Читать книгу Ein unsichtbares Band, genannt Familie - Heli Ihlefeld - Страница 11
ZUM ERSTEN MAL „NICHT TAUGLICH“
ОглавлениеPünktlich zur Jahrtausendwende, am 1. März 1900, war sein Studium zu Ende. Nun wollte Opa eigentlich seinen einjährigen Wehrdienst beginnen, wurde aber bei der Musterung bis zum 1. Oktober zurückgestellt. Offenbar wollte er das nicht glauben und auch nicht akzeptieren. Kein Wunder – bei seiner sportlichen Tüchtigkeit:
„Mir gelang es, über meinen Professor Backhaus zu erreichen, dass ich ein zweites Mal untersucht wurde. Daraufhin erhielt ich das für mich niederschmetternde Ergebnis: ