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Kapitel 2 – Spätsommer 2013

Die Zeit im Wacholderweg war - wenn sie auch nur von kurzer Dauer war – eine prägende. Ich hatte mein Lager auf dem Flur meines Freundes Patrick aufgeschlagen. Er hatte dort eine alte Couch stehen, die in der kleinen zwei Zimmerwohnung nirgendwo anders hatte untergebracht werden können. Sie hatte eine braune Grundfarbe, mit kleinen Rauten, die etwas dunkler gefärbt waren. Es erinnerte einen an die Muster, die man sieht, wenn man sich zu lange und zu kräftig die Augen reibt. Patrick hatte dieses Schmuckstück vom Sperrmüll nach Hause gezogen, als er nach einer durchzechten Nacht aus dem Kneipenviertel kam.

„Ist doch ein schönes Ding, oder? Ich mein, hallo, einem geschenkten Gaul und so …“, hatte er gesagt, während er sich mit dem Handballen die schwarze Brille mit den Lupengläsern hochschob.

„Was andere Leute wegwerfen. In der Türkei steht so was im Geschäft.“, schob er hinterher, als er über den löchrigen und modrigen Bezug des Sofas strich. Ein: „Nein, so was steht auch in der Türkei nicht im Geschäft“, hatte ich mir damals gespart. Warum jemandem die Freude verderben? Es war ja gut so, wie es gekommen war – mein Glück. Dieses Sofa sollte nämlich mein Schlafplatz für den nächsten Monat sein. Meine kleine Einzimmerwohnung war bereits ausgeräumt. In einer Hauruck-Aktion hatte ich alles in besagtem Schuppen meines Vaters untergebracht und in Sicherheit, bis ich erstens eine neue Stelle und zweitens eine neue Wohnung hatte.

Ich war hier, im Wacholderweg und im Grunde nur eine Nebenstraße von meiner alten Wohnung entfernt. Aus diesem Grund hatte sich der nostalgische Abschied aus meiner kleinen Behausung in der Corneliusstraße in Grenzen gehalten. Außerdem hatte ich in etwa denselben Weg zur Arbeit. Und meinen Stammkiosk konnten wir noch immer besuchen.

„Was ist denn dein Plan, für so einen schönen Sommertag wie heute?“, fragte er undeutlich, mit einer Reval im linken Mundwinkel, während er mit einem alten Kunststoffpfannenwender in einer qualmenden Pfanne rumhantierte. Er trug nur Boxershorts, weiße Tennissocken mit einem dunkelroten und schwarzen Streifen und ein ärmelloses Unterhemd. Darüber eine Damenschürze mit einer rostroten Paspelierung, die offenbar dem Haushalt seiner Mutter, wenn nicht sogar seiner Oma entsprungen war.

„Ich ähm …“, doch bevor ich überhaupt meine Gedanken sortieren konnte, unterbrach er mich. Er hatte die Pfanne wieder auf die kleine zweiflammige Gasherdplatte gestellt und war im Begriff, mir einen Kaffee einzugießen.

„Was hältst du davon, wenn wir etwas losziehen, uns an die Promenade setzen und uns zwei Sixer Radler reinzimmern. Ganz gemütlich. Und heut‘ Abend gehen wir in die Stadt und hauen uns richtig einen rein! Zwei drei Weine, dazu ‘nen Flammkuchen …“

Er goss sich ebenfalls einen Kaffee ein, holte dabei ein kleines Fläschchen Amaretto aus dem Regal, schraubte es auf und deutete an, mir etwas in den Kaffee zu gießen. Ich machte eine ablehnende Geste.

„Sicher nicht? Hm. Du weißt eben nicht was gut ist.“, sagte er missbilligend mit hochgezogenen Augenbrauen und goss sich selbst einen großzügigen Schluck ein.

