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Kapitel 3 – Herbst 2013

Der Passat machte ein erleichtertes Geräusch, als ich den Zündschlüssel zurückdrehte. Es erinnerte mich immer an einen alten Mann mit grauem Haar, der sich noch einmal in sein Sportoutfit geschmissen hat, um nach einem langen Lauf endlich auf einer Parkbank zu versacken.

Ich erinnerte mich noch an die Gegend, vor allem weil die Wohnungsbesichtigung noch gar nicht so lange her gewesen war. Ich blieb noch etwas im Auto sitzen. Es war Anfang Oktober und daher ging ein schneidiger Wind draußen – das richtige Wetter für einen Umzug also. Dunkelgraue Gewitterwolken verdeckten den Himmel und ich schauderte bei dem Gedanken, gleich aussteigen zu müssen. Ich rieb meine Hände noch ein paarmal aneinander und genoss die warme, stickige Luft im Inneren des Autos, die schon zu schwinden begann. Es war noch nicht wirklich kalt draußen, aber es ließ sich auch nicht mehr leugnen, dass der Sommer mit all seiner Hitze, seinen Farben und anderen Vorzügen vergangen war.

Für mich bedeutete der Herbst immer eine Wende. Anders, als bei anderen Menschen, die Neujahr oder ihren Geburtstag für einen Einschnitt halten, hatte für mich immer der Herbstbeginn eine besondere Bedeutung. Damit meine ich nicht den, der im Kalender steht, sondern eher, wenn wir merken, dass die Sonne früher untergeht und das Blau des Himmels sich von Tag zu Tag erst in ein Stahlgrau und bald darauf schon in ein Basaltgrau verwandelt. Wenn die Dinge um uns herum eine andere Bedeutung haben, als ihre offensichtliche, dann steht für mich der Sommer für das Leben, während ich den Herbst immer mit Abschied, Melancholie – vielleicht sogar unser aller Vergänglichkeit assoziiere. In meinem Alter dachte ich zum Glück nur selten daran, dass ich eines Tages sterben würde (Gott sei Dank!), dennoch war mir am Ende eines jeden Sommers klar, dass der nächste nie wieder so sein würde wie der vergangene. Und das denke ich noch heute.

Ich lehnte mich ganz nach vorne an das Lenkrad, um den Himmel direkt über mir sehen zu können. Es würde ohne Zweifel im Laufe des Tages noch zu regnen beginnen – vielleicht würde sogar ein Gewitter aufziehen. Ich sollte also besser keine Zeit verlieren.

Mit einem Klacken öffnete ich die Fahrertüre und streckte mich, als ich ausstieg. Es war eine etwas längere Fahrt gewesen, zumindest länger, als ich angenommen hatte. Ich stand auf dem rissigen Asphalt einer Sackgasse, die am Ende nur noch für Fußgänger zugänglich und durch zwei rot-weiß gestreifte Poller abgetrennt war, um Autofahrer an der Durchfahrt zu hindern. Einer der beiden hatte eine ganz beachtliche Neigung, womöglich der Tatsache geschuldet, dass einer der besagten Autofahrer sich durch eben diese Poller davon nicht abhalten lassen wollte. Zumindest, bis die ernüchternde Einsicht gekommen war.

Hier sollte ich also wohnen. Harkortstraße 41. Das ging irgendwie nur schwer über die Lippen.

Ich ging zum Heck des Wagens und drückte auf einen silbernen Knopf inmitten eines schwarzen Griffes, um die Heckklappe zu öffnen. Die Gasdruckdämpfer waren nicht mehr die jüngsten und man musste immer darauf gefasst sein, eine schwere Heckklappe auf den Hinterkopf zu bekommen, wenn man sie nicht instinktiv mit der Hand oben hielt. Ich hatte nur einige Kartons mitgenommen sowie einen Koffer und zwei Klappstühle. Eine faltbare Matratze hatte ich auf dem Beifahrersitz verstaut, dazu einige Einkäufe in dessen Fußraum gestellt. Ein paar Grundeinkäufe, Doppelkekse, Cola und BiFi, der einzig wahren Verpflegung, wenn es um Umzüge, Renovierungen und ähnliche Anlässe geht. Einen Wasserkocher hatte ich ebenfalls in einem der Kartons und dazugehörend ein altes Marmeladenglas voller Instant-Kaffeepulver, dass Patrick mir aus seinem Vorrat abgezwackt hatte. Der Abschied bei ihm war mir schwer gefallen. Wir hatten eine fabelhafte Zeit gehabt, ohne uns auf die Nerven zu gehen. Zunächst hatten wir einige Bedenken, dass es schwierig werden könnte, wenn wir zusammen arbeiteten und dann auch noch zusammen wohnen würden. Wir waren allerdings so abgestumpft durch unseren Umgang mit allerhand dämlichen Menschen, dass es nur sehr wenig Zwischenmenschliches gab, das uns wirklich hätte schocken können. Ich hatte meine beiden Taschen gepackt, die ich aus dem früheren Hutgeschäft mit zu Patrick genommen hatte und den restlichen Krempel, der sich in diesem Monat angesammelt hatte (maßgeblich einige angebrochene Schnapsflaschen und ein paar Schallplatten, die ich auf Trödelmärkten günstig erworben hatte), in einen Karton gepackt, der sich ebenfalls im Kofferraum des Passats befand. Wir hatten uns zum Abschied umarmt. Es war keine große Sache gewesen, wir wohnten ja nicht einmal anderthalb Stunden voneinander entfernt. Aber dennoch war uns klar, dass wir uns zukünftig nur noch sehr selten sehen würden. Es war eine gute Zeit gewesen, damals im Wacholderweg.

