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Erster Teil

Kapitel 1 – Sommer 2013

Ich hatte den Passat zum ersten Mal auf dem Lehrerparkplatz abgestellt, was mir – zugegebenermaßen – irgendwie falsch vorkam. Damals hatte ich nur zwei Blocks von der Schule entfernt gewohnt und meinen Weg daher die drei vorherigen Jahre ohne Probleme zu Fuß zurücklegen können. Im Grunde hatte ich so gut wie alles zu Fuß erledigt, und das Auto reihte sich in der Nähe der Universität zu denen der Leute ein, die einen anderen, vermeintlich besseren Weg eingeschlagen hatten. An der Uni waren die Parkplätze kostenlos und weniger rar gesät, als in der Innenstadt, wo sich meine Ein-Zimmer-Wohnung befand. Der Passat stand oft wochenlang dort und jedes Mal, wenn ich mit der U-Bahn Richtung Universität fuhr, um ihn zu holen (für einen Ausflug, oder größere Besorgungen), klemmte eine billige Hochglanzvisitenkarte in der Fensterdichtung der Fahrertür mit der Aufschrift:

„KAUFE ALLE PKW, UNFALL, KILOMETER, TOTALSCHADEN – EGAL!!“

Derjenige, der diese Visitenkarte gestaltet hatte, war offenbar darauf aus gewesen, möglichst viele Schriften in vielen auffälligen Farben (darunter einige Neontöne), mit möglichst vielen Ausrufezeichen zu versehen, damit sich jeder Leser diese Botschaft mit aller Deutlichkeit zu Gemüte führte.

Jedes Mal aufs Neue schnippte ich sie – ohne schlechtes Gewissen der Natur gegenüber – einfach davon. Selbst Schuld. Die alte Bosch Batterie des Passats war in den meisten Fällen zu schwach, um den Motor drehen zu lassen oder schaffte es nur mühsam. Das wusste ich natürlich und war meist so vernünftig, den Wagen auf dem abschüssigen der drei Parkplätze für Studierende und Lehrpersonal abzustellen, sodass ich ihn im zweiten Gang anrollen lassen konnte. Das klappte ganz phantastisch und war zur Routine geworden – wohl wissend, dass ich mir auf diese Weise ohne weiteres den Katalysator hätte raustreten können. Doch das passierte nicht – und um die Spannung gleich vorwegzunehmen, es ist bis heute nicht passiert. Es war ein silbergrauer Passat GL aus dem stolzen Jahr 1987, in dem ohne Zweifel, alles besser gewesen sein musste – außer dem Handyempfang, vielleicht. Es war also das vorletzte Modell vor der großen Produktaufwertung und bestückt mit einem wundervollen 1.6l Turbodiesel mit vier Zylindern, der trotzdem recht ruhig lief. Es war ein fabelhafter Wagen, der mich nie im Stich gelassen hatte. Für viele klingt es komisch, mitunter obskur, wenn man über Automobile redet, als hätten sie tatsächlichen Einfluss auf unser aller Leben, als wären sie ein Teil davon oder würden sogar zur Familie gehören. Für die meisten Leute ist ein Auto nur ein Mittel zum Zweck, das – wenn man all seine Erledigungen hinter sich gebracht hat – bestenfalls in der Garage platziert wird.

Ich gehörte nicht zu diesen Leuten. Für mich hatten Autos schon immer ihre eigene Ästhetik, ihre eigene Dynamik. Gottverdammt, Autos hatten für mich schon immer ihre eigene Erotik. Demjenigen, der jetzt nur den Kopf schüttelt, lege ich dringend John Carpenters „Christine“ ans Herz, in dem ein rot-weißer Plymouth Fury, mit seiner (ihrer!) betörender Form, ohne Rücksicht auf Verluste durch die dunkle Nacht prescht.

Ich liebte diesen Wagen und tue es immer noch. Das meine ich völlig ernst und es ist mir egal, wie dämlich es für manche Leute klingen mag. Er hat so einige Strapazen durchgemacht und die Fahrt zu meiner Abschlussprüfung war nur ein Stern am Himmel dieser Ereignisse.

Der Griff einer der vielen dunkelroten E2-Kisten, die auf einem blauen Metro-Rollwagen neben dem silbernen Passat standen, schnitt in meine Hand. Ein langer Grat stand hervor und machte meiner müden und schmerzempfindlichen rechten Hand zu schaffen. Die Leute, die über den Parkplatz schlurften – maßgeblich Schüler aus anderen Ausbildungsberufen und andere Passanten, die ihren Weg über den Schulhof abzukürzen versuchten – sahen mir beim Einladen zu und konnten sich womöglich nicht vorstellen, wie ich all mein Zeug in diesem Auto unterbringen wollte – Kombi hin oder her. Ich hatte Tage für die Vorbereitung gebraucht, hatte mir Checklisten geschrieben und war alles immer und immer wieder im Kopf durchgegangen. Manchmal glaube ich, dass es besser ist, wenn man nicht weiß, was auf einen zukommt. Denn wenn man weiß, was einen erwartet, treibt man sich selbst mit dieser Gewissheit in den Wahnsinn. Ich wusste selbst nicht, wie ich es an diesem trüben Morgen geschafft hatte, das Auto so zu beladen, dass alles hineinpasste und ich mir gleichzeitig keine Sorgen machen musste, von einem Plattiereisen oder einem der dicken, verschiedenfarbigen Schneidebretter erschlagen zu werden. Im Grunde war es mir egal, wie lange es dauern würde, bis ich den Wagen wieder beladen hatte, denn ich war nicht in Eile. Ein großer Felsbrocken war mir von den Schultern gefallen. Teufel, ich hatte meine Ausbildung erfolgreich beendet – ich war also tiefenentspannt, auch wenn ich noch einem Arbeitsreichen Tag entgegensah. Ich hatte drei Jahre der Tortur beendet und war nun ein freier Mann. Das mag für den ein oder anderen vielleicht banal klingen, aber es sind viele Dinge passiert, die mein Leben verändert, einen langen Schatten auf vieles geworfen haben und es zum Teil noch immer tun. Doch für diese Geschichten ist es womöglich noch zu früh. Ich möchte vorne anfangen, lange bevor ein silberner Passat in meinem Leben war, lange vor einer eigenen Wohnung, einem eigenen Leben, durchzechten Nächten und verschwitztem Sex.

***

Ich hatte das erste Mal an einem Januarmorgen in einer Restaurantküche gestanden, als ich zu meinem Schulpraktikum angetreten war. Es war ein kleines Restaurant am Stadtrand meines Heimatortes. Ein kleines Backsteinhaus, was auf Höhe der Fenster nicht mit rotem Backstein, sondern mit Sandfarbenen Klinker gebaut und dem Baustil nach zu urteilen mindestens 100 Jahre alt war, wenn nicht sogar noch älter.

Ich hatte mich zwei Monate vorher dort beworben und war offenbar auch der einzige meiner Klasse gewesen, der sich pflichtbewusst und vor allem fristgerecht um diese Angelegenheit gekümmert hatte. Martin Schwarz, ein dicklicher, hyperaktiver Junge in meiner Klasse, hatte es bis vier Tage vor Praktikumsbeginn nicht fertigbringen können, sich um einen Platz zu kümmern. Das hätte man man natürlich als erstes darauf schieben können, dass er ein fauler Hund war. Na klar, das war sicherlich einer der Gründe. Der Hauptgrund war aber vermutlich, dass er darüberhinaus auch ziemlich dumm war. Eines von beidem ist durchaus legitim, aber beides halte ich für eine schwierige Kombination. Er hatte schließlich aus Mitleid, oder anderen, mir unbekannten Gründen, einen Praktikumsplatz bei einem Bauern im Nachbarort, der ebenfalls nicht der hellste, aber dafür gottverdammt fleißig war, bekommen. Martin Schwarz war allerdings nur zwei Tage nach Praktikumsbeginn heulend in das Sekretariat der Schule gebracht worden, weil er ein Huhn hatte schlachten sollen. Er hatte ihm nach langem Zögern den Kopf abgeschlagen, dabei der Anweisung, den unteren Hals des Tieres fest zu umschließen, aber nicht Folge geleistet. Das Huhn sprang also auf und tänzelte einige Minuten durch den Stall, mit einem Blutspringbrunnen anstelle eines Kopfes.

Während Martin noch keinen blassen Schimmer hatte, dass er Bekanntschaft mit, „Mike the headless chicken“ machen würde, wunderte ich mich, dass man als Koch tatsächlich schon um 7:30 Uhr zum Dienst antreten musste. Es war nicht das letzte Mal, dass ich mich über etwas wunderte, wobei damals noch eine gewisse Neugier und Abenteuerlust mitschwang.

„Guten Morgen, Julius“, sagte der mindestens 1,95 Meter große Mann, mit einem Bierbauchansatz, in einer sehr tiefen und deutlichen Stimme.

Ich hatte den ganzen Morgen noch keinen Ton geredet und brachte deswegen nur ein Fiepen heraus, was mich ungefähr so selbstbewusst wirken ließ wie Feivel, der Mauswanderer.

Das stumme „Guten Morgen!“, ließ den Küchenchef und den Restaurantbesitzer nur einen verwirrten Blick wechseln. Ich habe damals geglaubt, dass sie bestimmt noch nie so einen Volltrottel wie mich gesehen hatten. Aus heutiger Sicht, mit einiger Menschenkenntnis mehr und Erfahrung in der Gastronomie kann ich sagen: Ja, das mag sein. Aber die Chancen stehen ziemlich gut, dass sie schon ein paar mehr menschliche Totalausfälle gesehen hatten.

Der Küchenchef, der etwas kleiner war, schien ruhiger zu sein und nur dann zu sprechen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Und ich hatte recht mit meiner ersten Einschätzung; er sprach tatsächlich nur, wenn es wirklich nötig war, dann aber unmissverständlich.

Ich hatte mir vorher bei einem Berufsbekleidungsgeschäft eine einfache doppelreihige Kochjacke gekauft und dazu einen Vorbinder und Kugelknöpfe in einem dunklen Rot, weil diese im Angebot waren. Nachdem ich mich im Trockenlager des Restaurants, zwischen Kidneybohnen-Büchsen und Cremepulverbeuteln umgezogen hatte, um wieder in die Küche zurückzukehren, wusste ich auch, warum sie im Angebot gewesen waren. Als ich die Treppe aus dem Keller in die Küche hochgegangen war, konnte ich sehen, dass mittlerweile die gesamte Küchenbelegschaft zum Dienst angetreten war. Es waren insgesamt vier Leute; der Küchenchef, der Restaurantbesitzer, der nur ab und zu kochte, wenn er Lust dazu hatte oder Not am Mann war, und zwei weitere Köche. Gemessen an ihrem schallenden Gelächter über meinen Aufzug, mussten es mindestens ein Dutzend Menschen gewesen sein. Es hatte mit einem Lachen begonnen, als sie mich nur schemenhaft erkennen konnten. Als ihnen dann das bordeauxrote Halstuch aufgefallen war, für das ich extra noch Tage vorher einen besonderen Kochknoten gelernt hatte, war es beinahe in ein Schreien übergegangen. Der Restaurantbesitzer lachte für seine Körpergröße erstaunlich hoch und hysterisch. Es wiegelte sich ziemlich auf und hatte seinen Höhepunkt, als einer der Köche zu keuchen begann, die Augen des Restaurantbesitzers feucht und aus den Höhlen hervorgetreten waren und er mit seinen riesigen Händen zu klatschen begann. Ich nahm es ihnen nicht übel; wieso auch? Es war nicht böse gemeint, das merkte ich sofort und schmunzelte deshalb auch mit, wobei ich nicht wusste, was ich falsch gemacht hatte.

„Scheiße!“, brüllte einer der Köche aus einem Lachen, konnte den Satz aber nicht sofort zu Ende bringen, da er wieder in Lachen erstickt wurde.

„Scheiße, man!“, ergänzte er, „Der sieht aus, wie aus der Tchibo Werbung!“, prustete er hinaus und trieb das Lachen nochmal zu einem kleinen Nachbeben, wie Glut, die beinahe erlischt, auflodert, wenn man sie vorsichtig anhaucht.

Ich sah wie gestriegelt aus. Übermotiviert und ordentlich, mit einem Torchon, dunkelroter Schürze, dazu passenden Knöpfen und Halstuch. Es war einfach zu perfekt. Ich sah aus, als wäre ich dem Lehrbuch entsprungen, mit einem Hauch zu viel von Allem. Ich denke, dass es sich ähnlich mit den jungen Leuten verhält, die mit ihren unförmigen Körpern für ihre Konfirmation in Anzüge gesteckt werden, mit Krawatte und Blume am Revers.

Trotz meines peinlichen Auftritts fand ich mich schnell in diesem Team ein. Die Leute mochten mich – vielleicht weil ich meine Arbeit gut machte, doch das glaube ich nicht einmal. Natürlich machte ich meine Arbeit gut, aber das tun doch die meisten Menschen, wenn man ehrlich ist. Ich glaube sie mochten mich, weil ich so war, wie ich war – und trotz aller Strapazen zum Glück noch immer bin.

Die erste Zeit war es ziemlich anstrengend und oft dachte ich mir abends, dass die Schmerzen in den Füßen und Beinen nicht noch schlimmer werden könnten. Was soll ich sagen? Es geht noch viel schlimmer als man denkt. Anfangs hatte ich nicht viel mit dem eigentlichen Küchengeschäft zu tun, aber ich merkte bald, dass alles miteinander verzahnt ist und kann aus heutiger Sicht sagen, dass es nur dann rund läuft, wenn alle Zahnräder sauber ineinandergreifen. Wenn ein Spüler seiner Arbeit nicht richtig nachkommt, kann das Restaurant nicht die volle Leistung bringen. Das stellte ich fest, als ich das erste Mal in die Spülküche musste. Ich hatte den ersten Tag nur Kartonagen auseinandergenommen und in den Mülltonnen verstaut, den Hof aufgeräumt und anschließend gekehrt, sowie im Bankettlager (eigentlich war es nur eine alte Garage) für Ordnung gesorgt. Es hatte zu nieseln angefangen und die Regentropfen klopften leise auf das halbgeschlossene Garagentor. Ich hatte eine dicke Jacke und einen Schal angehabt, wobei der Winter der Jahre 2008, beziehungsweise 2009 ein milder gewesen war. Ich hatte also nicht frieren müssen.

„Hey, Julius …“, schallte es über den Hinterhof.

„Ja?“, entgegnete ich mit der Befürchtung, etwas falsch gemacht zu haben.

„Komm ran jetzt. Und lass das verfluchte Tor, wie es ist“, schob der Restaurantbesitzer hinterher, als er mich dabei beobachtete, wie ich das Tor zu schließen versuchte.

„Es wird schon nicht reinregnen.“

Er stand in der Hintertür der Küche. Derweil hatte es etwas stärker zu regnen begonnen. Er trat einen Schritt zur Seite und ich sah ihn mit großen Augen an, weil ich erwartete, dass er mir nun mitteilen würde, was ich falsch gemacht hatte, etwas Gravierendes, dass ich meinen Krempel packen und mich vom Hof scheren sollte. Und meine bordeauxfarbenen Vorbinder dabei nicht vergessen sollte.

Ich stand im Regen, unter dem kleinen Vordach, dass mir leider keinerlei Schutz bot, da der leichte Wind den Regen von der Seite kommen ließ. Er schaute mich ebenfalls mit großen Augen an, wohl um mir zu zeigen, wie dämlich ich ihn ansah. Ich stand wie angewurzelt dort.

„Komm doch rein, verdammte Scheiße oder willst du dir den Tod holen?“

„Ach so, nein, ähm, natürlich nicht“, stammelte ich unsicher.

„Ach so, nein, ähm, natürlich nicht“, äffte er mich mit der überspitzten Stimme eines Vollidioten nach.

„Du hilfst doch viel im Haushalt, nicht wahr? Seit …“, er verstummte und schien das richtige Wort zu suchen. Ich wusste was er meinte – natürlich tat ich das, wenn es auch schon einige Jahre her war.

„Seit dem Tod meiner Mutter?“, legte ich ihm in den Mund und er war überrascht, dass ich es so unverblümt aussprach

„Ja.“, sagte er und sah betreten auf den Boden. Er war ein grundguter Typ, der allerdings von den meisten seiner früheren Mitarbeiter übers Ohr gehauen worden war. Das hatte ihn eine gewisse Grundskepsis gelehrt – was als Selbstständiger sicherlich angebracht und wahrscheinlich sogar unumgänglich ist. Ich nahm es ihm nicht übel, dass sein Ton oft zwischen harsch und laut hin und her schwang, denn ich wusste, dass er einer von den „Guten“ war, denen man im Leben begegnet. Das heißt, falls es so etwas wie Gut und Böse gibt, versteht sich.

„Wie alt bist du?“, fragte er und diesmal war es keine seiner berüchtigten Fangfragen.

„Sechszehn – beinahe siebzehn.“, schob ich stolz hinterher.

„Dann kann ich also davon ausgehen, dass du weißt wie man spült?“, fragte er und ich wusste nicht so recht, was ich darauf antworten sollte. Er hatte doch selbst zwei Kinder, nicht wahr?

„Glotz mich nicht so an, ich bin schon Leuten begegnet … Ich könnte dir Geschichten erzählen von Leuten, die sich in deinem Alter nicht mal ihre verfluchten Schuhe binden können …“

„Ja, ich weiß, wie man spült.“, entgegnete ich selbstbewusst.

„Gut, denn ich will nicht, dass du bei dem Scheißwetter draußen in der Garage bist, oder im Schuppen, auch wenn sie es gottverdammt nötig haben. Das kann auch noch ein, zwei Tage warten.“, sagte er und war dabei heilfroh, dass er das heikle Thema mit meiner Mutter irgendwie umschifft hatte.

„Da unten sind Schwämme, Spülmittel ist in dem Kanister. Der Spülmaschinendeckel wird am Griff von oben nach unten gezogen; sie springt dann automatisch an. Spülmittel zieht sie auch von selbst. Wir haben auch irgendwo Gummihandschuhe, wenn deine zarten Knabenhände die dauerhafte Feuchtigkeit nicht abkönnen“, erklärte er, wobei er bei den Worten „zarte Knabenhände“, eine tänzelnde Bewegung machte, die wohl auf gut deutsch „stell dich nicht so an, du verdammte Schwuchtel“, bedeuten sollte.

„Hast du noch Fragen? Nein? Gut, dann gib Hackengas, du hängst jetzt schon ganz schön hinterher…“

So hat alles angefangen. Ich spülte wie der Wind, nicht nur schnell, sondern auch noch ordentlich. Die verkrusteten Pfannen weichten ein (wenn auch nur kurz), die stark verschmutzten Sachen wurden vorgespült, der Rest kam direkt in einen der hellblauen Kunststoffkörbe der alten Hobart-Industrie-Spülmaschine.

Irgendwann sollte ich dann Kartoffeln schälen und als meine Kollegen sahen, dass auch das funktionierte, ohne, dass ich dabei Teile meiner Gliedmaßen verlor, durfte ich Garnelen pulen. Ich erarbeitete mir einen Ruf, der noch anhielt, als das Praktikum längst vorüber und in einen Wochenendjob übergegangen war, der manchmal schon am Freitagnachmittag begann. Ich hatte viele Tage dort verbracht und nebenbei bemerkt – für einen Siebzehnjährigen – ganz schön viel Geld verdient. Am Wochenende – wenn ich oft ganztägig dort war – arbeiteten wir im Teildienst. Ein klassisches Modell der Gastronomie, das folgende Arbeitszeiten mit sich bringt; 10 bis 15 Uhr – 18 Uhr bis Ende. Eine dreistündige Pause ist allerdings nur schön, wenn man in unmittelbarer Nähe seines Arbeitsplatzes wohnt (was ich damals glücklicherweise tat).

Eines Tages blieben der Küchenchef und ich nach dem Mittagsgeschäft während der Mittagspause in der Küche. Ich erinnere mich daran, dass draußen ein Sturm aufzog. Es war bereits sehr windig und regnete in Intervallen zeitweilig stark. Das Wetter und die Tatsache, dass es in der Küche immer etwas zu tun gibt, sorgten dafür, dass wir gemeinsam Torrone herstellten, was zum Kaffee und Espresso gereicht werden sollte. Dass es ein Stück hausgemachte Torrone zum Kaffee geben sollte, statt eines Lotus-Keks aus dem 2000er Display der Metro, war kein reiner Akt der Nächstenliebe. In Wirklichkeit hatten wir das Trockenlager aufgeräumt und dabei eine Kiste mit Beuteln voller Nüsse gefunden, die alle aufgerissen und untereinander vermischt waren. Außerdem gab es noch zwei Tetrapaks Eiweiß, die uns allen ein Dorn im Auge waren, da das Haltbarkeitsdatum an selbigem Tag verstreichen sollte. Gibt es denn eine charmantere Art seine „Leichen“ zu entsorgen, als ein Stück hausgemachte Torrone zum Kaffee?

„Hast du schon einen Ausbildungsplatz?“, fragte mich der Küchenchef, mit dem ich in der vielen Zeit nur wenige Worte gewechselt hatte. Ich hatte ein Gastronorm-Blech vor mir stehen, das mit einem Stück Backpapier ausgelegt war. Darauf lag eine zurechtgeschnittene Backoblate. Ich strich mit einem Kunststoffspatel alles glatt – und schwieg. Er stand ebenfalls vor einem Blech mit selbigem Aufbau, nur dass er bereits die obere Backoblate auf die Masse drückte.

„Nächstes Jahr, ist es doch soweit, oder nicht? Dann hast du dein Abitur doch fertig?“, schob er hinterher, wobei er das Wort „Abitur“ abfällig betonte. Wahrscheinlich aus dem Grund, weil er selbst nur einen Hauptschulabschluss erlangt hatte. Aber das war mir völlig egal und das ist es noch heute. Ich glaube es gibt nicht viele Dinge, die weniger über einen Menschen aussagen, als der Schulabschluss. Aber für ihn gehörte ich eben zur Etepetete-Schicht – zu denen, die sich als etwas Besseres sehen.

„Nein, noch nicht.“, sagte ich kleinlaut – und das stimmte. Ich war immer gewissenhaft mit allem gewesen, hatte meine Termine stets eingehalten und nur wenige Dinge vor mir hergeschoben. Wollte er denn nicht, dass ich meine Ausbildung hier machte?

„Du musst dich bei den großen Hotels in der Stadt bewerben und aus diesem Kaff hier weg. Hörst du?“, sagte er – und ich hörte auf ihn.