Er rüttelte wieder etwas an der Pfanne um den Inhalt (waren es Kartoffelscheiben?) am Anhaften zu hindern. Er regelte die Temperatur etwas herunter, wandte mir den Rücken zu und beugte sich zum Kühlschrank nach unten, in dem sich nur einige Flaschen Bier und etwas Wurst befanden. Er furzte dabei so laut, dass ich mir ernsthafte Sorgen machte, die Gaskochplatte könnte ihn erfassen und in Flammen aufgehen lassen. Ich musste mir in Tagtraum-Manier vorstellen, wie er mit einem brennenden Arsch durch die Küche laufen und um Hilfe schreien würde, während er die Hände in die Höhe riss und dabei die Flammen an Gardinen und Möbeln verteilte. Nichts dergleichen geschah – glücklicherweise. Er stand wieder aufrecht und hatte den Überrest eines Blutwurstringes in der Hand. Sein Gesicht war von seiner Haltung gerötet und die Zigarette klebte eigentlich nur noch an seiner Unterlippe. Er hielt sich die Blutwurst direkt an die Nase, roch einige Male daran und war offenbar der Meinung, dass sie noch gut genug war, um ein Stückchen davon abzubeißen. Er machte ein erleichtertes Geräusch und zog dabei die Mundwinkel nach unten. Sie schien noch brauchbar zu sein. Es hatte etwas Hypnotisierendes, ihm dabei zuzusehen, wie er die Pelle der Blutwurst abpfriemelte.

„Jedenfalls …“, begann ich und wusste gar nicht, was genau ich eigentlich sagen wollte, wie mein Plan war. Aber ist das nicht eine Floskel, die einem alle Möglichkeiten offenlässt?

Eine bemerkenswerte Menge Rauch hatte sich an der Decke gesammelt, wobei man natürlich nicht mehr sagen konnte, ob der größere Teil von der brennenden Pfanne oder seinen filterlosen Zigaretten herrührte.

„Mein Gott, ich hab's ganz schön am Magen“, sagte er wieder undeutlich, während er versuchte, die Zigarette vom linken Mundwinkel ohne den Einsatz seiner Hände in den rechten zu befördern.

„Keine Ahnung, woher das kommt …“, schob er hinterher, als er abermals einen fahren ließ.

„Wie sieht es aus, Champion?“, setzte er erneut an.

Ich wollte tief Luft holen, um ihm zu sagen, dass ich einige Vorbereitungen für meine kommenden Vorstellungsgespräche erledigen wollte, unterlag allerdings einem Hustenanfall, der durch den immer dichter werdenden Rauch ausgelöst wurde.

„Sorry man, das ist diese verfluchte Gusseisenpfanne. Die qualmt immer wie ‘ne Esse.“, grummelte er, während er versuchte, eines der vier kleinen Küchenfenster zu öffnen. Lauter Verkehrslärm der Hubertusstraße, von der der Wacholderweg abzweigte, drang sofort ins Zimmer.

„Nicht so schlimm.“, keuchte ich.

„Eigentlich wollte ich heute meine Vorstellungsgespräche im Petit Palais und im Jacob's vorbereiten.“

„Was willst du denn da vorbereiten? Sollen wir vielleicht ein kleines Rollenspiel inszenieren? Hast du dich mal umgesehen? Hab’ ich irgendetwas verpasst? In Deutschland gibt es 27.000 freie Stellen als Commis de Cuisine und du glaubst, dass du dich mit deinem Zeugnis vorbereiten müsstest?“

„Ja, das Zeppelin ist nun mal ein renommierter Laden …“

„Na und, der Iraner-Mini-Markt ist auch ein renommierter Laden.“, platzte er heraus und seine Zigarette fiel aus seinem Mundwinkel auf das schmierige Linoleum. „‘Ne kaputte Uhr geht auch zweimal am Tag richtig. Also leck mich, sieh zu, dass du deinen Scheiß bis Zwei erledigt hast. Ist doch grad mal neun Uhr.“, sagte er, während er seine Zigarette vom Boden aufhob.

Da hatte er natürlich Recht.