Daher überkam mich ein merkwürdiges Gefühl, bei dem Gedanken, bald hier zuhause zu sein. Drei Jahre hatte ich im früheren Hutgeschäft gewohnt, das ich gerade so mit meinem schmalen Ausbildungsgeld, sowie dem Kindergeld und meiner Halbwaisenrente hatte bezahlen können. Am Ende des Monats war das Konto immer leer – selbst, wenn ich sparsam gewesen war und das Glück gehabt hatte, mir ein paar Euro nebenher, in meiner knapp bemessenen Freizeit, zu verdienen.

Die Zeiten waren jetzt etwas anders. Zwar würde ich nun deutlich mehr Geld verdienen (sogar noch etwas mehr als in meinem Gesellenmonat im Atlantic), musste allerdings auf die Zuschüsse verzichten. Unterm Strich blieb zum Glück etwas mehr übrig, wenn ich auch keine Reichtümer verdiente. Ich konnte mir den Wagen leisten, kaufte mir ab und an den Rolling Pin und genehmigte mir gelegentlich ein Bier in der Kneipe. Es war nicht gerade das „Highlife“, aber ich schlug mich eben durch.

Ich nahm den Karton mit den Einkäufen vom Beifahrersitz und schloss den VW ab. Ich wollte mir die Wohnung erst noch einmal ansehen, bevor ich den Rest hochtragen würde. Sie war glücklicherweise mitten im Zentrum der Stadt, was die ganze Problematik des Teildienstes etwas entschärfte. Im Petit Palais würde ich um 10 Uhr beginnen, bis 14:30 Uhr (oder bis die letzten Mittagsgäste endlich die Biege machen würden) und dann von 18 Uhr bis zum Schluss arbeiten. Diese Pause wirklich sinnvoll zu nutzen, war ohnehin sehr schwer und wenn man dann noch einen langen Weg nach Hause hatte, war es eigentlich tote Zeit.

Die Straße machte einen gepflegteren Eindruck, als ich zuerst vermutet hatte. Es war verhältnismäßig ruhig hier, wobei es sicherlich schwer war, von wirklicher Ruhe zu reden – schließlich befanden wir uns immer noch in einer Großstadt. Hinter der Fußgängerzone zog sich die Straße noch ein ganzes Stück, bis sie schließlich leicht bergauf ging und dort in einer großen Einkaufsstraße mündete. Auf dieser Straße – das konnte ich schon von weitem sehen – würde es einige Kneipen und Bars, Pizzabäcker und Chinamänner geben, die es in den nächsten Wochen auszuprobieren galt.

Als ich den Schlüssel in das Türschloss schob, hatte sich mein Herzschlag merklich beschleunigt. Als ich den Schlüssel zwei Mal herumgedreht hatte, schien es beinahe zu rasen. Ich wusste nicht genau warum, aber ich war furchtbar aufgeregt und verspürte zugleich dieses betörende Gefühl im Magen, als wäre ich verliebt gewesen. Dieses kurzzeitige Gefühl, wenn man aufgeregt ist und etwas Neues, Großes vor sich hat und einem die Welt offenzustehen scheint. Als ich die Tür aufstieß, schwang sie leichtgängig auf und erzeugte einen dumpfen Knall, als sie gegen die Wand im Flur prallte. Es war eine Zwei-Zimmer-Wohnung, wobei die beiden Räume durch einen großen Durchbruch verbunden waren. Eine wirkliche Tür gab es nicht, also hätte man auch ohne weiteres von einer Ein-Zimmer-Wohnung sprechen können. Sie war erstaunlich groß und ich hatte seinerzeit nur sporadisch nachgesehen, ob alles in Ordnung war. Ich hatte nicht das Gefühl gehabt, dass der Vermieter mich hatte übers Ohr hauen wollen und da die Wohnung – abgesehen von einem Riss im Küchenfenster und einer noch nicht verputzten Klinkerwand im Wohnzimmer – in Ordnung zu sein schien, hatte ich schlichtweg zugesagt und eingeschlagen.