„Wir haben dich gerne hier, aber wir können dir bei weitem nicht das bieten, was die großen Häuser dir bieten können. Also sei schlau und bewirb dich!“

An diesem Abend ging ich nach dem Abendgeschäft nach Hause und dachte lange nach. Ich fragte mich, wie es wohl sei, aus dem verschlafenen Vorort in die Großstadt zu ziehen und fand den Gedanken plötzlich aufregend. Eine eigene Wohnung, einen eigenen Haushalt, ein eigenes Leben. In dieser Nacht klang es wie Musik in meinen Ohren. Nachts im Bett, wenn man nicht schlafen kann, sind die Sorgen und Ängste unermesslich. Die unangenehmen Dinge erscheinen uns viel schlimmer. Aber die schönen Dinge, die Träume und Hoffnungen, erscheinen uns auch viel schöner, als sie eigentlich sind. Es dauerte noch einige Zeit, aber irgendwann verloren sich meine Gedanken und ich schlief ein.

***

Ein fürchterliches Passfoto thronte in der oberen Ecke meines Lebenslaufes, der in dreifacher Ausfertigung vor mir gelegen hatte. Ich erinnere mich gut daran, dass ich beim Fototermin wie ein Schwein geschwitzt hatte, das quiekend mit einem Stock über die Koppel gejagt wird. Es wurde in der 11. Klasse aufgenommen von einem Fotografen, dessen Fähigkeiten ich schon damals als eher dürftig eingeschätzt hatte und mittlerweile der Überzeugung bin, dass jeder dahergelaufene Hobby-Spanner bessere Aufnahmen hätte machen können.

Der Gedanke, dass die Personalchefs ihre Mitarbeiter auch nach dem Foto auswählen (und ob sie das tun…), war mir nicht ganz klar gewesen. Für mich war es eher ein Akt des Pragmatismusses. Wieso sollte ich ein neues Foto aufnehmen lassen, wenn ich noch eine ganze Mappe in der Schublade hatte? Die Leute wollten sich doch sicherlich nur davon überzeugen, dass ich nicht gerade wie Cthullu aus der Geschichte von H. P. Lovecraft aussähe.

Ich hatte also das Foto aus der Schublade genommen, es eingescannt und nun schmückte es meine Bewerbungen. Wie mein erster Küchenchef mir empfohlen hatte, wollte ich mich bei den drei großen Grandhotels der Stadt bewerben.

Das Riverside Inn war, wie der Name schon vermuten lässt – das jüngste und modernste Hotel der Stadt. Es war ein eigenständiges Hotel, das unter der Schirmherrschaft einer großen, englischen Hotelkette geführt wurde, aber trotzdem einen Sonderstatus hatte. An dem Tag, als ich meine Bewerbung dort abgegeben hatte, war mir besonders die ungemütliche Lobby des Hauses aufgefallen. Es war alles sehr minimalistisch und gekünstelt modern. Es erweckte den Anschein, als wollte sich das Haus jünger und flippiger darstellen, als es eigentlich war (und jemals sein könnte). Wir werden alle nie älter als Mitte dreißig, sind völlig weltoffen und laufen jedem Trend blindlings hinterher. Die Klientel war ebenfalls sonderbar – es waren allesamt Reinkarnationen der 90er Jahre Yuppies. Ich musste unweigerlich an „American Psycho“ denken, nur, dass die Leute sich nicht mehr mit Visitenkarten übertrumpften, sondern mit abscheulichen Sneakern und Polohemden in allen Farben des „Pantone Matching Systems“. Ich mochte das Haus einfach nicht und wusste direkt, dass ich nur als Notlösung hier anfangen würde. Dazu brauchte ich die Küche gar nicht erst gesehen zu haben.

Das zweite Haus am Platz, nur wenige hundert Meter weiter die Straße entlang war das „Villa Bellvue“. Dieses Haus war von einem ganz anderen Schlag. Es war ein uraltes Haus, von circa 1860. Es war das älteste der drei Hotels und hatte den Krieg unbeschadet überstanden. Es hatte einen großen Vorhof mit Springbrunnen, der ohne Zweifel Platz für ein halbes Dutzend Autos bot. Eine majestätische Treppe aus hellem Kalkstein führte zur messingfarbenen Drehtür des Hotels. Es hatte Geschichte, ja sogar Seele. Es roch alt, ohne muffig zu wirken. Es beherbergte nicht nur eine Vielzahl von Menschen, sondern auch einen Geist – den Geist des Vergangenen. Mir gefiel das Haus sehr gut und ich freute mich auf eine Probearbeit, ganz gleich, was die Leute über den cholerischen Küchenchef sagten.

Das dritte und letzte im Bunde war das Atlantic – und es war anders, als die anderen beiden. Ich kann nicht genau sagen, was es war, doch schien das Haus von etwas Besonderem umgeben gewesen zu sein. Vielleicht ist das Wort „Aura“, das, was es am nächsten trifft. Das dunkle Vordach ragte weit über den Vorhof, bis zur Auffahrt des Hauses. Es war – obwohl es ein Stadthotel war – prunkvoll und ausladend, obgleich es weniger aufdringlich wirkte, als das Bellvue. In gebürstetem Goldton prangte der Name Atlantic auf dem Vordach. So groß und in gefühlt solcher Höhe, dass man seinen Kopf weit in den Nacken lehnen musste, um es überhaupt erblicken zu können. Ich denke, dass es dieser Februartag war, als ich mit meinen Bewerbungsunterlagen vor dem Vordach des Atlantic stand und das erste Mal bemerkte, dass Hotels – insbesondere Grandhotels – ehrfurchterregend und auf eine abstruse Weise auch nur furchterregend waren.

Einige Tage nach meiner Vorstellungsgesprächstour hatte ich drei Zusagen und noch bevor ich mich bewusst entscheiden konnte, ehe ich noch einen vernünftigen Gedanken fassen konnte, hörte ich mein Unterbewusstsein den Namen „Atlantic“ rufen. Solche Vorfälle ereignen sich noch heute und ich höre oft auf diese Stimme. Ich kann nicht sagen, dass diese Stimme immer die richtige Entscheidung für mich getroffen hat – wer kann schon aus der engstirnigen Sicht eines Menschen sagen, was richtig und was falsch ist. Ich denke aber, dass diese Stimme nicht ohne einen besonderen Grund auftaucht und oftmals Vieles auf verquere Weise doch „richtig“ ist. Manchmal muss man einen Fluss aus Scheiße überqueren, bevor man das gelobte Land betritt. Und weiß Gott – dank dieser Stimme habe ich das.

***

Ich hatte Glück im Unglück, könnte man sagen. Einen sicheren Ausbildungsplatz hatte ich, als ich die Stelle im Atlantic antrat – zu beneiden war ich trotzdem nicht.

Es herrschte ein fürchterlicher Ton in der Küche. Einen Zusammenhalt zwischen den Köchen gab es einzig und allein aus dem Grund, weil alle gemeinsam den Küchenchef hassten. Das war nicht schwer, denn er war ein jämmerliches Würstchen von Mann, der sich am Leid und Kummer anderer – gerade der Auszubildenden – ergötzte. Er gehörte zu der Generation Koch, die glauben Souveränität und Autorität damit auszudrücken, indem sie herumschreien und ausflippen, was ungefähr so effektiv ist, wie Wärter in einer Irrenanstalt hysterisch anzuschreien, dass man nicht verrückt sei. Es ist eine Generation von Köchen die – dem Himmel sei Dank – nach und nach ausstirbt. Eine Generation Küchenchefs, die glauben „zur alten Schule“ zu gehören. Das tun sie aber nicht. Sie gehören zu gar keiner Schule, denn sie sind allesamt defizitäre Schwachköpfe. Ganz egal wieviel Sterne oder Punkte sie erkocht haben. Auf der Straße, sind wir doch alles nur Menschen. Und am Ende dieser Straße sind wir alle nur Staub.