„Junge, Junge, hab‘ ich einen Brand. Hast du Wasser gekauft?“, fragte er mich abermals mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Aaaaahhh“, zischte es beinahe aus mir heraus, in etwa so klingend, als hätte ich mir den Musikantenknochen angestoßen oder ein großes Glas Vanilla Coke, an einem heißen Julitag geleert. Ich hatte kein Wasser eingekauft.

„Scheißegal …“, sagte er mit einer abwinkenden Geste und sein Blick schweifte durch die Küche. Derweil quetschte er zwei Ibuprofen aus dem halbleeren Blister. Er griff nach einer der Bierdosen des gestrigen Abends, roch kurz daran, warf beide Tabletten in seinen Mund und spülte alles mit 5,0 Export aus der roten Dose herunter. Er zerquetschte selbige und warf sie neben den Mülleimer, wobei ich mir ziemlich sicher war, dass er ihn eigentlich hatte treffen wollen.

„Da waren 25 ct Pfand drauf.“, murmelte ich gleichgültig. Derlei Provokationen begleiteten uns im Alltag zuhause genauso wie bei der Arbeit.

„Was ich noch sagen wollte …“, meinte er, während er die Blutwurst über der Pfanne zerbröselte.

„Fick dich und deine beschissene Besserwisserei. Du reißt dein bekacktes Maul ganz schön weit auf, für jemanden, der bei einem Demichef de Rang auf der Couch im Flur schläft.“

„Bei einem, nach Erbrochenem stinkenden, nichtsnutzigen Demichef de Rang …“, konterte ich, mit erhobenem Zeigefinger. Ich trank einen großen Schluck Kaffee und war in diesem Moment tatsächlich glücklich. Der Kaffee war gut (wenn auch Magenverätzend stark …), eine leichte Spätsommerbrise zog durch die Wohnung und brachte frische Luft in den verrauchten Raum. Es war gerade so kühl, dass es noch angenehm war. Da saß ich, in der Wohnung eines Kellners, mit schmierigem Fußboden in der Küche, die seit einer halben Ewigkeit nicht geputzt worden war. An der Wand hing ein Poster der Band „Milking the Goatmachine“, auf dem vier Männer mit Ziegenmasken über einer Landkarte saßen und Kriegspläne schmiedeten. Das zweite Poster daneben zeigte eine tätowierte Dame, die auf ihren Knien und ihren Unterarmen lag und dem Zuschauer unverblümten Einblick auf ihre Geschlechtsteile gewährte, wobei sie ihre Schamlippen mit den Fingern spreizte, als wolle sie sagen: „Setz dich, nimm dir 'nen Keks! Es ist bequemer, als es vielleicht aussehen mag …“. Laut ihres aufgedruckten Autogramms hatte die Dame den Namen „Bonnie Rotten“, wobei ich mir bis heute nicht sicher bin, ob das wirklich ihr bürgerlicher Name war. Ich trank einen weiteren Schluck Kaffee, eine weitere Böe durchzog den Raum und das Essen roch phantastisch.

„So, mein Lieber …“, begann er den Satz, wohl eher als Floskel gemeint, denn es folgte nichts weiter. Er nahm die Kanne aus der alten orangefarbenen Krupsmaschine, die ebenfalls aus dem Fundus seiner Großeltern stammte und goss mir und sich Kaffee nach.

„Gleich geht es los.“, sagte er geistesabwesend, während er eine neue Reval aus dem Softpack kramte. Wieder nahm er die Amaretto-Flasche aus dem Regal, goss mir einen bemerkenswert großen Schluck in die Kaffeetasse (und einen erheblichen daneben), tat dasselbe bei sich und wollte die Flasche wieder ins Regal stellen, als er bemerkte, dass nur noch circa 100ml darin verblieben waren. Er hob die Flasche auf Augenhöhe, lugte über den Rand seiner Hornbrille und fasste kurzum den Entschluss, die Flasche zu leeren. Er setzte an und zog den verbleibenden Rest in einem Schluck weg.

„Aaaaahh …“, diesmal machte er besagtes Geräusch.