Sie hatte in den letzten Jahren als Büro gedient und daher hatte man die offene Klinkerwand – die schon vor Jahren hatte verputzt werden sollen – einfach so belassen, wahrscheinlich, um den Mitarbeitern und Gästen des Unternehmens ein gewisses Maß an Urbanität zu vermitteln. Mir war es egal gewesen. Es hatte vielleicht tatsächlich etwas Cooles, wenn man genauer darüber nachdachte. Ich könnte behaupten, dass ich in einer Art Loft wohnen würde und das gefiel mir, je länger ich darüber nachdachte. Ich stellte den Karton mit meinem sparsamen Einkauf auf den Boden und ging einige Schritte durch die Wohnung. Alles war noch leer und trostlos. Mir war klar, dass ein ganzes Stück Zeit vergehen würde, bevor ich mich hier wohlfühlen konnte. Ich bin der Meinung, dass es eine lange Zeit dauert und es mit viel Mühe verbunden ist, bis man einen Ort zu seinem „Heim“ gemacht hat. Ich schritt durch die Wohnung und sah alle Möbel, die noch nicht dort waren und die ich größtenteils nicht einmal besaß. Ich konnte die Wohnung trotzdem eingerichtet vor mir sehen. Ich hatte schon immer ein Talent für so etwas. Während viele Leute nur einen Blick für den „Ist-Zustand“ haben, hatte ich schon immer den Hang zur Träumerei und konnte mir immer schon vorstellen, wie es einmal sein könnte. Wenn ich genug Trinkgeld sparen würde, dann könnte ein Chesterfield-Sofa im Wohnzimmer stehen; Möbel aus dem Kolonialstil vielleicht. Das war zugegebenermaßen hoch gegriffen, aber womöglich bei einem Ausverkauf oder durch einen glücklichen Zufall zu bekommen. Manchmal hatte man Glück – und wenn nicht, war es nie verkehrt, Träume zu haben.

Es würde eine lange Zeit dauern, wie ich bereits festgestellt hatte, aber irgendwomit musste ich anfangen, nicht wahr?

Ich drehte die Sicherungen rein, stellte den Wasserkocher in der Küche auf die Fensterbank, nachdem ich ihn gefüllt hatte und begann, die restlichen Sachen aus dem Auto zu holen.

Ich würde die Wohnung als erstes durchwischen und dann die ersten Kartons und meine Klappmatratze aus dem VW holen. Vielleicht würde ich mit dem restlichen Geld, das ich noch hatte, den Kühlschrank bestücken und die ersten unumgänglichen Dinge für einen Haushalt (ödes Zeug wie Putzmittel und Weichspüler, für die es keinen Spaß macht Geld auszugeben) besorgen und mich dann für den Abend zurückziehen. Ich sollte vielleicht die Straße auf- und abgehen, um mal zu sehen, was in meiner nächsten Umgebung alles zu finden war. Vielleicht würde ich mir ein Bier an einem Kiosk genehmigen und mit nach Hause nehmen. Ich war aufgeregt und motiviert. Doch sobald der Tag zur Neige ginge, würde ich vor allem eines sein: einsam – in dieser großen, kalten und leeren Wohnung.

***

Die Tage vergingen wie im Flug und ich hatte nur noch wenig Zeit, bis ich meinen Job im Petit Palais antreten würde. Ich hatte mit der Hilfe meines Vaters den Großteil der Möbel hierher geschafft und es wurde allmählich gemütlich hier. Mein altes Klappsofa stand im Wohnzimmer vor dem noch älteren Röhrenfernseher, den ich von meiner Schwester geschenkt bekommen hatte, als sie sich ein zeitgemäßes Model zugelegt hatte. Mein richtiges Bett war nun auch hier, ebenso wie mein alter Kleiderschrank und Schreibtisch. Ich war dabei, die Küche – für die ich einige Teile neu kaufen musste – aufzubauen, als plötzlich mein Handy klingelte. Das Display blinkte und zeigte an: „Eingehender Anruf, Patrick Vierauge“.

„Patrick, warte mal, deine Schwester ist so laut hier im Hintergrund. Ich sage ihr die ganze Zeit schon, dass sie ihre Klappe halten soll. Was sollen denn meine neuen Nachbarn denken?“, stieß ich heraus, ohne auch nur darüber nachzudenken, etwas wie „Hallo“, oder „Wie geht’s?“, zu sagen.

