Читать книгу Ein unsichtbares Band, genannt Familie - Heli Ihlefeld - Страница 10
DIE LIEBE ODER DIE SCHÖNE KUNSTLÄUFERIN
ОглавлениеAls Untersekundaner war er als leidenschaftlicher Turner in die Männerabteilung des Turnclubs Hannover eingetreten. Er kam erst in die dritte Riege, aber schon ein Jahr später in die erste. Er habe dort viel gelernt, erzählt er, und er war jedes Jahr beim Wettturnen mit anderen Vereinen dabei. Im Sommer wurde außerdem viel geschwommen und im Winter Schlittschuh-Kunstlaufen geübt.
„Leibesübung war meine Leidenschaft. Als Oberprimaner habe ich 27 Stunden wöchentlich darauf verwandt. In den oberen Klassen hatten wir in unserer Schule einen Schülerturnverein. Den leitete ich als Oberprimaner. Als wir zum Stiftungsfest ein Schauturnen veranstalteten, hat mir das viel Lob von den Zuschauern eingebracht.“
Beim Schlittschuhlaufen trainierten die Kunstläufer auf einem besonderen Platz der Eisbahn. Dort fiel dem Primaner Rüter ein schönes junges Mädchen auf, „das außerdem glänzend lief “. Nicht nur sie gefiel ihm, sondern er ihr auch – „wie ich später erfuhr. Bei unserem Abiturball war sie meine Tischdame.“
Aber ich will nicht vorgreifen. Es läuft eben alles folgerichtig bei Otto Rüter – bis zu einem gewissen Punkt. Bei seinen Nachkommen dafür um so weniger.
Darum zurück zu seiner Schulzeit. Opa fiel da noch manches Vergnügliche ein, das mich an Ludwig Thomas Lausbubengeschichten erinnert:
„Im letzten langen Vierteljahr der Untersekunda schrieben wir in jedem Fach zwölf Extemporalien, die bei mir alle null Fehler hatten. Dr. Hahne, der uns in Englisch und Französisch unterrichtete, wollte mich reinlegen durch schwere Fragen bei den französischen unregelmäßigen Verben in Verbindung mit Fürwörtern, Fragen und Verneinungen. Als er nach der Prüfung am anderen Tag in die Klasse kam, warf er mir mein Heft quer durch den Raum an den Kopf, den ich jedoch schnell zur Seite bog. Dadurch traf das Heft meinen Hintermann. Ich hatte wieder null Fehler. Zwei Mitschüler nur bekamen eine Drei, alle anderen Vieren und Fünfen. Er machte mich an, weil ich die Stellung der Fürwörter – eine schwierige Aufgabe – immer richtig gemacht hatte, er mich also nicht hatte reinlegen können.
Ich musste laut lachen und verriet dann, dass ich mir einen besonderen Vers gemacht hätte, der leider nicht in der Grammatik stehe:
‚me, te, se, nous, vous vor le, la, les
le, la, les vor lui und leur
lui und leur vor y und en
y vor en‘
Dieser Vers hat Dr. Hahne sehr gefallen, und er hat ihn seinen späteren Schülern beigebracht.“
Wenn ich aus der Schule kam und Opa an seinem Patiencen-Tisch saß, fragte er mich immer, was ich in der Schule für Fächer gehabt hätte. Und wenn ich sagte „Französisch“, erzählte er mir auch diese Anekdote, wohl in der Hoffnung, ich würde mir diesen Vers aneignen. Habe ich auch, aber null Fehler in einer Französischarbeit – ich kann mich nicht erinnern!
Und Opa erzählte noch eine weitere Schulanekdote:
„Von meinem Deutsch-Professor Dr. Rawe erhielt ich in der Oberprima die Aufgabe, eine Rede zum Thema ‚Malerei und Wald‘ zu halten.“
Dazu hatte Opa nun gar keine Lust und bereitete sich auch nicht darauf vor.
Als er dann an die Reihe kam, begann er einfach wie folgt:
„Ich war als Unterprimaner mit drei Freunden durch Thüringen gewandert, war im Schwarzatal auf den Berg gestiegen, wo Goethe den Vers gedichtet hat: Über allen Wipfeln ist Ruh ... Bei herrlichem Wetter übersah ich die wunderbar schönen Wälder, war begeistert und rief schließlich aus: , Ach, wenn ich die Wälder malen könnte!` Meine Klasse brach in brüllendes Gelächter aus. Dr. Rawe, der anscheinend begeistert war, wurde sehr böse und schimpfte mit der Klasse. Dann bat er mich, die Rede mit dieser schönen Einleitung noch einmal zu beginnen. Ich tat so, als hätte mich das Gelächter meiner Mitschüler sehr erschüttert, und bat, mich aufhören zu lassen. Er fand meinen Gram berechtigt. Ich brauchte meine Rede nicht weiter zu halten, hatte erreicht, was ich wollte, und war sehr vergnügt.“
Und ich weiß jetzt, von wem ich meinen Humor geerbt habe.
Und noch eine Opa-Geschichte:
„Religion hatten wir in der Oberprima bei Professor Schmidtmann, der eigentlich Pastor hatte werden wollen, aber wegen seiner schlechten Stimme Lehrer geworden war. Ich fand seinen Religionsunterricht langweilig, weil er ihn nach bestimmten Schemata hielt. So fragte er immer die Bibel ab: ‚Kapitel 1, 3, 21 von Gott dem Vater; Kapitel 2, 18, 19 von Gott dem Sohn usw.‘
Mich hat das schließlich so geärgert, dass ich, als er mich abfragen wollte, alles vollkommen verdrehte. Der Professor wurde wütend, bezeichnete mich als schlechten Schüler und den Schülerturnverein, den ich leitete und dem die besten Schüler aus Untersekunda bis Oberprima angehörten, als fürchterlichen Saufverein. Ich verbot mir sofort diese Behauptung und verließ die Klasse. In der Pause wurde ich zu Direktor Ramdohr gerufen. Ich habe dem Direktor dann erzählt, dass dieser Streit entstanden sei, weil ich in meiner Antwort absichtlich diese Zahlen-Schemata, mit denen uns Schmidtmann schon das ganze Jahr genervt hatte, verdreht hatte. Ich durfte gehen. Aber eines Tages erschien Direktor Ramdohr unerwartet während des Religionsunterrichts in unserer Klasse, hörte sich diese Abfrage mit an und verließ die Klasse wieder. In der nächsten Religionsstunde übernahm der Direktor selber den Religionsunterricht und wir waren bei dem ausgezeichneten Unterricht jetzt alle eifrig bei der Sache. Der Religions-Professor aber ging bald darauf in den Ruhestand.“
„Opa, du bist wohl der lebende Beweis dafür gewesen, dass man sich nicht einfach alles gefallen lassen sollte von ‚Macht-Habern‘“, meine ich.
„Das stimmt! Im Abitur machte ich noch eine ähnliche Erfahrung, die wohl auch meine Standfestigkeit bewies.“
„Ich habe sie bei mir erst viel später entwickelt. Ich leitete einen Bereich bei der Deutschen Bundespost und litt unter der ablehnenden und ungerechten Haltung des Staatssekretärs. Da sagte mir die Direktorin Eva Leithäuser, meine Mentorin und eine Frau, die es an die Spitze geschafft hatte: ‚Frauen wollen immer geliebt werden. Aber darauf kommt es, wenn man Erfolg haben will, nicht an!‘ Das saß.“
„Mein Chemieprofessor Dr. Kraus mochte mich nicht. Nach der schriftlichen Abitur-Prüfung in Chemie wurden vier Mitschüler, die ihre Aufgaben nicht richtig gelöst hatten, noch einmal mündlich geprüft. Einer der Schüler gab auf eine Frage wohl eine ziemlich unmögliche Antwort, denn die ganze Klasse lachte. Ich las gerade in einem Buch und hatte die Antwort nicht gehört, aber ich lachte einfach mit. Professor Kraus sprang jedoch auf mich zu und schrie mich an, ich sei ein ganz unmöglicher Schüler. Ich verbat mir das und verließ auch diesmal wieder einfach wortlos die Klasse. Und wieder wurde ich in der Pause zum Direktor gerufen, weil Professor Kraus verlangt hatte, dass ich wegen schlechten Benehmens in die mündliche Prüfung sollte. Ich berichtete das Geschehen und der Direktor wunderte sich wohl über den Chemie-Lehrer.“
Und auch diesmal geschah Opa nichts.
