotzen> haben hier keinen Platz.“ Die anschließende Schlägerei besiegelte meine Mitgliedschaft in diesem Verein, nicht aber meinen Schlafplatz. Die fortgesetzten Ausschreitungen machten meine vorzeitige Versetzung notwendig. Meine Verhaltensdefizite mich in eine Bordgemeinschaft zu integrieren waren der allseits gefühlte Grund. Im Ernstfall, damit war der Verteidigungsfall gemeint, könnten sich die Kameraden dann nicht auf Leute wie mich verlassen. Ich sei gar schlimmer als ein Feind, weil Typen wie ich den Kameraden in den Rücken fallen.

Nun fragte der Arzt, der mucksmäuschenstill zugehört hatte: „Und wie viel Alkohol haben sie in dieser Bordzeit genau getrunken?“

„Über einen Zeitraum von vier Wochen etwa zwanzig Flaschen Bier (0,5 l) gab ich zu Protokoll.

„Wirklich nicht mehr, da wurde doch auch Hochprozentiges getrunken?“, fragte er weiter.

„Man hatte es immer wieder versucht, weil das zur Initiation in der Gemeinschaft dazugehörte. Sie hatten sogar manchmal Whisky in meine Kola gegossen. Getrunken habe ich das nie“, erklärte ich: „Ich konnte gar nicht, selbst wenn das dann Stress gab. Das war mir einfach zu blöd.“

Wie konnte ich das erklären? Ich sah mich gefangen in einer Schublade. Dabei war ich schon in der Schule ein Sonderling, der nicht mit den anderen konnte. Man korrumpiert sich nicht mit einer Decksgemeinschaft, deren Druck einem zu wider ist. Die Pflicht zu allgemein, menschlicher Sympathie beim Bier viel schon schwer genug.

„Haben sie vielleicht am Anfang, als die Umstände noch entspannter waren mitgetrunken?“

Meine Antwort war ein klares: „Nein.“ Der Arzt druckste ein wenig herum und sagte dann: „In Gemeinschaften können unter Umständen starke soziale Zwänge herrschen, denen man sich nur schwer widersetzten kann. Überlegen sie doch mal genauer, ob sie was vergessen haben.“

Wie er mich so anschaute, dämmerte es mir. Er wollte mir helfen. Er tat sich schwer mir zu glauben. War das nicht schon der zweite Hinweis, dass mit meiner Trinkhistorie bereits am Anfang seiner Untersuchung etwas nicht stimmte? Bei meinen Angaben zur Jugendzeit hatte er doch auch schon skeptisch nachgefragt. Als ich mit einer Antwort zögerte, fragte er nach: „Wenn sie auf ihre Aussage in dieser Form bestehen, trage ich das natürlich so ein.“

Naja, beschwören konnte ich es nicht. Wie genau war eigentlich meine Erinnerung nach so langer Zeit? Ich hatte mehrmals ein Glas Whisky in der Hand gehabt. Versuchte ich unbewusst zu verharmlosen? Er glaubte mir doch nicht. Das war offensichtlich. Also erwähnte ich, dass man mir mehrmals Whisky eingeschenkt hatte und dass ich möglicherweise davon auch getrunken hatte.

„Na also“, sagte er zufrieden: „Jetzt sagen sie mir nur noch wie viel das genau war.“

Ich spürte, jetzt musste ich Daten liefern, um seine Zufriedenheit zu erhalten. Ich merkte, dass selbst zu hohe Angaben akzeptiert würden. So erzählte ich von 1-2 Whisky Kola pro Abend bei insgesamt vielleicht 8-10 Feier-Abenden. Ich war mit meiner Hochrechnung nicht zu frieden. Ich konnte mir das nicht wirklich vorstellen. Meine Bedenken wurden vom Arzt zerstreut, der nach den Angaben plötzlich eine Spur freundlicher wurde.