„Leck mich, du schäbiger Wichser. Meine Schwester würde dich nicht mit der Kneifzange anfassen, du blödes Arschloch. Ich weiß gar nicht, warum ich so einen dämlichen Pisser wie dich überhaupt anrufe – meine wertvolle Zeit damit verschwende…“, regte sich Patrick auf.

„Weil du VERRÜCKT nach mir bist, big boy …“, sagte ich in einem lasziven Ton und eine kleine Pause unterbrach unser Gespräch.

„Wie geht es dir?“, fragte mich eine nun etwas gemäßigtere Stimme.

„Gut, gut, danke dir“, entgegnete ich, als ich den Schraubenschlüssel in das Waschbecken legte und mich mit dem Rücken an den Spülenschrank lehnte.

„Es ist viel zu tun hier, aber es wird langsam wohnlich, könnte man sagen. Wie geht es dir, steht das Atlantic noch oder hast du es mit einem deiner berüchtigten Fürze zum Einsturz gebracht?“, fragte ich mit einem großen Lachen auf den Lippen.

„Nein, es steht noch …“, antwortete Patrick beinahe tonlos. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

„Alles ok bei dir, Patrick?“, fragte ich nun mit etwas mehr Ernsthaftigkeit in der Stimme, fast schon besorgt.

„Bei mir ist alles bestens …“, meinte er, wenig überzeugend. „Ich habe heute im Atlantic gekündigt …“, schob er wenig später hinterher.

Eine Pause, die mir schier endlos vorkam, durchtrennte unser Gespräch. Meine gute Laune, verbunden mit den Blödeleien einerseits – und dieser ernsthaften Angelegenheit Patricks – andererseits. Ich kam mir jetzt ganz schön dämlich vor.

„Ich weiß, was du jetzt denkst …“, erklärte Patrick.

„Du musst verstehen, dass es wirklich schwierig für mich war und …“, fuhr er fort, bevor ich ihn unterbrach.

„Du brauchst mir nichts zu erklären, Patrick.“

Wieder ein langes Schweigen.

„Wenn es etwas gibt, für das ich Verständnis habe, dann dafür – glaub mir das …“, sagte ich.

„Weißt du … Ich möchte mein Leben leben. Ich möchte wieder in den Sportverein. Mit meinen alten Freunden etwas unternehmen. Mir vielleicht wieder Hobbys suchen. Ich kann das nicht mehr, Julius. Ich kann einfach nicht mehr …“, erklärte er weiter und ich bin mir ziemlich sicher, dass er den Tränen sehr nah war.

„Ich verstehe es voll und ganz“, pflichtete ich ihm bei und meinte es dabei auch völlig ernst. „Was hältst du davon, wenn du mich nächste Woche besuchst? Ich fange am Mittwoch im Petit Palais an und habe darauf den Montag und Dienstag frei. Bis dahin habe ich hier etwas mehr geschafft und kann dich mit einem kühlen Bier und ein paar leckeren Rippchen begrüßen, wenn du willst. Klingt das nach einem Angebot?“, fragte ich in der Hoffnung, ihn damit etwas aufzubauen.

„Gerne, Julius“, antwortete er knapp. „Der letzte Monat war klasse. Wenn man so viel arbeitet und den Rest der Zeit nur alleine zuhause ist, merkt man gar nicht, wie eintönig und einsam das Leben ist.“

„Ich fand es auch spitze. Und danke dir nochmal für deine Gastfreundschaft.“, antwortete ich, bevor wir auflegten.

Als ich mich wieder dem Anschluss der Spülmaschine (ich war nun stolzer Besitzer eines solchen Gerätes) widmete und der tosende Wind die welken Blätter gegen die Scheibe meines Küchenfensters blies, dachte ich viel über Patricks Worte nach. Es hatte mich traurig gestimmt, obgleich es mich auch gefreut hatte, was er sagte. Es war wirklich eine erfrischende Abwechslung gewesen, mit jemandem zusammen zu wohnen und sich jeden Abend bei ein paar Bier und ein oder zwei Marlboro über seinen Tag auslassen zu können.

Ich ging zu meinem Plattenspieler und legte „The Brian Jonestown Massacre“ auf. Als der Song „Vacuum Boots“ begann, sang ich bruchstückhaft mit und hatte Patrick für eine Zeit aus meinen Gedanken verbannt. Er tat mir leid – aber ich musste hier noch einiges geschafft kriegen und ich freute mich auf meine neue Stelle. Eine neue Wohnung, eine neue Arbeit, andere Gesichter und unbekannte Abläufe. Das klang für mich alles ganz fabelhaft und motivierte mich, bei meiner Arbeit einen Zahn zuzulegen. Wenn ich vor 19 Uhr mit dem Gröbsten fertig wäre, hätte ich noch Zeit für eine Pizza in einer neuen Pizzeria. Oder einen Kebab bei einem unbekannten Türken. Oder eine Currywurst in einem fremden Imbiss. Wieso auch nicht? Eine neue Welt lag mir zu Füßen …