Dieser Typus Koch ist mit Sicherheit einer der Hauptgründe, warum es der Branche so schlecht geht. Na gut, aber wenn schon die Bezahlung und die Arbeitszeiten schlecht sind, dann kann man sich doch wenigstens von einem fetten Arschloch von Vorgesetzten anschreien lassen, nicht wahr?

In Zeiten von Work-Life-Balance haben die Leute keine Lust mehr, mit Bauchschmerzen zur Arbeit zu gehen. Wieso sollten sie das auch tun? Es gibt ja genug Branchen, in denen man Karriere machen kann, ohne sich von autoritären Kleingeistern anschreien lassen zu müssen.

Ich hatte die Ausbildung trotz aller Umstände und Widrigkeiten zu Ende gebracht – und das, obwohl ich sicherlich andere Wege hätte beschreiten können. Ich möchte nicht jammern, das tue ich nur sehr ungerne, denn es steht mir wirklich außerordentlich schlecht, aber eines möchte ich loswerden. Ich habe viele menschliche Abgründe gesehen. Traurig das zu sagen, denn ich habe meine Ausbildung nicht im „Gasthaus zum rostigen Anker“ gemacht. Je mehr ein gewisser Anschein suggeriert wird – dass alle Mitarbeiter zufrieden sind, dass ein tolles Arbeitsklima herrscht und dass man sich viel für seine Mitarbeiter einsetzt – desto weniger steckt dahinter. Es ist leider so, wie mit den meisten Dingen.

Ich könnte viel über die Zeit in der Ausbildung erzählen, über das frühere Hutgeschäft, in dem ich gewohnt hatte. Ich könnte Reden schwingen über „Wie komme ich über den Monat, wenn meine Ausbildungsvergütung knapp unter dem Existenzminimum liegt?“ Wirklich, ich habe viele tolle Tipps über all diese Themen, aber dafür noch einmal die Wunden aufreißen, die gerade zu verheilen beginnen? Vielleicht ein anderes Mal. Die Geschichte, die ich eigentlich erzählen will, beginnt erst viel später.

Ich hatte also diesen Höllentrip von Ausbildung vollendet. Glauben konnte ich es damals auch nicht so recht. Auf diesem Pfad hatte ich viele gute Leute das Handtuch werfen sehen. Vor der Ausbildung, während meines Praktikums, in den drei Jahren meiner Ausbildung, manche sogar lange danach. Ich hatte immer Verständnis. Ich habe nie die Meinung vertreten, irgendetwas durchziehen zu müssen. Ich habe es immer für mich selbst getan und würde nie propagieren, dass man etwas tun sollte, was einen nicht glücklich macht.

Ich habe das Kochen immer sehr geliebt und diese Liebe war stärker als jedes Geschrei, als jedweder Stress, als jede Art von Provokation und Erniedrigung. Es mag trivial klingen, aber wenn man etwas wirklich möchte, wenn man nur verbissen genug daran festhält, dann wird man es erreichen. Ich wusste damals, dass sich das Blatt eines Tages wenden würde. Ich wusste, dass ich meinem Küchenchef eines Tages gegenüberstehen würde, ihm auf die Schulter klopfen und sagen könnte: „Am Ende, mein Freund – und dessen musstest du dir doch bewusst sein – bekommt doch jeder genau das, was er verdient.“

***

Ich hatte wieder einige Minuten vor meinen Stapeln E2-Kisten gestanden und war in einen Tagtraum abgedriftet, in dem ich die vergangenen Wochen Revue passieren ließ.

Eine Kochabschlussprüfung besteht aus einem theoretischen und einem praktischen Teil. Den theoretischen Teil hatten wir (ungefähr so, wie drei Jahre zuvor mein Abitur) in einer großen Halle hinter uns gebracht. Er war wieder unterteilt, in einen fachspezifischen Teil, einen mathematischen und einen wirtschaftlichen Teil.

Kurz gesagt; Wie koche ich? Was kostet es? Was tue ich, wenn der gottverdammte Gast mich verklagt, weil er die Kotzerei bekommen hat. Das ist die inoffizielle Kategorisierung. Ehrlich!

Dieser Teil der Prüfung war kein Problem und ich machte mir keine übermäßigen Sorgen. Ein wenig natürlich schon, meinen Freunden nach zu urteilen, waren selbst diese wenigen Sorgen noch immer unberechtigt, doch war ich immer schon furchtbar nervös in Prüfungssituationen. Andererseits hatte ich im Abitur eine 18 seitige Interpretation zu Georg Büchners „Woyzeck“ verfasst, in der ich dem Leser die Mordmotive der Hauptfigur erläuterte. Das ist ganz schön stark, besonders, wenn man bedenkt, dass das Werk nur 40 Seiten zu bieten hat. Immer wenn ich mir diese Meisterleistung (die mit 15 Punkten, beziehungsweise einer 1+ bewertet worden ist) vor Augen hielt, relativierten sich meine Ängste etwas. Zumal die Fragestellungen in dieser Prüfung etwas simpler gestrickt waren.

Paul hat am Sonntag 10 Frühstücksgäste. Er hat 8 Brötchen bestellt. Laut Wochendurchschnitt isst jeder Gast 0,8 Brötchen am Tag. Kann Paul die Gäste verköstigen?

Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen. Na klar, kann Paul die 10 Gäste verköstigen. Aber soll ich euch etwas verraten? Der kleine Paule hat offenbar noch nie einen Frühstücksservice in einem Hotel hinter sich gebracht. Wenn doch, dann würde sich die verfluchte Frage nicht stellen. Die einzige Frage, die sich in Bezug auf ein Frühstück an einem Sonntagmorgen in einem Hotel stellt, ist: Ist es endlich vorüber?

Ganz gleich wie viele Gäste sich angemeldet haben, es werden mehr sein; sogar viel mehr und alle werden gleichzeitig kommen und einen Tisch am Fenster haben wollen. „Mein Tischnachbar hat ein Omelette bestellt? Ich will auch ein Omelette! Oder Eier Benedikt, Teufel, es ist Sonntag. Ich möchte Eier Florentin mit einer Nocke St. James Kaviar.“

Wenn ein Auszubildender alleine an einem Sonntagmorgen in der Küche steht und die Bonleiste knallvoll mit Omelettes, Spiegeleiern, Pancakes (glutenfrei ist doch kein Problem, oder?) und anderen Provokationen hängt, dann kann er plötzlich verstehen, warum manche Köche nur 39 Jahre alt werden.

Wenn man die Realität also ausblenden konnte, dann waren die Fragen recht simpel zu beantworten.

Der praktische Teil der Prüfung hatte meinen Nerven allerdings deutlich mehr abverlangt. Ein dreigängiges Menü, erst schreiben, dann kochen, in Bezug auf Regionalität, Saisonalität und den Regeln der klassischen Menüfolge. Klingt einfach? Es ist keine Quantenphysik, aber solch ein Menü schießt sich auch nicht gerade locker aus der Hüfte. Es gibt viele Stolperfallen und Fauxpas, die auf den ersten Blick völlig plausibel erscheinen, viel zu viele und viel zu ermüdend, um weiter darauf einzugehen. Wie gesagt; manche Wunden sollte man nicht wieder aufreißen. Besonders nicht, wenn es sich um Banalitäten wie diese handelt.

Ich hatte es geschafft, ein Menü zu schreiben und das Geschriebene auch auf den Teller zu bringen. So weit, so gut. Ich hatte es auch geschafft, die Prüfer davon zu überzeugen, dass ich meinen Beruf in den letzten drei Jahren gelernt hatte.

Sie glaubten mir das – und ich glaubte es auch, als ich neben dem Passat stand und meine Habseligkeiten, beziehungsweise die des Hotels wieder einlud, um sie an den jeweiligen Stellen abzuliefern. Wer denkt, dass er nach drei Jahren Ausbildung ein Koch ist, der täuscht sich ganz gewaltig. Dafür braucht es Erfahrung, noch mehr Schweiß und vielleicht auch noch mehr Tränen. Und von beidem hatte ich bereits Unmengen vergossen.

Doch in diesem Moment, war ich der glücklichste Mensch der Welt. Ich legte beim Packen des Autos einen Zahn zu und dachte daran, dass ich mich heute Abend mit einem Sixpack Tannenzäpfle vor meinen alten Plattenspieler setzen und den wundervollen Klängen des Albums „Born in the USA“ von Bruce Springsteen lauschen würde. Freizeit gibt es kaum noch, wenn man sich dazu entscheidet Koch zu werden und manchmal sind es die kleinen Dinge, die einen glücklich machen, wie eine alte LP, die man auf einem Flohmarkt erworben hat. Oder die Tatsache, sich ein paar Flaschen Bier einverleiben zu können, ohne daran zu denken, am nächsten Tag arbeiten gehen zu müssen.

„Pass auf dich auf…“, hatte er an jenem Nachmittag gesagt, als wir zusammen Torrone gemacht hatten und meinte es dabei auch völlig ernst. Er hatte nie besonders viel gesprochen, aber seine Worte hatten Bedeutung. Ich hatte es für eine Floskel gehalten, konnte ihren Sinn aber nun langsam verstehen. Ich würde auf mich aufpassen, ganz egal was käme. Aber ob das reichen würde?

Damals war ich mir da sicher.

***

Ich hatte wieder einmal mit eingeschalteter Warnblinkanlage in der Einfahrt des fünfstöckigen Hauses geparkt, während ich den letzten Halt meiner Tour – meine Wohnung – angesteuert hatte. Zuerst war ich zu meinem Ausbildungsbetrieb, dem Hotel Atlantic, gefahren, hatte Töpfe, Pfannen, Schneidebretter, Desinfektionsmittel und allerhand Kleinkram, wie Schneebesen, Gummischaber (gemeinhin als Gummi-Fotze bekannt) und Löffel ausgeladen. Dort hatte ich natürlich zuerst meinem Küchenchef und meiner Personalchefin die freudige Botschaft überbracht. Der Küchenchef war zunächst nicht auffindbar (wahrscheinlich machte er Bestellung oder war in irgendeinem Meeting, daher war Frau Immigrath die Erste, die von meiner bestandenen Abschlussprüfung erfuhr.

„Herzlichen Glückwunsch Julius – wir sind alle sehr stolz auf Sie. Wobei wir natürlich unter uns gesagt nicht wirklich etwas Anderes erwartet hatten.“, sagte sie mit ihrem Hotelketten-Standard-Lächeln.

Die letzten drei Jahre war mir die Schizophrenie des Hauses mehr und mehr zuwider gewesen. Vornherum war man überkorrekt, hinter den Kulissen konnte man allerdings oft nicht unterscheiden, ob man sich im Hotel Atlantic oder in der Gosse zwischen den Pennern und Landstreichern befand.

„Du siehst nicht gerade aus, als hätten deine Eltern dich gewollt.“, war der erste Satz, den ich von meinem Küchenchef zu hören bekommen hatte, als ich meine Ausbildung begann. Ich brauche den Sachverhalt nicht weiter ausführen, denke ich.

Eine Ausbildung ist kein zeitlich, sondern ein sachlich befristeter Vertrag. Viele Leute wissen das nicht und für die meisten Auszubildenden wird es auch erst gegen Ende ihrer Lehre relevant. Ein zeitlich befristeter Vertrag endet nach Ablauf der Zeit. Das klingt logisch. Ein sachlich befristeter Vertrag allerdings, endet nach Verfall des Sachgrundes. In meinem Fall; nach bestandener Abschlussprüfung. Das hieß für mich, dass mir der Dienstplan, der mich noch bis zum Ende des Monats vorsah, gegenstandslos war (und mir ziemlich an meinem verschwitzten Arsch vorbeiging, um es in den Worten des Atlantic-Back-Office-Dialektes auszudrücken).

„Julius, haben sie schon Pläne, wie es weitergeht?“

„Eines ist sicher: in diesem Laden, in dem ich wie ein Stück Vieh behandelt worden bin, werde ich nicht länger bleiben, als ich muss – zumindest nicht viel länger.“, war die Antwort, die ich gerne gegeben hätte – aber klugerweise für mich behielt.

„Ja, ich habe zwei Vorstellungsgespräche. Eines im Petit Palais…“

„Das Petit Palais im Residenz Hotel Zeppelin?“, platzte es beinahe aus ihr heraus.

„Ja“, sagte ich wortkarg und hatte eigentlich noch „Welches denn sonst, zum Teufel?“, hinterherschieben wollen, erinnerte mich allerdings daran, dass ich ja gerade „Vornherum“ war, wo man sich gegenseitig vor Freundlichkeit in den Arsch kroch.

„Oh, das ist aber erfreulich für Sie“, sagte sie und wusste selbst nicht so recht, wie sie sich dabei fühlen sollte. Es war ein Konkurrenzhotel. Wenn auch beide Häuser recht weit auseinander waren und sie sich nicht um die „normale Laufkundschaft“ stritten, waren es oft Großkunden, Scheichs und ihr Gefolge, oder Rockstars und ihre Crew, die sich zwischen den Häusern entscheiden mussten. 30 km mehr oder weniger nah am Konzertsaal machten für die meisten keinen Unterschied.

Trotzdem arbeiteten beide Häuser ab und an zusammen, man konnte im jeweils anderen Haus eine Woche ein Austausch-Praktikum machen, um andere Luft zu schnuppern. Dennoch herrschte ein angespanntes Verhältnis zwischen den Hotels.

„Dann wünschen wir Ihnen alles Gute für Ihre Gespräche. Wann würden Sie denn dort beginnen?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort sicherlich wusste. Ein kurzer Blick auf www.hotelcareer.com, hätte dafür völlig genügt.

„Am 1. Oktober im Joseph’s und 15. Oktober im Petit Palais.“, antwortete ich, so wie es von mir erwartet worden war.

„Hätten Sie nicht Lust, bis dahin weiterhin bei uns zu arbeiten? Als Commis de Cuisine. Nach Tarif bezahlt – plus Trinkgeld, versteht sich.“, erklärte sie und sah mich dabei an, als wäre sie der Grinch.

Am liebsten hätte ich ihr den Mittelfinger gezeigt und gesagt: „Wie wäre es mit dem hier, Süße?“, doch auch dies wurde von der Vernunft unterbunden. Und warum eigentlich nicht? Ich hatte meine Wohnung bereits gekündigt. Ich wollte mich eigentlich bei Freunden unterbringen, bis ich meine neue Stelle antrat. Patrick, ein Kellner den ich hier in meiner Ausbildung kennen gelernt hatte, hatte mir bereits angeboten, bei ihm zu wohnen, für die zweieinhalb Monate, die mir noch blieben. Eigentlich wollte ich in dieser Zeit von meinem wenigen Ersparten (das noch maßgeblich von vor meiner Ausbildung war…) leben und ein paar Freunden hier und da unter der Hand helfen. Ich brauchte nach diesen rasanten drei Jahren etwas Urlaub, bevor ich in einen neuen Job würde beginnen können. Aber das Geld war schon verlockend. Ich würde bei Patrick nur einen kleinen Teil zur Miete dazuzahlen, hätte also die Möglichkeit, wieder etwas mehr zur Seite zu legen, für den Umzug. Oder den Passat.

„Machen Sie mir einen Vertrag fertig …“, sagte ich unvermittelt. „Ich gebe Ihnen die Tage Bescheid.“, antwortete ich und beendete das Gespräch damit im Grunde auch. Danach kamen nur noch einige Plattitüden, bis ich mich wieder im Aufzug befand, der mit hauchdünnem Onyx ausgekleidet war. Die Aufzugkabine hatte sicherlich mehr gekostet, als all meine Ausbildungsvergütung zusammen.