Ich sah ihn fragend an.

„Was denn? Ich hatte nicht vor, heute noch ein großes Blutbild machen zu lassen, du Arschgesicht.“, entgegnete er keck.

Er nahm die Pfanne von der Gasflamme und schaufelte mir mit dem Pfannenwender von dem Bauernfrühstück auf meinen Teller. Dabei war es ihm völlig egal, wo das Essen auf dem Teller überall landete. Die Tatsache, dass ich mir darüber Gedanken machte, zeigte, dass mir das „Koch sein“ in Fleisch und Blut übergegangen war. Am liebsten hätte ich irgendwo Korn gesucht (den ich hier ohne Zweifel gefunden hätte), um damit einen Lappen zu tränken und den Tellerrand sauber zu wischen.

Wir aßen gemeinsam und räumten danach die Küche auf. Ich setzte mich auf meine Couch in den Flur und auch Patrick fand erneut seinen Weg ins Bett zurück. Nach nur wenigen Minuten war er eingeschlafen und schnarchte dabei röchelnd. Ich setzte mich, deckte meine Beine mit einer dünnen Wolldecke zu (der Wind, der durch die fingerdicken Spalte unter den Türen und zwischen Fenstern und Rahmen zog, war etwas kälter geworden und für den Spätsommer schon recht frisch) und machte mich mit Patricks Laptop an die Vorbereitung für mein Vorstellungsgespräch.

Das Residenz Hotel Zeppelin war bereits im vorletzten Jahrhundert gebaut worden und seitdem das erste Haus am Platz. Ich las mir die Geschichte des Hotels wieder und wieder durch. Es war im Grunde dasselbe wie im Atlantic oder im Bellevue gewesen. Ein majestätisches Haus, vom Krieg schwer beschädigt, wiederaufgebaut. Unzählige wichtige Persönlichkeiten wurden hier beherbergt, zahllose Mitarbeiter übers Ohr gehauen. Es war das stereotype Grandhotel. Ich wusste mittlerweile, wie ich damit umzugehen hatte. Nett lächeln, herzlich und zuvorkommend sein, immer einen Schritt voraus, der perfekte Gentleman. Das konnte ich gut. Mit meinem Schwiegersohn-Lächeln würde ich sie alle um den Finger wickeln. Das war sowieso nur die Kür. Die Pflicht war mein makelloses Ausbildungszeugnis, als einer der Besten der Stadt. Eigentlich musste ich mir keine Sorgen machen, und ich tat es wirklich weniger, als ich noch vor einigen Tagen befürchtet hatte.

Als ich beim Vorstellungsgespräch für meinen Ausbildungsplatz gesessen hatte, muss ich ausgesehen haben, als hätte ich schlimmes Fieber. Ich hatte die Nacht vorher kaum geschlafen und hatte auf dem Weg zu dem Gespräch sehr geschwitzt, vor Aufregung. Mittlerweile ging ich die Dinge etwas gelassener an.

Das zweite Vorstellungsgespräch war erst in einer Woche, in einem selbstständig geführten Restaurant namens Jacob’s. Es war ein überschaubarer Laden, mit Holztischen, ohne Tischdecken und viel Schnick-Schnack. Das Restaurantmobiliar war eine bunte Mischung aus Industrial, Shabby Chic und klassischer New Yorker Bar Einrichtung. Es war eines von vielen, gerade aus dem Boden sprießenden Restaurants der „Casual Fine Dining“-Bewegung. Es hatte tatsächlich Charme. Ich hatte die Karte bereits im Kopf, würde mich um die weitere Vorbereitung jedoch erst in ein paar Tagen kümmern, damit alles frisch und neu im Gedächtnis sein würde.

Nach etwa einer Stunde Vorbereitung klappte ich den Laptop zu und lehnte mich zurück.

„Welches Bier können wir uns denn heute mal holen?“, fragte ich mich und legte den Kopf ganz nach hinten auf die Lehne. Damit würde ich mich noch beschäftigen, wenn ich wieder wach war, dachte ich und schloss meine Augen.