***

Ein paar Tage später saß ich auf der Couch und wusste nicht so recht, was ich mit mir und meiner Zeit anfangen sollte. Das mag obskur klingen, beinahe verschwenderisch, vor allem, wenn man bedenkt, wie wenig Freizeit ich in der Vergangenheit gehabt hatte. Es war Dienstagabend – doch nicht irgendein Dienstagabend, sondern der, bevor ich meine neue Stelle antrat. Ich hatte mir alles zurechtgelegt, meine Kochjacke gebügelt, meine Arbeitsschuhe geputzt und meine Messer über den Stein gezogen.

Der Zustand der Wohnung hatte in den vergangenen Tagen einen Quantensprung gemacht und es sah wirklich wohnlich aus. Ich hatte einen Teil des Geldes, das ich in meiner Commis-Zeit im Atlantic verdient hatte, beiseitelegen können. Etwas davon hatte ich in meine Küche und in ein paar Accessoires gesteckt, wobei der große Teil weiterhin auf meinem Sparbuch blieb. Das meiste meiner Einrichtung kam maßgeblich aus meinem bisherigen Fundus und allem Möglichen, dass Bekannte, Verwandte und Freunde loswerden wollten. Ich hatte von allen das Beste genommen und somit eine sehr gemütliche Höhle für mich geschaffen. Ein Läufer im Flur führte zu einem Billy-Regal. Die Küche, die rechter Hand lag, war überwiegend neu, denn ich hatte meine alte meinem Nachmieter im früheren Hutgeschäft überlassen. Das Gute war allerdings, dass sie recht klein war und ich daher nur wenige Schränke hatte kaufen müssen. Der Gasherd – den ich natürlich mitgenommen hatte – thronte in der Mitte von drei nagelneuen Küchenunterschränken. Die Küche hatte Fenster in den großen Wohn-Schlaf-Essraum und ich fühlte mich dort, wie in einem Schaffnerhäuschen. Auf der Marmorplatte vor dem Fenster, das in den Innenhof zeigte, standen meine Kaffeemaschine und ein alter Wasserkocher. Eine alte Kaffeedose hatte ich mit Hilfe von Schaschlik-Spießen zu einem günstigen Messerblock umfunktioniert.

Von meiner Tante hatte ich einen alten, unechten Perserteppich abgreifen können. Er sah wirklich schön und solide aus. Ich hatte zunächst befürchtet, dass die Wohnung nach Trödelmarkt aussähe, wenn ich sie so zusammenwürfeln würde, doch war es mir offenbar ganz gut gelungen. Es erinnerte mich an das Appartement von Monica Gellar, aus der Fernsehserie „Friends“, die ich in meiner Jugend oft im Fernsehen geschaut hatte.

Mein Kleiderschrank war aus dem früheren Hutgeschäft mit umgezogen und machte sich hier, auf dem Parkettboden irgendwie besser, beinahe wertiger. Es hatte seine eigene Dynamik entwickelt und aus dem nichts war wirklich etwas Tolles entstanden. Während man im früheren Hutgeschäft noch mit einem Augenzwinkern von einer Studenten- oder Junggesellenbude sprechen konnte, war dies hier beinahe ein richtiges Zuhause. Natürlich würde man sehen, dass ich immer noch Berufseinsteiger war und kein Geld scheffelte. Aber wenn die Leute gingen, würden sie denken: „Der Mann hat ein Zuhause. Er verdient sein eigenes Geld und steht im Leben …“.

Dieser Gedanke verursachte ein merkwürdiges Gefühl in meinem Bauch, ähnlich wie bei einer Achterbahnfahrt, wenn man glaubt, für einen kurzen Moment schwerelos zu sein. Der Gedanke daran, dass ich nun mein eigenes Geld verdienen (und damit meinte ich richtiges Geld und keine magere Ausbildungsvergütung …) und somit ein eigenständiges Leben führen würde, erregte mich so, dass ich eine Gänsehaut bekam. Natürlich hatte ich schon während meiner Ausbildung auf eigenen Beinen gestanden, ganz zu schweigen von der Zeit davor. Ich war längst kein Junge mehr gewesen. Eine Wahl hatte man mir leider nicht gelassen.