Wie es weiterging, wollte er wissen. Ich wiederholte leise die Frage und sagte dann: „Es gab da nach meiner Versetzung noch einige offizielle Anlässe, bei denen ich Bier trank. Pro Ereignis etwa 2-3 Biere (0,3 l) insgesamt etwa 8-10 Gläser im verbleibenden eindreiviertel Jahr meiner Dienstzeit. Einmal wurde dabei auch Sekt gereicht, aber das Glas mochte ich nicht auf trinken. Jemand sagte zwar <extra dry> sei cool. Meine Geschmacksknospen beeindruckte das aber nicht.

Als ich in einer neuen Verwendung über die Jahreswende Wache hatte bis zum Silvestermittag, da hatte ich von dem Whisky getrunken, den ich noch aus dem Duty-free Verkauf bei meinem Bordkommando besaß. Ich trank etwa 0,4 l. Ein Drittel des Flascheninhalts hatte ich vorher ausgekippt. Das schien mir eine Präventivmaßnahme zu sein, um Kontrolle zu garantieren. Ich hatte schließlich keine Erfahrung mit hochprozentigen, alkoholischen Getränken.

Danach habe ich keinen neuen Whisky gekauft. Dieses Trinkereignis machte schlimmsten Kater und hätte mich tags darauf fast um ein ganz besonderes Surferlebnis gebracht. Der Trinkabend selbst endete frühzeitig mit Schlaf. Das Ereignis und seine Folgen empfahlen sich nicht, so etwas in nächster Zeit zu wiederholen. Für die nächsten Jahrzehnte mied ich alle alkoholischen Getränke außer gelegentlichen Bieren in offiziellen Situationen.

„Sie haben nach ihren Alkoholerfahrungen an Bord monatelang mit einer Flasche Whisky im Spint gelebt und diese nicht konsumiert?“, fragte er mit ernstem Blick nochmal nach: „Und nach diesem Ereignis haben sie auf Jahre nicht mehr Hochprozentiges getrunken? Entspricht das wirklich den Tatsachen?“

„Richtig“, war meine unsichere Antwort. Ich konnte doch nicht jeder Aufforderung zur Lüge nachgeben, auch nicht wenn seine Betonung von wirklich eindringlich war. Meinen Bierverbrauch während meiner Restdienstzeit gab ich nach einigem hin und her mit 2-3 Flaschen (0,5 l) pro Quartal an. Sicher war es weniger. Ich saß doch nie mit jemandem noch im Unteroffiziersheim oder der Offiziersmesse zusammen. Woher kam meine Unsicherheit? Ich wusste doch, dass ich weit weniger getrunken hatte als ich jetzt angab und auf dem Partydeck bestimmt keinen Whisky getrunken hatte.

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Nach dem Bericht über meine Bundeswehrzeit stellte der Arzt fast keine Zwischenfragen mehr. Er ließ mich plaudern und machte nur ab und an ein paar Notizen. Hatte er alle Hoffnung für mich aufgegeben? Dementsprechend ausführlich wurde ich. Ich wollte mich irgendwie entschuldigen, ihm nicht weiterhelfen zu können. Ich bekam dabei den Eindruck, ihn unterhielt meine Geschichte.

Während meiner anschließenden Unizeit gab es weiterhin keine Situationen, in denen Alkoholkonsum üblich oder gar zwingend war. Verbindungen und Burschenschaften kannte ich nur vom Hörensagen. Gerade in Gemeinschaft hasste ich den Gedanken berauscht zu sein. Meine wenigen Freunde machten mir nüchtern Spaß. Nur so konnte ich sie ungetrübt und pur erleben. Nur dann war ich für sie authentisch. Nur dann konnte man was unternehmen. Und mich interessierten nur Freunde, mit denen ich ein Interesse teilen konnte, wie z.B. im Schwimmverein oder dem gemeinsamen Musikspielen. Sollte sich das ändern, dann müsste ich mir neue Freunde suchen. Freunde oder Freundin schöntrinken war mir keine Alternative.