Die Schulzeit war nun vorbei. Es folgten noch der Abiturball und der Kommers. Opa fand beides „wunderbar“. Seine Kon-Abiturienten wollten, dass er beide Veranstaltungen organisierte.
„Wie merkwürdig, ich stellte bei mir sehr viel später in meinem Berufsleben fest, dass ich ein ausgesprochenes Talent zum Organisieren und Improvisieren habe und strategische Fähigkeiten, die im Management gebraucht werden. Ich hatte davon keine Ahnung gehabt. Ich wollte ja eigentlich Schauspielerin werden.“
Opa lächelt nachsichtig: „Ich wollte ja auch mal Kaufmann werden!“
Eine derartige Erinnerung ist ein Schatz, den ein junger Mensch mit ins Leben nimmt, denke ich. Vielleicht habe ich während der Jahre meiner Schulzeit einen anderen Schatz gesammelt. Die vielen Bücher, die in der Bibliothek von Großvater und meinen Eltern standen. Ich habe sie alle gelesen. Und viele Gedichte gelernt – im Deutschunterricht und während des Konfirmandenunterrichts. Auch einige englische und französische Gedichte und Lieder haben sich fest in mein Gedächtnis eingeprägt.
Opas Leben war ein Pfeil, der abgeschossen wurde, gerade und ruhig fliegt er in den Himmel. Stetig und schräg geradeaus, alles gelingt, nichts hält ihn auf, lässt ihn stocken, kein Abfallen, kein Abknicken in dieser hohen Flugbahn. Vielleicht sind wir so gemacht, wenn alles seinen Sinn und seine Ordnung hat in der Kindheit und den Lehrjahren danach, denke ich. Aber auch ein solches Leben bekommt seine schweren Einbrüche. Eines Tages. Sonst wäre dieser Pfeil vielleicht in den unendlichen Himmel geflogen. Das Bild von dem Pfeil kam mir in den Sinn, weil mich die Texte von Khalil Gibran tief beeindruckt haben, ganz besonders sein Gedicht Von den Kindern.
Deine Kinder sind nicht Deine Kinder,
sie sind die Söhne und Töchter
der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.
Sie kommen durch Dich, aber nicht von Dir,
obwohl sie bei Dir sind, gehören sie Dir nicht.
Du kannst ihnen Deine Liebe geben, aber nicht
deine Gedanken; denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
(…)
Du bist der Bogen, von dem Deine Kinder
als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
Lass Deine Bogenrundung in der Hand
des Schützen Freude bedeuten!
(Khalil Gibran, 1883-1931)
Ich sage zu Großvater: „Wie klar und auch unschuldig das alles war! Wenn ich daran denke, was bald über Deutschland heraufziehen wird. Nichts kommt von selbst ... Opa!“
Er sieht mich ernst an: „Die Schuld lag tiefer. Ich kannte sie damals nicht. So wie du sie nicht kanntest, damals als junge Journalistin, die den Anfang der Bundesrepublik Deutschland miterlebt und mitgestaltet hat.“
„So entwickelte sich also in deinen weiteren Leben ein Schritt aus dem anderen – Folge-richtig.“
„Ja! Und meine nun folgenden Studentenjahre waren herrlich und kostbar und köstlich. So habe ich es später noch empfunden, wenn ich an sie dachte.