Ich hatte mager eingekauft – Erspartes hin oder her – das Geld auf meinem Konto war etwas knapp gewesen. Einen halben Laib Brot und ein kleines Stück Käse, der am Rande seiner Haltbarkeit und daher 30% reduziert war, sollten ihren Zweck für die nächsten vier Tage erfüllen. Etwas Erbaulicheres musste ich wohl auf der Arbeit finden. Doch eigentlich wollte ich gar nicht daran denken. Natürlich war es aufregend, doch hatte ich immer Angst, wenn ich eine neue Stelle antrat – und habe es ehrlich gesagt immer noch. Vielleicht ist es die Angst vor dem Ungewissen, vielleicht die Sorge, wir könnten den Anforderungen nicht entsprechen. Das mag sein, aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es bei mir immer die Angst war, dass die Leute mich nicht akzeptieren. Im Grunde war es mir schon seit den ersten Jahren auf dem Gymnasium egal gewesen, was die Leute von mir dachten – ich hätte mich nie verdreht oder verstellt. Aber dennoch war die Sorge vorhanden, nicht akzeptiert zu werden. Die Angst, dass die Leute nicht über meine Witze lachen, nicht dieselben Gedanken haben wie ich, dass man sich nicht ansehen kann und weiß, was der Andere gerade denkt. Das mag für den ein oder anderen trivial klingen, aber dies ist wahrscheinlich das Fundament, um bei der Arbeit in einer Küche nicht vollends irre zu werden. Wenn man zusammen wahnsinnig ist – und man ja ohnehin die meiste Zeit in der Küche und somit untereinander ist – dann kommt man sich selbst nicht unnormal vor. Wenn ich in meiner Ausbildung ins Kühlhaus gegangen bin und aus voller Kehle einen Orang-Utan nachgemacht habe, dann ist glücklicherweise immer einer meiner Kollegen hinterhergekommen, hat im Idealfall das Licht ausgeschaltet und noch lauter, noch verrückter und noch realer einen Affen gemimt, als ich es je gekonnt hätte. Es mag sein, dass man keine Freundschaften fürs Leben auf der Arbeit findet, vielleicht ist das auch nicht das Entscheidende in der Küche. Vielleicht ist das Wichtigste, einfach nicht alleine zu sein, nicht das letzte Quäntchen Verstand zu verlieren.

Ich hatte mich selbst in eine schwierige Situation manövriert. Es war zu früh, um schlafen zu gehen, aber zu spät, um noch irgendetwas Produktives, etwas Aufregendes zu beginnen. Ich wollte also zu einem Buch greifen, um mich anschließend in meinen etwas abgewetzten Ikea Sessel fallen zu lassen, dessen maroder Bezug vorerst mit einer alten Decke kaschiert wurde. Als ich vor dem Bücherregal stand, glitten meine Finger an einigen Buchrücken vorbei. Das große Buch der Pasteten, Bocuse neue Küche, Pure Nature, bis sie schließlich bei Sven Elverfeld. Das Kochbuch zum Stehen kamen. Ich zog es heraus und sog den besonderen Duft, den Bücher innehaben, in mir auf. Ich liebte dieses Buch, denn es war eines der wenigen, wirklich teuren Bücher, die ich mir selbst gekauft hatte. Natürlich hatte ich mal hier und mal dort auf einem Flohmarkt ein günstiges Exemplar ergattert, aber die wirklich teuren Schinken hatte ich mir zu Weihnachten oder zum Geburtstag schenken lassen. Dafür hatte mein Geld einfach nicht gereicht.

Bei diesem von Sven Elverfeld war es anders gewesen. Ich war ins Geschäft gegangen und hatte die knapp 60 € auf die Theke gelegt und es stolz in einer Papiertüte eingeschlagen nach Hause geschleppt. Ich hatte es dort aufmerksam studiert, aber immer penibel darauf geachtet, dass alles sauber und in Ordnung blieb. Es war für mich vielleicht der ausschlaggebende Punkt gewesen, der mich auf diesen Pfad gebracht hatte. Ich wollte nicht unbedingt besser sein, als die anderen, das würde ich ohnehin nie, diese Lektion hatte ich schon früh im Leben gelernt. Aber ich könnte anders sein als die Anderen – und das war in meinen Augen das Erstrebenswerteste. Einen unverkennbaren Stil, eine eigene Küche, eine Handschrift. Dahin war es ein langer und steiniger Weg, das war mir bewusst. Morgen würde ich einen weiteren Meilenstein auf diesem passieren. Ich blätterte noch einige Seiten weiter, bis meine Augenlieder schließlich schwer wurden und mich dazu veranlassten, das Buch wieder ins Regal zu stellen. Ich legte mich schließlich ins Bett und schlief kurz darauf ein.