Dafür erlebte ich in ihrer Gesellschaft Dinge die viel mitreißender waren. Zum Beispiel Liebe. Etwa ein Jahr nach meinem Vordiplom hatte ich zum ersten Mal eine Freundin. Das schöne war, das alles ganz langsam ging. So wurde ich nicht von Gefühlen überrollt. Schritt für Schritt lernten wir uns besser kennen und jeden Schritt genoss ich, weil ich ihn erleben konnte, ohne dass Leidenschaft mir die Sinne raubte. Gerade weil diese Beziehung sich so bedächtig aber stetig entwickelte, war jede neue Kleinigkeit eine Sensation, die in ihren vielen unscheinbaren Details so durchdringend war. So wuchs stetig, sich manchmal auch etwas rückversichernd, was über Jahre hielt. Ich mochte diese schwärmerische Liebe, die rein und ungefährlich war. Sie konnte leidenschaftlich sein und blieb doch unverbindlich. Sie kannte weder Geschlechtskrankheiten noch ungewollte Schwangerschaften. Und für jeden Schmerz fand ich ein tröstendes Versmaß. Mit Carmen mochte ich an nichts anderes denken, als permanent ihre Nähe zu teilen. Selbst das Lernen für Klausuren erledigte ich meist nur noch in ihrer Gegenwart. Jede noch so nichtige Tätigkeit wurde der Hit, wenn es an ihrer Seite geschah. Bei soviel Liebe hatte Alkohol keinen Platz. Erst recht nicht, als die Libido doch noch zum Orgasmus führte.

Eine Menge Menschen haben mich in dieser Zeit geradezu begeistert und zwar in vielfältiger Hinsicht: fachlich, politisch, sportlich oder kulturell. Mein Mitbewohner Gerd konnte mich Nächte lang in Andacht versinken lassen, wenn er theoretische Physik verständlich erklärte. Seine kosmologischen Bilder, die er aus Worten zeichnete, waren herrlich. Ich liebte seine geradezu pathetischen Statements, dass wir aus der Erde und somit aus den Trümmern einer Supernova hervorgegangen sind. Dieser Gedanke vom Menschen als sublimiertem Sternenstaub war so wunderbar transzendal. Alkoholisiert hätte ich die mathematisch-physikalischen Grundlagen mit Ausflügen in die Quantenmechanik nie verstanden.

Eine zentrale Rolle spielte der Uni-Sport. Selbst Fallschirmspringen war möglich. Die Gelegenheit musste ich nutzen. Später konvertierte ich allerdings zu den Gleitschirmfliegern. Das lag mir mehr. Ich liebe dieses Gefühl von Harmonie mit den Elementen. Das kannte ich schon vom Segeln und Surfen. Gerade die ersten Male fühlte ich mich schon am Start mit dem Gleitschirm wie Otto Lilienthal, der als erster Mensch auf einem Hügel bei Berlin das Fliegen lernte. Das Gefühl ohne Motorkraft, sondern allein mit der eigenen Muskelkraft den Boden unter den Füßen zu verlieren und ins Fliegen überzugehen war großartig.

Besondere Highlights waren immer wieder Flüge in der Thermik oder im Aufwindband eines Berges. Hier hatte die Luft Balken und es trug mich immer höher, genauso wie die Bussarde, von denen gelegentlich einer vorbeischaute. Im Pustatal in Südtirol kam ein Greifvogel von unten in meinen Aufwindbart geflogen und passte seine Kreisrichtung der meinen an. Nach zwei Kreisen hatte er aber schon ein so starkes Steigen, dass er bereits deutlich über mir flog. Zwei weitere Minuten vergingen und der Vogel war bereits so hoch, dass ich ihn nicht mehr ausmachen konnte. Ich werde nie vergessen, dass er seine Drehrichtung der meinen angepasst hatte. Woher kannte er diese Flugregel? Auch wenn es nur ein Zufall war, ich empfand das Zusammentreffen als meine Absolution vor dem großen Thermikprofi.

Am Wichtigsten aber war Schwimmen. Jede Woche fuhr ich dreimal die im Winter besonders lange Strecke zum Schwimmbad im südlichen Zipfel der Stadt. Weder Regen noch Kälte konnten mich davon abhalten. Beim Schwimmen konnte ich mich mit Abstand am besten <auspowern> und gleichzeitig geradezu in mir ruhen. Beim Schwimmen hatte ich als Teenager meine größten Erfolge erlebt, und hier bot sich mir die Gelegenheit erneut, mich mit Gleichgesinnten für Wettkämpfe zu quälen.

Gerne erinnere ich mich dabei an eine Frau aus Wuppertal die in einem höheren Leistungskader trainierte und gerade im Sprint für mich unmöglich zu schlagen war. Herrlich auch eine ältere Doktorandin aus Spanien, die im Nationalkader geschwommen hatte und immer noch sehr schnell unterwegs war. In meinem zweiten Studienjahr waren wir dann sogar Ausrichter der deutschen Hochschulmeisterschaften. Leistungssport unter Alkohol ging nicht. Davon war ich überzeugt. Ich wollte es erst gar nicht probieren. So etwas zerstörte bestimmt meine Endorphinkicks (Endorphin ist ein Hormon, das vom Körper bei Hochleistung ausgeschüttet wird).

Neben dem Sport war Musik meine wichtigste kulturelle Aktivität. Es gab einen Jazzclub und für mich war es Ereignis genug, wenn beispielsweise ein Exbassist von Lionel Hampton oder einfach nur talentierte Studenten und ihre Dozenten der Musikhochschule aufspielten. Immer ging ich alleine zu den Gigs. Ich empfand das stressfreier. Schließlich kam ich nicht für ein gesellschaftliches Ereignis, sondern wegen des Musikgenusses. Im Schatten der Hochschule blühte eine vielfältige Szene mit den unterschiedlichsten Bands. Ich hätte gerne in der einen oder anderen Formation mitgespielt, aber ich war damals noch zu verhaltensgestört und scheu, um die nötigen Beziehungen aufzubauen. Selber spielte ich also nur zu Hause auf meinem Keyboard. Damit konnte ich jederzeit, wenn mir danach war, spielen. Nie mussten sich Nachbarn gestört fühlen, denn es ging auch leise. Und an langen, nasskalten, einsamen und melancholisch stimmenden Herbsttagen, wirkte das Instrument geradezu wie ein Antidepressivum. Dann spielte ich nach einem abgewandelten Beatles-Zitat <Play a sad song and feel better>. Tatsächlich ging dann jedes Mal die Sonne auf. Alkohol tötet die Musik selbst in einer Jazzkneipe. Schließlich wollte ich nicht nur zuhören, sondern neue Riffs und andere technische Kniffe lernen.

„Irgendwelche Alkoholerfahrungen in dieser Zeit?”

„Gelegentlich ein Bier. Das kam aber selten vor, denn meistens ging ich allein zu Jazzveranstaltungen. Andere alkoholische Getränke trank ich gar nicht. Einen leichten Rausch erlebte ich bei einem Umzug.“

Ich erzählte, dass ich einer Freundin zugesagt hatte, dass ich natürlich als Umzugshelfer mit anpacken würde. Sportlich durchtrainiert wie ich war, war ich von meinen Qualitäten als Möbelpacker sehr überzeugt. Als Belohnung für die Helfer gab es zwei Kästen Bier. Später sollten noch belegte Brötchen und Kaffee dazukommen. Wir mussten früh anfangen, weil der erste Transporter um 7:30 Uhr beladen abfahren musste. Ich packte kräftig mit an, so wie ich es angekündigt hatte. Als erstes nahm ich mir selbstverständlich die Waschmaschine vor, die ich alleine aus dem Kellerraum bis zur Treppe bugsierte. Nach etwa einer Stunde echter Maloche meldete sich mein Magen mit großem Hunger. Ich hatte morgens in Erwartung der belegten Brötchen meine Wohnung ohne Frühstück verlassen. Kein Wunder also, dass mein Magen nach harter Arbeit auf nüchternem Magen sein Recht einforderte. Nur, die belegten Brötchen waren noch unterwegs. Also fingen die ersten Helfer an von dem Kasten Bier zu trinken, der schon da stand. Naja dachte ich mir, Bier enthält doch reichlich sättigende Broteinheiten und nahm ein Bier, dass ich noch schwitzend mit einem befriedigenden Aah in wenigen Schlucken austrank. Das tat gut, meldete mein Magen sofort zurück. So nahm ich noch eine zweite Flasche und stürzte deren Inhalt etwas langsamer die Kehle hinunter. Danach ging es gleich weiter mit dem Schleppen von Bücherkisten, die unbedingt noch mit dem ersten Transport abfahren sollten. Nachdem ich zwei Kisten zum Auto gebracht hatte, griff meine Hand scheinbar unwillkürlich nach dem Treppengeländer. Ein paar Momente später erkannte ich, dass die Ursache für das schwankende Treppenhaus, in den beiden Bieren nach der Anstrengung auf nüchternem Magen liegen müsste. Kurze Zeit nachdem der erste Transporter abgefahren war, kamen tatsächlich Brötchen und Croissants und eine Kiste Mineralwasser. Ich genoss die Pause sehr und war froh, dass die bierbedingten Schwankungen schnell nachließen.