Später als wir alle zusammen in dem neuen kleinen Haus in der Richard-Wagner-Straße wohnten und ich mit 79 Jahren aufgehört hatte zu arbeiten. Auch diese Erinnerungen sind schön.“
Ich schüttele den Kopf: „Meine Lehr- und Entwicklungsjahre waren nicht köstlich.“
„Ich weiß, mein Kind. Aber bedenke, was alles dazwischenlag.“
„Ja. Das Grauen!“
„Und niemand wollte anschließend mehr etwas davon wissen, geschweige sich als Mittäter bekennen. Vielleicht glaubte ich eine Weile wirklich nicht schuld zu sein, oder vielmehr genug bezahlt zu haben, vor allem, weil ich meinen jüngsten Sohn im Hitler-Krieg verloren habe. So sind wir Menschen! Aber: Gewalt gebiert Gewalt und Grauen weiter Grauen, wenn wir verdrängen.“
„Auch nach so vielen Jahren des Friedens? Heute“
„Ja!“
„Ach, Opa, ich lese lieber erst mal weiter. Du schreibst:
„Ich wollte nun Bauingenieur werden. Ein halbes Jahr arbeitete ich zunächst als Maurer, wurde dann Student an der Technischen Hochschule Hannover.“
Im Turnclub hatte er bei seinem Turnlehrer Neumann auch das Fechten gelernt und natürlich wollte er nun als Student, wie es damals üblich war, auch Mensuren schlagen und trat daher in das Corps Macaro-Visurgia ein. „Bereits im ersten Semester habe ich dort 16 Mensuren gefochten, meistens mit Erfolg“, schreibt er stolz. „Dafür hatte ich nicht mehr genug Zeit für den Turnclub. Als Turner habe ich mich also nicht weiterentwickelt.“
„Entschuldige, wenn ich dich hier unterbreche. Du hattest nicht viele Schmisse im Gesicht, weniger als einige deiner Freunde. An einen auf deiner Glatze kann ich mich noch erinnern.“
„Ich war eben erfolgreicher als sie. Dein Vater, der bei den Marburger Teutonen gefochten hat, hatte übrigens auch nicht viele.“
Die Teutonen! Die gehörten doch zu den Studenten, die mit ihren ungezügelten Ausfällen gegen die Juden, mit ihren antisemitischen Hasstiraden Hitler den Boden bereitet haben! Ich traue mich wieder nicht zu fragen, ob es bei Opas Macaren auch diese Angriffe gegen die jüdischen Mitbürger gegeben hatte. Ich habe nicht einen Anhaltspunkt, auf den ich mich beziehen könnte. Mag man mich für blauäugig oder gar dumm und borniert halten. Ich kann nichts sehen, an dem ich mich festhalten, an dem ich anknüpfen könnte bei ihm, was den Verdacht einer Sympathie für die Nazis aufkommen lassen könnte. Und doch haben später in seinem Stahlwerk Kriegsgefangene arbeiten müssen – vielleicht auch Juden? Opa wird mir das ja alles noch erzählen.
Ich wechsle also das Thema:
„Um ehrlich zu sein, Opa. Ich finde das Mensuren-Schlagen schrecklich! Ist doch nahezu barbarisch. Warum hast du bloß nicht weiter geturnt!“
Er lacht: „Deine Mutter, meine Tochter Cilli, fand es auch schrecklich.“
Zum ersten Mal ist der ununterbrochene Primus nicht mehr an der Spitze. Er genießt seine Zeit als Student und findet viele neue Freunde:
„Die Zeit verging so schnell. Ich machte Examen – nicht besonders gut, weil ich während dieser Jahre gern und viel gefochten und getanzt habe. Dazu kamen das Tennisspielen im Sommer und das Schlittschuhlaufen im Winter. Außerdem machten wir interessante Studienreisen mit unseren Professoren.“
Ende 1899 legte Großvater sein Staatsexamen ab. Und da er nicht in den Staatsdienst wollte, absolvierte er gleich danach sein Diplomexamen. Sein bevorzugtes Gebiet war der Stahlbau. Er erhielt daher als Diplomaufgabe den „Entwurf der Stahlkonstruktion für eine große Weltausstellungshalle“. In der vorgeschriebenen Zeit von drei Monaten legte er den Entwurf vor und erhielt die Note „sehr gut“.