***

Im Vorhinein hatte ich einen großen Briefumschlag vom Hotel zugeschickt bekommen, in dem sich ein Chip, zum Passieren des Personaleinganges, meine Spindnummer mit einem Zahlenschloss sowie einige Willkommensbekundungen befanden. Ich war also bestens vorbereitet, als ich mich vor der dunklen Tür auf der Rückseite des Hotels einfand, neben der ganz klein auf einem Klingelschild „Personaleingang“ ausgewiesen war. Man hatte mir das Haus nach meinem Vorstellungsgespräch gezeigt, daher wusste ich auch, wo ich hin musste, aber dennoch zögerte ich einige Minuten, bevor ich den Chip vor den Sensor hielt und endlich eintrat. Nicht, dass ich es eilig gehabt hätte. Ich stand dort, mit einer alten Reebok Sporttasche, in der sich meine Kochjacke, ein Vorbinder und Torchon (man weiß ja nie!) sowie meine Schuhe und meine Messer befanden. Ich hatte Kopfschmerztabletten dabei und ein Paar Ersatzschnürsenkel. Ich war auf alles vorbereitet, nur nicht darauf, den Chip zu zücken, auf das Geräusch des Summers zu warten und einzutreten. Es war, als hätte ich mich auf den Sturm vorbereitet, würde es aber nicht wagen, den ersten Schritt vor die Türe zu machen.

Die Morgensonne, die sich gegen acht Uhr zum ersten Mal richtig gezeigt hatte, war wieder von Wolken verdeckt und es wehte ein leichter Wind. Gerade das richtige und angemessene Wetter für einen Tag im Oktober. So schön und auf eine gewisse Weise einzigartig dieser Moment auch war, änderte er nichts an der Tatsache, dass ich endlich durch diese Tür gehen musste. Ich steckte also meine rechte Hand in die Gesäßtasche auf derselben Seite, holte den dunkelblau eingefassten Chip heraus und hielt ihn an das Gegenstück am Türrahmen. Etwas brummte, so wie eine Libelle, oder aber eine aggressive Hornisse. Ich zog am kalten Knauf der Türe und trat ein.

***

Als ich durch die Türe ging, schlug mir der vertraute Geruch eines geschäftigen Hotels entgegen. In der Warenannahme war eine schwere Luft, die aus allerlei verschiedenen Quellen stammte. Als erstes, weil er am prägnantesten war, traf mich der Gestank von Müll- und Schweinetonnen. Diese standen relativ nah an der Personaleingangstüre und hatten so den meisten Einfluss. Aber dennoch lag der Geruch von in steigender Butter geschwenkten Zwiebeln und Knoblauch in der Luft. Dieser Geruch, den ich immer noch gerne als den „Ursprung alles Guten“ bezeichne, ist überall dort anzutreffen, wo frisch – und in den meisten Fällen auch lecker – gekocht wird. Ich war im Erdgeschoss und zu meiner Linken befand sich eine Treppe. Soweit ich mich zu diesem Zeitpunkt an meinen Rundgang erinnern konnte, musste ich eine Etage tiefer gehen. Das Petit Palais war zwar ebenerdig, die Küche war jedoch eine Etage tiefer und befand sich zur Innenhofseite im Souterrain. Auf dieser Seite waren Fenster, so dass der Gardemanger beim Kochen den Gästen der Teestube dabei zusehen konnte, wie sie bei einem Glas Champagner ihren Gedanken nachhingen oder sich beim vierten Glas bereits wollüstig befummelten. Auf der anderen Seite der Küche, da wo sich Entremetier und Saucier befanden, war es schlicht gesagt ein Keller.

Als ich die Treppe herunter ging, gabelte sich der Weg in einige Richtungen, doch konnte ich mich erinnern und folgte dem Pfad, der mir richtig zu sein schien. Diese eine Türe, die eine leichte Wölbung nach außen hatte – so als hätte man sie von innen des Öfteren aufgetreten – war mir deutlich in Erinnerung geblieben. Als ich auf sie zuging, um nach ihrer Klinke zu greifen, öffnete sie sich schlagartig, sodass ich gerade noch meine Hand von ihr wegziehen konnte. Ich erschrak leicht, als ein circa 1,90 m großer, junger Mann aus der Herrenumkleide kam.

„Mooooin“, sagte er enthusiastisch und bemerkenswert laut, während er mir seine Hand hinstreckte. Es machte nicht den Eindruck, als wollte er mir die Hand geben, sondern viel eher, als wolle er einen Slam-Dunk machen, um die Lakers in das Finale zu bringen. Ich erinnere mich nicht recht, ob ich tatsächlich zusammenzuckte, jedoch war mir danach, vor allem wenn ich bedenke, dass mich dieser Bursche ohne weiteres aus meinen abgetretenen Converse-Schuhen ins Orbit hätte klatschen können, wenn er nur gewollt hätte. Ich blickte hoch zu ihm und sah, dass er einen gepflegten Bürstenhaarschnitt trug und die Anzeichen einer früheren, beinahe vergessenen Akne im Gesicht hatte. Er grinste über beide Ohren und hielt seine Hand immer noch hin. Mussten nicht mittlerweile Minuten vergangen sein? Als ich meine Hand austreckte, klatschte er ein, sodass es ein sehr lautes, hohles Geräusch in diesem gemauerten Flur wiederhallte.