Das Hauptstudium machte soviel mehr Spaß als das Grundstudium. Es fehlte jedoch das Praktische. Deswegen nutzte ich jede Gelegenheit, mich als Hiwi zu verdingen. Ich half in chemischen oder biologischen Laboren mehrmals auch ohne dafür Geld zu erhalten. Die Projekte, die ich mit meiner Arbeit unterstützte, waren immer finanziell dünn budgetiert. Trotzdem reizte mich die ideelle Herausforderung und die Beschäftigung mit einem naturwissenschaftlichen Gegenstand. Das waren immer Aufgaben, bei denen schon der Gedanke an Alkohol störte.

Die einzige Berührung mit hochprozentigem Alkohol während des gesamten Studiums hatte ich, als ein Mitbewohner und Sammler von Single Malt Whiskys zu einer Whiskyprobe eingeladen hatte. Ich folgte aber einer inneren Stimme, die sich plötzlich meldete, diese Geschichte nicht zu erzählen. Ursprünglich hatte ich gedacht, die Geschichte sei ein gutes Beispiel dafür, dass ich auch erstklassigen Gelegenheiten, bei denen der Alkohol schon auf dem Tisch stand, ausweichen konnte.

Nach dem zweimal im Verlauf meiner Trinkhistorie Zweifel am Wahrheitsgehalt aufgekommen waren, hatte ich Bedenken, dass meine Geschichte nicht als Beispiel für kontrollierten Umgang mit Alkohol aufgenommen werden würde. Ich fürchtete plötzlich, der Schuss könnte nach hinten losgehen. Man suchte schließlich nach Hinweisen, die exzessiven Konsum rückblickend erklärten. Da war es doch mit Blick auf die Statistik möglich, dass man der Wahrheit keinen Glauben schenken wollte. Nichttrinken konnte so als Mittrinken umgedeutet werden. Alkoholiker neigten doch zu Verharmlosungen und Lügen. Aus diesen Gründen also erzähle ich nur den Lesern hier die folgende Episode. Der Gutachter hat sie nicht gehört.

Ein Mitbewohner hatte eine kleine, erlesene Gruppe zu einer Whiskyprobe eingeladen. Die kleine Runde von <Connaissieurs> gab sich sehr kompetent, zumal man einen irischen Kommilitonen für den Abend gewinnen konnte. Die Runde war recht unterhaltsam, auch weil ein Teilnehmer sich als Sammler exklusiver Zigarren geoutet hatte. Großzügig verteilte man die braunen Stangen, nannte Namen, Preise und Besonderheiten. Man trank und schmauchte und debattierte über die Bedeutung des Schluckens zur Beurteilung des <Aftertaste> in Zusammenhang mit einer Whiskyprobe. Ich wollte weder trinken noch rauchen und genoss einfach nur die Atmosphäre im Debattierklub. Das wurde so akzeptiert. Es war locker und entspannt. Ein Drängen oder gar Nötigen wie seinerzeit bei meinem Bordkommando auf dem Kriegsschiff gab es nicht. Jeder tat wie er wollte. Ich musste nichts beweisen. Meine pure Anwesenheit und meine Kommentare waren den Gästen ein vollkommen ausreichend, unterhaltsamer Beitrag.