Die Aufzugtür öffnete sich mit einem leisen Glockenschlag. Ich war nun im Gästebereich, im Erdgeschoss, wo sich das Restaurant und die Onyx-Bar befanden. Als ich den Aufzug verließ, musste ich nur zwei Mal um die Ecke gehen, bis ich zu einer unauffälligen Tür mit einer Milchglasscheibe kam. Es spielte ruhige Jazzmusik und meine Schritte schienen auf dem dicken Teppich lautlos zu sein. Ich durchschritt diesen Flur eines der letzten Male, obwohl ich noch einen Monat hinter der Milchglastür verbringen würde. Irgendwie wusste ich, dass es ein Abschied war und nahm den arteigenen Geruch, den jedes Haus und jeder Ort, den man in und auswendig kennt, doch irgendwie hat, in mir auf. Ich drückte die goldene Türklinke und der Jazz verstummte. Er wurde von geschäftigem Lärm abgelöst. Die Nussbaumvertäfelungen, die zuvor bis auf Hüfthöhe die Flure geschmückt hatten, waren verschwunden, ebenso wie das gedimmte Licht. Es war erstaunlich, wie eine einzelne Tür zwei Welten voneinander trennen konnte. Auf der anderen Seite, auf der ich den allermeisten Teil meiner Ausbildung verbracht hatte, sah es nicht mehr so aus, wie man sich zunächst ein fünf-Sterne-Superior-Hotel vorstellte. Ein grelles Neonröhrenlicht erleuchtete jeden Winkel. Die Wände des gesamten Backoffice-Bereichs waren zur Hälfte dunkelgrau gestrichen, wobei man auch nicht mehr von einem flächendeckenden Grau sprechen konnte. Eigentlich war der untere Teil der Wand übersäht mit Katschen und Kratzern. Ich für meinen Teil kann mich nicht davon freisprechen, das eine oder andere Mal mit einem Leiterwagen an der Wand vorbeigeratscht zu sein. Ein schlechtes Gewissen hatte ich deshalb nie. Es war ja keine Absicht; außerdem lässt die Konzentration nach 14 Stunden eben einfach manchmal nach.

„Moin Julius …“, tönte es, während jemand – ich konnte nicht genau erkennen, wer es war – sehr zügigen Schrittes den Serviceflur entlanglief. Er zog eine Windböe hinter sich her und einige Function-Sheets und Bankett-Laufzettel flatterten an der gegenüberliegenden Pinnwand. „Moin!“, kam es reflexartig von mir zurück. Ich drehte mich um und sah zwischen all diesen Papieren einen Zettel mit der Überschrift „Zugänge und Abschiede“. Es waren einige fürchterlich ernste Bilder dabei. Sehr geschäftsmännisch und selbstsicher in einem Kellerfotostudio gemacht und schließlich mit einem Groupon-Gutschein bezahlt. Damals überkam mich eine leichte Übelkeit, als ich daran dachte, wie zuwider mir diese ganze Scheinheiligkeit doch war. Jobs und Berufe waren doch für Menschen gemacht – und nicht etwa andersherum. Gleichzeitig stimmte es mich sehr traurig, dass die meisten Menschen glauben, jemand anderes sein zu müssen, damit sie einen Job bekommen. Anstatt einen Job bekommen zu wollen, weil man so ist, wie man ist. Nach dem dritten Kai-Pflaume-Lächeln war ein Foto, das aus der Reihe stach. Es war ganz anders als die anderen und stach besonders durch die mittelmäßige Qualität und das unvorteilhafte Kermit-der–Frosch-Grinsen, hervor. Es prangte als erstes unter der Überschrift „Abschiede“. Da war ich nun, nicht zottelig, aber auch nicht gestriegelt. Ich saß einfach da, mit einem weinrot und beige karierten Hemd und blickte in die Kamera, als hätte ich kein Wässerchen trüben können. Und vielleicht war es ja auch damals so. Ich lächelte wieder, als ich mich vor der Pinnwand wiederfand. Doch das Lächeln verflog wie eine leichte Brise einer längst vergangenen Zeit.

Ich bog am Ende des Ganges rechts ab und befand mich vor einer doppelflügeligen Holzschiebetür mit Bewegungssensor. Ich hatte in den letzten drei Jahren gelernt, nicht im Weg zu stehen und wusste genau, wo ich sein musste, damit die Kellner und Restaurantfachleute ihrer Arbeit nachkommen konnten. Ich harrte noch einige Minuten vor der Küchentür aus, bevor ich schließlich den letzten Schritt tat und der Bewegungsmelder seinen Dienst vollrichtete. Der Lärm wurde lauter. Pfannen und Sautoires klapperten auf dem alten Schamottstein-Herd beim Entremetier und Steaks und Entrecôtes zischten auf dem Holzkohlegrill beim Saucier. Ich bahnte mir meinen Weg durch die Küche, die drei Jahre lang mein Zuhause gewesen war. Ich kannte jede Ecke, jeder Winkel war mir beim Putzen, das ich so oft hinter mich gebracht hatte, im Gedächtnis geblieben. Ich ging in das Büro des Küchenchefs, um mich zu verabschieden. Nie ist mir ein Abschied so leicht und auf eine nostalgische, melancholische Weise doch so schwer gefallen…

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Ich hatte tatsächlich einen Parkplatz für den Passat gefunden, nachdem ich meine Messertasche, meine Kochjacken und das restliche wenige Equipment, das ich besaß, in meiner Wohnung ausgeladen hatte. Es war Abend geworden und einige Wolken verdeckten den zuvor recht blau gewesenen Himmel. Während des Einparkens hatte ich bereits gemerkt, dass einige Regentropfen auf der Windschutzscheibe gelandet waren. Der Supermarkt war nicht allzu weit von meinem Parkplatz entfernt. Um genau zu sein, ich parkte ziemlich in der Mitte der Strecke von meiner Wohnung zu diesem. Ich fasste kurzerhand den Entschluss, meine leichte dunkelblaue Harrington-Jacke überzuziehen und das mir selbst versprochene Sechserpack Tannenzäpfle zu kaufen. Das Türschloss machte sein typisches Klacken, als ich den Hebel betätigte, um die Türe zu öffnen. Die Luft war noch recht warm gewesen, jedoch merkte man, dass ein böses Gewitter aufzog. Vielleicht bildete ich es mir auch ein, doch hatte ich das Gefühl, dass ich einzelne Tropfen abbekommen hatte, als ich den abgenutzten VW Schlüssel in das Türschloss steckte und solange darin rumstocherte, bis die Türe letzten Endes verriegelt war. Als ich gespannt Richtung Himmel blickte, war der blaue Himmel von dunklen Gewitterwolken verdrängt worden.

„Aiaiai …“, murmelte ich zu mir selbst. Selbstgespräche waren bei mir schon längst keine Seltenheit mehr. Auch wenn es meist nur Floskeln waren, war es dennoch eine Angewohnheit, die sicherlich daher kam, dass man alleine im Kühlhaus etwas suchte, das Trockenlager aufräumen musste oder seinen Gedanken im alltäglichen Überlebenskampf mit einer unterbesetzten Küche, Freiraum schaffen muss.

Meine Arbeitsschuhe waren recht unbequem gewesen und ich fühlte mich in meinen Turnschuhen, die ich mir erst vor einem Monat von etwas Ersparten gegönnt hatte, erheblich wohler. Dennoch nervte es mich, dass sie auf vielen Fußböden – so wie dem im Supermarkt – quietschten. Als ich durch die Reihen des Supermarktes schlenderte (quietsch, quietsch, quietsch!) und den stärker werdenden Regen auf den geschlossenen Oberlichtern gespenstisch trommeln hörte, überkam mich ein kleines Schaudern. Ich liebte es, wenn es regnete – zumindest, wenn die Aussicht bestand, dass ich mich in meiner kleinen Wohnung, wo es weitestgehend trocken war, verkriechen und Lesen oder Musik hören konnte.