„Ich bin Henrik, aber meine Freunde dürfen mich Henrik nennen.“, erklärte er mir, legte seine Hand auf meine Schulter, gleich nachdem er in beide Pranken geklatscht hatte und schien sich übermäßig an seinem eigenen Witz zu erfreuen, während er sich mit gebleckten Zähnen nach vorn zu mir beugte.

„Ich bin neu im Petit Palais, habe meinen ersten Tag. Arbeitest du im ‚Madison‘?“, fragte er mit aufrichtigem Interesse.

„Nein, ich bin auch neu im Petit Palais. Mein Name ist Julius. Ich schätze wir sind ab heute Leidensgenossen…“, erzählte ich ihm und lachte verhalten über diese Äußerung. Er verstand es aber offenbar nicht.

„Leidensgenossen? Wie meinst du das?“

„Nicht so wichtig. Ich ziehe mich schnell um, dann quatschen wir weiter, ok?“, bot ich ihm an.

„Klar, Julian!“, sagte er und hob seine Hand wieder zum Slam-Dunk.

„Julius…“, berichtigte ich ihn.

„Wie meinst du?“, fragte er ehrlich verwundert.

„Ich heiße Julius…“, beteuerte ich mit gerunzelter Stirn.

„Jawollek, mein Bester. Julius, habe ich etwa ‘was Anderes gesagt? Nimm‘s mir nicht krumm, Bruder. Wir sehen uns unten, Jules…“, entgegnete er völlig überdreht, als er mit riesigen Schritten um die Ecke ging und verschwand.

Ich ging durch die verbeulte Tür und begab mich auf die Suche nach dem Spind mit der Nummer 357. Der Spind war auf Rumpfhöhe – das war schon einmal gut, denn dann musste ich mich die nächsten Jahre nicht bücken. Die Türe klemmte leicht bei dem Versuch sie zu öffnen und knallte schließlich auf, als ich lang genug daran herumgezerrt hatte. Ein übler Geruch schlug mir entgegen und sofort erblickte ich die Notiz „Neger, Neger, Schornsteinfeger“, auf der Innenseite der Spindtür. – Na fabelhaft.

Meine auf Hochglanz gebrachten Schuhe funkelten beinahe im Neonröhrenlicht dieses Hinterzimmers. Es war doch erstaunlich, dass ich nach der rasanten Achterbahnfahrt meiner Ausbildung hier stand, gestriegelt und motiviert. Meine Schürze und mein Torchon lagen zusammengefaltet auf einer der Bänke in der Umkleide. Ich begutachtete mich noch einmal im Spiegel. Frisch rasiert, mit gemachten Haaren und einer gestärkten Jacke. So konnte der neue Abschnitt meines Lebens losgehen.

Als ich ebenfalls um die Ecke bog – nur in deutlich kleineren, meiner Körpergröße angemesseneren Schritten als Henrik – und dabei die verbeulte Tür hinter mir ließ, blickte ich einen langen Flur hinab. In der Mitte dieses schmalen Ganges, der eher an einen gefliesten Minenschacht erinnerte, hing eine Neonröhre, die alles hell erleuchtete. Auf der rechten Seite waren Schwerlastregale in denen allerhand Kochutensilien – Fondtöpfe, Schneidebretter, Gastronorm-Bleche – untergebracht waren. Auf der linken Seite hingen große Bilderrahmen, wobei ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, was sich in diesen befand. Mit meiner Messertasche in der Hand ging ich den Flur entlang und machte nun auch recht große Schritte. Es roch plötzlich mehr nach Knoblauch und ausgelassenem Speck, als noch in der Warenannahme. Als ich auf der Höhe der Neonröhre angekommen war und nun sehen konnte, dass Motivationssprüche, oder Mantras in den Bilderrahmen hingen, überkam mich eine merkwürdige Gewissheit. Ich hatte mir eingebildet, dass die Neonröhre geflackert hatte. Ich war mir sogar sicher, dass ich im Augenwinkel sehen konnte, wie das Licht die Röhre verlassen hat und das Gas automatisch neu entzündet worden war. Das alles passierte in Bruchteilen von Sekunden. Ich war mir sicher, dass ich es gesehen und mir nicht nur eingebildet hatte. Mit dieser Gewissheit setzte ich meinen Weg fort, bis ich schließlich auf der linken Seite in der Küche verschwand.

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