Mittrinken mochte ich nicht, weil es so wie es war gut und angenehm war. Ich versprach mir keine Verbesserung der Atmosphäre durch selber trinken. Ich behielt recht und halte diesen Abend noch heute in guter Erinnerung, ganz im Gegensatz zum Neujahrstrinken bei der Bundesmarine vor Jahren.

Für meinen ersten richtigen aber befristeten Vollzeitjob zog ich in eine neue Stadt. In meinem Institut bekam ich ein eigenes Labor und einen kleinen Forschungsetat. Das Institut, war eng mit der TU verbunden. So hatte der Direktor auch eine Professur am dortigen Fachbereich. Die enge Kooperation mit der TU brachte es mit sich, dass unser Doktorandenlabor mit Biologen, Chemikern und Pharmazeuten von der TU besetzt war. Alle zusammen suchten wir im Stoffwechsel von Bakterien und ihren Mutanten nach Sekundärmetaboliten die pharmakologisch interessant waren. Die Chemiker und Pharmazeuten analysierten die Strukturformeln interessanter Moleküle und stellten Derivate her. Die Biologen untersuchten die Produzenten dieser Moleküle hinsichtlich der genetisch relevanten Mechanismen für den Produktionsprozess.

Es war immer mal notwendig, auch spät abends laufende Versuche zu betreuen. Man war auch dann selten allein. Oft traf man auf Grüppchen, die manchmal verstärkt waren durch Mitarbeiter anderer Abteilungen. Unter den Pharmazeuten war es besonders lustig. Das lag daran, wie ich schnell erfuhr, dass die ab und zu Zaubertränke brauten. Die genaue Rezeptur habe ich nie erfahren, denn das geheime Wissen durfte nur von Druide zu Druide weitergegeben werden, also von Pharmazeut zu Pharmazeut. Sicher weiß ich nur, dass es alkoholische Getränke mit sehr hohem Alkoholgehalt waren, wobei man aber den Alkohol geschmacklich wohl kaum wahrnahm. Die Zaubertränke rochen wenigstens nicht nach Alkohol. Immer wieder weilte ich bei ihnen, um technische Details zu klären. Immer dann, wenn sie die Druidenrolle einnahmen, verabschiedete ich mich aus ihrem Kreis ohne in den Genuss ihrer Braukünste zu kommen.

„Woran lag das?“, kam eine der wenigen Zwischenfragen.

Ich überlegte kurz und erklärte, dass Ich einfach keine Betrunkenen um mich herum mochte, auch nicht wenn sie nett waren. Dafür saß der negative Eindruck von meinem Borderlebniss bei der Bundesmarine zu tief. Außerdem würde mich der Gedanke nervös machen, wenn ich betrunken wäre, mit anderen kommunizieren zu müssen. Ich weiß doch nicht wie ich wirke. Ich würde mich peinlich fühlen und fürchten, dass ich vom Geschehen nur die Hälfte mitbekäme. Der Gedanke allein machte mir Unbehagen. Ich möchte sympathisch wirken und will das bisschen Witz und Schlagfertigkeit, über das ich verfüge, nicht verlieren. Alkoholisiert in Gesellschaft mag ich mich nicht vorstellen. Wie sieht das denn aus? Warum sollte ich mich sowas Unangenehmen aussetzen?

Manches Mal habe ich Stunden später, wenn ich im Bett neben meiner Freundin lag, einen zweiten Grund entdeckt, warum das wohl die richtige Entscheidung war und mich noch etwas näher gekuschelt.

Auch bei dieser Episode habe ich kurz gezweifelt, ob ich sie erzählen sollte. Der Grund war wieder der Gleiche: Alkoholiker können nicht mit Alkohol kontrolliert umgehen. Diesmal tat ich es aus drei Gründen. Zum einen hoffte ich, die wartende Freundin und ein normaler Sexualtrieb würden den Verzicht auf Alkohol glaubhaft erklären können. Zum anderen war doch klar, dass ich als Laborleiter nicht tun konnte, was bei Doktoranden leicht durchging. Wenn sich Alkoholkonsum bei der Arbeit rumsprach, konnte das äußerst unvorteilhaft für mich enden. Und drittens trank ich noch gar nicht regelmäßig und in großen Mengen.