Die Auswahl der verschiedenen Biersorten war wirklich verlockend, doch blieb ich bei meinem Lieblingsbier, mit der adretten Schwarzwaldfrau auf dem Etikett. Ich ging zur Kasse und beteuerte keine Payback-Karte zu haben und versicherte der Kassiererin, dass ich wirklich nicht daran interessiert wäre, eine zu beantragen, auch wenn mich jeden Monat tolle Prämien erwarten würden. Ich kramte die letzten 4€ aus meinem zerlumpten Ledergeldbeutel und verließ das Geschäft. Bevor ich aus dem Schutz des Vordaches herausging, setzte ich meine Kapuze auf und genoss es, ein wenig Regen in mein Gesicht zu bekommen.

Als ich im Flur des Altbauhauses stand, das den Krieg fast unbeschadet überstanden hatte, war der Schauer bereits zu einer Art Sturm geworden und ich hörte dicke Regentropfen, sowie Laub und Äste gegen die Häuserwände schlagen. Ich war gerade noch im richtigen Moment angekommen, bevor ich schließlich mit einem lauten Schnappen im Türschloss meine Wohnungstür öffnete, um dem Ganzen zu entgehen. Wie bereits erwähnt, war es in meiner Wohnung zumindest weitestgehend trocken. Die beiden Fenster, waren nicht ganz dicht und ab und zu tropfte es durch die poröse Dichtung. Als die Fenster eines schönen Tages erneuert worden waren – das muss lange vor meiner Zeit gewesen sein – hatte man es zudem offenbar nicht für nötig befunden die Rahmen dieser fachgerecht auszuschäumen. Somit war es zumindest bei einem der beiden Fenster möglich, sich mit der glatten Hand, durch etwas bröckeligen Putz nach draußen zu wühlen. Natürlich hätte ich mich darüber beschweren können, sicherlich hätte der Vermieter diesen Mangel instand setzen müssen. Aber riskieren, dass er dafür als Retourkutsche die Miete unter einem fadenscheinigen Grund erhöhen würde? Lieber nicht. Denn dann hätte ich sie mir noch weniger leisten können, als ich es ohnehin schon konnte. Drei Jahre hatten mir diese vier Wände eine Unterkunft beschert. Aus heutiger Sicht, wäre es vielleicht zu viel gewesen von einem richtigen Zuhause zu sprechen, aber was ist es dann, wo man als Gastronom zwischen Arbeit und Arbeit seine wenigen Stunden verbringt? Mit meinen dürftigen Mitteln hatte ich die Bude ganz schön herausgeputzt, hatte es perfektioniert die richtigen Angebote aus den Kleinanzeigen herauszusuchen, hatte viel von Bekannten geerbt und war mir auch nie zu schade gewesen, das ein oder andere Teil vom Sperrmüll mitzunehmen. Manchmal muss man sich selbst helfen. Oder wie es einer der größten Rockstars aller Zeiten zu sagen pflegte: „When it comes to luck – you make your own …“.

Dieser Rockstar drehte sich in Form von „Darkness on the Edge of Town“ auf dem Plattenteller, als ich meine Bierflasche an einem Wandflaschenöffner aufmachte. Das Zischen sorgte dafür, dass sich mein Mund furchtbar trocken anfühlte, so als hätte ich seit Tagen bereits nichts mehr getrunken und ich freute mich so sehr auf den Moment, in dem mich der herbe und erfrischende Geschmack, der Geschmack, den wir so oft mit „Feierabend“, oder „Geschafft“ oder „endlich zuhause“ verbinden. Ich hatte noch acht Tage bis zum Ende des Monats und somit mehr als genug Zeit, meine kleine ein-Zimmer-Wohnung leer zu räumen. Mein Vater hatte mir in einem Schuppen, den er für seine zahlreichen Hobbys, die all das umfassten, was mit zwei oder vier Rädern ausgestattet ist, gemietet hatte, einen großzügigen Platz eingeräumt. Ich hatte ihm angeboten, mich an der Miete dafür zu beteiligen, aber er hatte abgelehnt, weil er zur Zeit selbst viel zu viel um die Ohren hatte, als dass er sich um seinen alten Ford FK-1000, der bereits in viele Einzelteile zerlegt war, hätte kümmern können. Ich nahm ein Ei aus dem Kühlschrank und stellte einen Topf mit Wasser auf. Nudeln hatte ich immer zuhause, da sie günstig und lange haltbar waren. Ich hatte beim Ausmisten meines Vorratsschrankes noch ein Päckchen haltbare Sahne entdeckt und wusste, dass irgendwo in meinem Tiefkühlfach noch ein Päckchen Speckwürfel vergraben war. Ein Paket bestand immer aus zwei Blistern und ich erinnerte mich, dass ich einmal nur eines gebraucht und das zweite in den Froster geschoben hatte, weil ich bereits wusste, dass ich in naher Zukunft nicht dazu gekommen würde, es zu verbrauchen. Wenn es also nicht dem tückischen Gefrierbrand zum Opfer gefallen war, dann musste es sich noch irgendwo verstecken. Ich hatte noch ein klitze-kleines Stück mittelalten Gouda, wobei ich nicht weiß, ob er wirklich mittelalt oder er in meinem Kühlschrank eine Zeitlang einem kleinen Dry-Aging unterzogen worden war. Ich kochte die Nudeln, verquirlte das Ei mit der Sahne, Salz und Pfeffer. Die Speckwürfel die ich letztendlich, nachdem ich allerhand obskure Dinge aus dem Tiefkühlfach entnommen hatte, gefunden hatte, briet ich in einer kleinen Pfanne knusprig. Als ich die Nudeln abgegossen hatte, gab ich sie in den Topf zurück, nahm ihn vom Herd und gab meine Sauce dazu. Die Resthitze des Topfes und die der Pasta reichten aus, das Ei soweit zu erhitzen, dass es die Sauce andickte, ohne zu Rührei zu werden. Ich verrührte den vermeintlich mittelalten Gouda ebenfalls und gab die Speckwürfel darüber. Das hatte mit der klassischen Carbonara, die ich in einem meiner zahlreichen Kochbücher sicherlich ohne weiteres finden würde, nur sehr wenig zu tun.

Ich setzte mich mit diesem großen Teller des günstigen Schmauses und einem Bier auf die Couch und lauschte Springsteen. Der Regen peitschte gegen das Fenster und ab und zu tropfte es durch die marode Dichtung der Scheibe nach innen. Ich hatte einen Pullover angezogen, weil der Regen die Wohnung noch etwas abgekühlt hatte und man von einer wirklichen Wärmeisolierung ohnehin nicht sprechen konnte. Ich saß auf dieser alten Schlafcouch, die so lange mein Zufluchtsort gewesen war und diese Welt schien für einen Augenblick der schönste Ort zu sein, den ich mir hätte vorstellen können. Acht Tage hatte ich noch, um all mein Zeug zu packen, die Möbel einzumotten und alten Ballast loszuwerden. Es würde eine fabelhafte Zeit mit und bei Patrick sein und ich freute mich bereits sehr darauf. Morgen würde ich zu packen beginnen, aber der heutige Tag gehörte mir, einem eiskalten Bier und meinen wenigen Platten. Das letzte Lied der LP begann, kurz bevor die von Wolken verdeckte Sonne unterging.

„Some folks are born into a good life. Other folks get it anyway, anyhow.”

Nur ein Fremder hier

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