Читать книгу Ein unsichtbares Band, genannt Familie - Heli Ihlefeld - Страница 8
MEIN GROßVATER OTTO RÜTER
ОглавлениеIch kann mit den Toten sprechen. Sie sind lebendiger als wir. Ich höre ihnen zu. So hat mir mein Großvater auch seinen Lebenslauf übergeben. Eines Tages hielt ich ihn in meinen Händen.
Er erzählte mir darin von einer schlichten und herrlichen Kindheit. Von einer Kindheit, die ich durch den Zweiten Weltkrieg verloren hatte.
Der Krieg war zu Ende und ich ging in Hannover aufs Gymnasium. Wenn ich mittags nach Hause kam, saß Opa an seinem kleinen sechseckigen Marmortisch und legte Patiencen.
Ich erinnere mich an sein lachendes rundes Gesicht mit den klaren hellblauen Augen unter buschigen Augenbrauen. Die Ohrmuscheln standen ab von seinem kahlen Schädel.
Mein Großvater!
Wenn ich kam, blickte er von seiner Patience auf und freute sich. „Wie war’s in der Schule?“
Er legte erwartungsvoll seine rechte Hand ans Ohr und schob die Ohrmuschel etwas nach vorne, denn er war schwerhörig. – Übrigens ein Familienerbe.
Aber ich hatte keine Lust, ihm von der Schule zu erzählen. Ich ging nicht gerne zur Schule. Opa aber dachte als über 80-jähriger Mann nach einem langen arbeitsreichen, anstrengenden und auch schmerzensreichen Leben fast nur noch an seine Kindheit.
Ich lese in den 44 handgeschriebenen Seiten seines Lebenslaufes:
„Ich bin jetzt über 80 Jahre und gesundheitlich so in Form, dass ich spazieren gehen kann, gerne noch Zigarren rauche und abends noch ein Schöppchen Wein trinke.“
Schöppchen ist gut, denke ich. Immer stand eine Flasche halbtrockener Rheingauer Riesling abends vor ihm auf dem Tisch, die am Ende des Abends meistens leer war.
„Aber mein Gehör hat nachgelassen“, lese ich weiter die klare harmonische Handschrift, „und der Hörapparat kann nur wenig nutzen, sodass ich mich in meinem Corps [das waren die Macaro Visurgen in Hannover, bei denen ich als junges Mädchen auch getanzt hatte] oder im Theater und Kino nicht mehr sehen lassen kann. Mein Gedächtnis hat auch sehr nachgelassen, und so lebe ich meistens allein in meinen Lebenserinnerungen ...“
Heute, wo ich selbst am Ende meines Lebens angekommen bin, betrachte ich Großvaters Kindheit und sein Leben. Alles ist mir sehr nahe. Ich kann auch mit ihm darüber sprechen. Ich spüre auch in mir seine Heiterkeit nach einem langen Leben, in dem auch so viel Trauriges geschehen ist. In mir entsteht dadurch eine große Offenheit. Ich sehe so viele Veränderungen auf die Menschen zukommen. Ich erlebe noch ein ganz neues Zeitalter.
Und jetzt spüre ich ihn nahe bei mir. „Was ist mit den Menschen los? Was kommt auf sie zu?“, frage ich ihn.
„Mein Kind, komm setz’ dich zu mir!“ Ich schmiege mich an ihn, als er spricht.
„Alles fiel mir zu. Alles schien damals einfach. Alles war gut. Schau, was daraus geworden ist!“
„Was kann ich tun?“
„Hinschauen. Ganz bewusst. Aber das geht nicht ohne Liebe – vor allem Liebe zu dir selbst. Ich habe nur gelernt. Immer. Von meinen Eltern, wie man ein anständiger Mensch wird. Danach von meinen Lehrern. Ich habe gedacht, das genügt: Ein anständiger Mensch zu sein und seine Pflicht zu tun.
Um Politik habe ich mich nie gekümmert.“
„Ich auch, Opa, nicht nach dem Krieg. Ich bin aufs Gymnasium gegangen – ungern im Gegensatz zu dir, Opa. In die Grundschule konnte ich, bis auf wenige Tage, wegen der Tiefflieger auf meinem Schulweg kaum gehen.
Vielleicht war es auch die Angst vor diesen plötzlichen Überfällen der ‚Ratas‘, wie sie Onkel Hans nannte, die Bilder meiner Kindheit aus meinem Gedächtnis getilgt hat. Ich habe Trotzköpfchen gelesen und mir keine Gedanken gemacht, was mein Vater im ‚Dritten Reich‘ getan hatte oder tun musste, ob er sich vielleicht schuldig gemacht hatte oder machen musste. In meinen Augen war mein Vater unschuldig.“
„Das genügt eben nicht, mein Kind. Schau immer genau hin!“
„Ja, das weiß ich inzwischen. Aber ich war so schutzlos damals, so hilflos. Was für ein langer Weg bis hierher! Halte mich fest, Opa!“
„Das Leben ist wie ein tiefer Atemzug. So habe ich es empfunden.“
„Was sagst du über den Kapitalismus?“
„Wir haben ihn gesät. Ich habe zum Beispiel nicht die Arbeiterpartei gewählt, die ihn verhindern wollten, bis die Nazis unter falschen Vorzeichen dazwischenfunkten. Aber fangen wir vom Anfang an. Nach dem schrecklichen Krieg habe ich vieles eigenhändig aufgeschrieben, meine Erinnerungen, mit 81 Jahren, in Hannover in der Richard-Wagner-Straße 24a. Dort, wo wir alle zusammenwohnten, als du noch auf die Sophien Schule gingst.“