Darauf folgten kleine Temp-Jobs einer Londoner Vermittlungsagentur für Zeitarbeit. So kam ich zu einer Montagetätigkeit für einen Fermentationsreaktor in Algerien. Die Arbeit ruhte zwischendurch für fast eine Woche, wegen logistischer Probleme. Fernab menschlicher Siedlungen in einem Industriepark mit überwiegend chemischen Anlagen und ohne ein Buch dabei zu lesen, verbrachte ich die Tage meist schlafend beim Klang der Klimaanlage mit algerischem Rotwein. So machten es alle Monteure, bis auf jene, die Poker spielten. In diesen Tagen trank ich 9-10 Flaschen (0,7 l). Mit dem Geld leistete ich mir ein halbes Jahr Ferien in Argentinien und Chile. Dort habe ich maximal zehn Biere getrunken.

Der nächste Job meiner Freundin führte sie ins Ruhrgebiet. Ich folgte ihr nach, sobald ich was Geeignetes fand. So wurde ich Repräsentant für ein großes Unternehmen der Privatwirtschaft. Dies war meine erste Festanstellung. Meine Tätigkeit deckte die Bereiche: Vertrieb, Marketing und ärztliche Fortbildung ab.

Die Trinkgewohnheiten beschränkten sich über fast neun Jahre auf einige Biere bei internen Tagungen mit dem Chef und anderen Leitenden. Das entsprach der Unternehmenskultur. Ein paar Biere an der Bar des jeweiligen Tagungshotels waren in den Augen der Vorgesetzten eine ideale Möglichkeit zur ungezwungenen, persönlichen Beziehungspflege mit den Mitarbeitern. Wer sich profilieren wollte, um an der eigenen Karriere zu stricken, für den war das eine ideale Gelegenheit. Hier wurden die Netzwerke gestrickt, die über Aufstieg und Fall entschieden. Gerade deswegen schien es mir ratsam in so entscheidenden Situationen nur sehr zurückhaltend vom Genuss alkoholischer Getränke Gebrauch zu machen. Zum einen empfand ich es als untragbar, nur den Verdacht zu erwecken beschwipst zu sein, zum anderen fühlte ich mich in solchen Chefsituationen noch unsicherer, als ich es allgemein in Gesellschaft sowieso schon tat. Ich fürchtete unter Alkoholeinfluss die Befindlichkeitslage anderer nicht mehr exakt ausmachen zu können. Ich brauchte die totale Nüchternheit, um meine Angst zu bändigen, ich könnte wichtige Details zwischen den Zeilen des Gesprochenen übersehen. Die Bar nach einem Meeting war mir eine Grauzone zum Privaten. Möglicherweise wurde hier das berufliche Terrain verlassen. Ich mied diesen Ort. Hier konnte man zu leicht in Fettnäpfchen treten.

Außerhalb der Arbeit gab es gar keinen Alkohol. Meine Frau und ich verbrachten unsere Freizeit, bis auf den Teil meiner Sportaktivitäten, zusammen. Und meine Frau trank gar nicht. Unsere Kicks holten meine Frau und ich uns beim Tanzen. Salsa war eine große, gemeinsame Leidenschaft. Es gab reichlich Kurse. Jede bessere Tanzschule bot neben dem klassischen Repertoire auch Salsa an. Das besondere in einer nahen Großstadt war aber ein besonderes Tanzhaus, das staatlich gefördert wurde. Hier waren in einem alten, maroden Straßenbahndepot Tanzsäle entstanden. Das Angebot war riesig. Selbst Street Dance oder vorbereitende Kurse zur Aufnahmeprüfung für klassische Balletttänzer gab es. Die karibischen Alternativen wie Merengue und Bachata haben wir später tatsächlich versucht. Da viele Kurse auch abends stattfanden, konnten auch Überstunden uns nicht davon abhalten, dieser Leidenschaft zu frönen. Getrunken wurde nie! Und wenn, dann Wasser, denn davon brauchte man reichlich. Die Cocktailbar der Tanzparties am Wochenende waren für uns immer nur stilechte Dekoration. Cocktails bestellen, dass taten fast ausschließlich die nichttanzenden Zuschauer, die eh schon an der Bar saßen. Eine Bierfahne meiner Tanzpartnerin hätte mich gestört. Und wieso noch zusätzlich berauschen, wenn man sich jetzt schon in der karibischen Kulisse wie auf der Bühne eines großen Tanzshow fühlte. Ich musste mir hier doch wahrlich nichts schön trinken.