***

Ich erinnere mich nicht mehr genau, für welches Bier wir uns schlussendlich entschieden hatten – fest steht jedoch, dass wir welches gekauft und es – wie angekündigt – alles getrunken hatten. Wir hatten uns an den Fluss gesetzt, mit ein paar kühlen Bieren im Gepäck und guter Musik aus einem kleinen Reiselautsprecher. Ich glaube es waren die Stones, die aus den kleinen Membranen des Lautsprechers klangen, während wir an diesem Abend – wie so oft, in dieser kurzen Zeit – dem Tag beim Vorüberziehen zusahen und glücklich waren, mit dem was wir hatten.

Diese Zeit hätte meiner bescheidenen Meinung nach noch lange so weitergehen können, doch bin ich mittlerweile der Ansicht, dass an der Binsenweisheit „Wenn’s am schönsten ist, dann soll man gehen.“, mehr Wahrheit steckt, als in vielen Lektionen, die ich auf der Schulbank gelernt habe.

Leider verging die Zeit wie im Flug und der Sommer neigte sich tatsächlich langsam dem Ende entgegen. Einige Male hatten wir noch an der Promenade gesessen, mit einem Rucksack voller Bier und einem Kopf voller Träume. Manchmal waren wir alleine und frönten unseren Gedanken, manchmal hatten wir Mädchen dabei und erzählten uns Geschichten aus unserer bisherigen Zeit im Atlantic. Geschichten davon, wie wir direkt aus der Kneipe zum Frühstücksdienst getorkelt waren und trotzdem alle Gäste besonders zufrieden gewesen waren, oder die Geschichte, in der Patricks Hose mitten im Restaurant aufriss und seine Pancho-Vanilla-Boxershorts entblößte. Wir schmückten Erzählungen aus, von Abrissen, die wir von unseren Vorgesetzten bekommen hatten und mit wie wenig Mise-en-Place und wie wenig Schlaf wir Essen für ein doppelt belegtes Restaurant geschickt hatten. Mädchen, die nicht aus der Gastronomie kamen, beeindruckte das nicht selten, was sie oftmals in Fummel-Stimmung brachte. Und wenn wir mit Fachkolleginnen unterwegs waren, war es sowieso einerlei; die waren fast immer in Fummel-Stimmung.

Als der Sommer endgültig vorüber und es zu kalt und zu dunkel war, um am Fluss zu sitzen, gingen wir wieder öfter in die Bars und Kneipen der Stadt, manchmal nach der Arbeit, um den stressigen Alltag für einige Augenblicke zu vergessen, manchmal auch an unseren freien Tagen, um 9er Ball zu spielen.

Mein Vorstellungsgespräch im Jacob‘s war ganz fabelhaft verlaufen. Es hatte alles gepasst, es gefiel mir sehr gut dort, die Küche war zwar eher nichtssagend, aber es war sicherlich ein guter Ort, um Fuß zu fassen und sich nach der Ausbildung zu sortieren. Ein Arbeitsplatz bei dem man ein oder anderthalb Jahre bleiben konnte, bis man sich selbst gefunden hatte und wusste, wohin die Reise in Zukunft gehen soll. Ich versicherte der Besitzerin des Restaurants, dass ich mich melden würde, sobald ich mich entschieden hatte. Das tat ich auch zwei Tage später, jedoch hatte ich mich gegen das Jacob‘s entschieden.