Ich bekam eher Angst bei dem Gedanken beschwipst die Contenance zu verlieren oder nicht mehr exakt zu führen. Bei aller Leidenschaft war ich kein Kind der Karibik. Hundert Prozent Empathie und Taktgefühl musste erst erarbeitet werden. Ich brauchte eine kleine gedankliche Unterstützung in diesem Punkt, um dazuzulernen. Das leistete in meinem Hirn nur der Neokortex, wenn er nicht trank. Denn im, auch präfrontalen Cortex genannten, Hirnteil ist unter anderem Erlerntes und Logik dauerhaft gespeichert.

Alkohol spielte erst wieder mit der ersten Schwangerschaft meiner Frau eine Rolle. Ab dem zweiten Monat stellte ich sämtliche Sportaktivitäten ein. Es begann meine häusliche Periode. Die verordnete Auszeit viel mir schwer. Langeweile machte sich breit. Ich tat daraufhin, wovon meine Kollegen sagten, dass es jeder Bundesbürger tue. Ich verbrachte meine Feierabende vor dem Fernseher mit Wein (0,7 l). Nach einer Woche erhöhte ich auf zwei Flaschen für die Dauer von vier Wochen. Dann kombinierte ich eine Flasche Wein mit einem Flachmann (Korn 0,2 l) für einen Monat. Danach trank ich täglich zwei Flachmänner bis etwa zum Ende der ersten Woche des neunten Schwangerschaftsmonats. Der Sportdruck war enorm. Und oh Wunder, ich konnte in der Trinkpause abendliches Joggen durchsetzen. Der Druck machte es möglich. Zwei Tage nach der Geburt meines Sohnes habe ich weitere vier Wochen getrunken bis zum Abflug meiner Schwiegermutter. In dieser letzten Phase habe ich zwei Flachmänner und alle 2-3 Tage zusätzlich einen halben Flachmann getrunken. Die Trinkphase mit täglichem Konsum zog sich über insgesamt acht Monate. Nach der Abreise meiner Schwiegermutter habe ich noch bei einigen häuslichen Gelegenheiten Wein getrunken, bis eine letzte Kiste mit sechs Flaschen verbraucht war. Bei jeder Gelegenheit nie mehr als zwei Gläser a 0,25 l. Danach habe ich bis zum Beginn der Dokumentation der Abstinenzzeit noch drei Biere bei privaten Anlässen (0,5 l) getrunken sowie das Chefbier auf Tagungen.

Nach einigen stillen Augenblicken, in denen der Arzt seine Aufzeichnungen nachdenklich betrachtete, fragte er abschließend: „Das waren jetzt sämtliche Angaben?“ Ich antwortete mit einem nachdrücklichen: „Ja“.

„Sie haben viel erzählt. Wir sind zwanzig Minuten über der Zeitvorgabe. Sie haben sehr kurzweilig erzählt, aber genügend Alkoholfakten sind für mich nicht dabei zusammengekommen.“

Entschuldigend sagte ich schnell, dass ich viele Hobbys und wenig Zeit zum rumhängen habe. Aktive Kicks machten einfach mehr Spaß. Die gingen so nah und wirkten lange nach. So fehle mir komplett eine pubertäre Alkoholprägung. Mein Leben wird durch andere Aktivitäten bestimmt. Am durchdringensten geschieht das durch den fast täglichen Leistungssport über Jahrzehnte. Rückblickend war ich von mir selbst überrascht, wie ich das zwischendurch ausgehalten hatte, über ein halbes Jahr die Feierabende mit TV und Alkohol zu verbringen. So etwas mag ich mir nicht zu einer Lebensaufgabe machen.

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