Das Vorstellungsgespräch im Petit Palais war nämlich sagenhaft gewesen. Viele Punkte kamen zusammen. Es war ein renommiertes Haus (gut für den Lebenslauf), das wieder mitten in einer Großstadt lag (schlecht für das Portemonnaie, aber in allen anderen Hinsichten gut). Das Petit Palais war mit einem Michelin-Stern und 16 Punkten im Gault-Millau ausgezeichnet, was für mich ein unglaubliches Sprungbrett sein konnte. Der Küchenchef, der vielleicht nicht unbedingt 32, aber keinesfalls älter als 38 sein konnte, war sehr aufgeweckt und enthusiastisch gewesen. Sein Alter einzuschätzen, war mir vielleicht so schwer gefallen, weil er sehr jung wirkte. Eine schnittige Le Nouveau Chef Kochjacke mit Reißverschluss hatte er getragen und „M. Oehler“ stand stolz auf seiner Brust unter dem goldenen Logo des Petit Palais. Das Team sei im Umbruch, hatte er gesagt. Mit mir zusammen würde ein weiterer Commis de Cuisine anfangen. Vom restlichen Team, das es vor der großen Renovierung und dem damit verbundenen Betriebsurlaub, gegeben hatte, waren nur zwei Leute übrig geblieben. Das wäre prinzipiell nicht ungewöhnlich und würde für neue Impulse und frischen Wind sorgen, beteuerte er auf meinen wohl etwas besorgten Blick hin.

Die Personalchefin hatte mich zum Abschluss ebenfalls empfangen und mir sofort einen Vertrag mitgegeben, den ich – falls ich mich für das Petit Palais – entscheiden würde – nur noch ausfüllen und vorbeibringen oder einschicken müsste.

Wieder hatte ich dieses ehrfürchtige Gefühl, als wir in der schweren und dunklen Lobby des Hotels saßen und ich bemerkte, dass sich unser Gespräch dem Ende neigte. Einige Winkel waren sehr dunkel, beinahe zu düster, als hätte das Hotel geschlossen. Irgendwo musste doch ein Mitarbeiter einen Knopf umlegen, damit gedimmtes Licht den Raum erhellte. Oder vielleicht war die Sonne nur für einen Augenblick von einigen nachmittäglichen Wolken verdeckt worden und ich hatte es nicht bemerkt. Dieser eine Moment hatte etwas Absonderliches an sich. Das ganze Gespräch war wunderbar verlaufen, ich hatte mich wohl und willkommen gefühlt. Die Leute schienen mich und meine Zeugnisse zu schätzen. Doch zum Schluss kam dieser eine, kurze Gedanke, als hätte man ein einzelnes Bild in einer Abfolge von 24 Bildern pro Sekunde ausgetauscht. Er war kaum da gewesen und schon wieder so weit weg, dass ich ihn nicht fassen, meine Sorge nicht zuordnen konnte. Später erinnerte mich diese Zusammenkunft an Lilien. Lilien, in einem Vorzimmer, die durch ihre wundervollen cremeweißen oder rosafarbenen Blüten jeden Raum zum Leuchten bringen, die ihren einzigartigen, betörenden Duft verströmen und einen jede Sorge, jedes ungute Gefühl vergessen lassen. Vielleicht ist genau das der Grund, warum sie früher in Leichenhallen aufgestellt worden sind. Manches wirkt so wundervoll, so perfekt in einem bestimmten Moment, doch steckt manchmal etwas Furchtbares, etwas Beunruhigendes und vielleicht sogar etwas Grausames dahinter. Dieser Gedanke kam mir leider erst Jahre später und ließ mich erschaudern.

Der Raum war wieder lichtdurchflutet und das Piano, dass man aus der Bar hören konnte (hatte es kurz ataktisch und dissonant geklungen?) spielte einen fröhlichen Song von Miles Davis.

„Vielen Dank, ich melde mich schnellstmöglich bei Ihnen und bedanke mich für das freundliche Gespräch und Ihren netten Empfang!“, sagte ich und stand dabei auf, um ihr die Hand zu geben. Als ich aus dem Hotel ging, um mich auf meinen Weg zu Bahnhof zu machen (wenn ich mich beeilte, bekäme ich den zwei Uhr Zug noch), schien die Sonne und es war ein wundervoller Tag. Ich blickte auf den hellen, uralten Kalk-Sandstein-Bau zurück, drehte mich um und ging weiter.

Erst einige Augenblicke später bemerkte ich, dass ich eine Gänsehaut hatte.

Nur ein Fremder hier

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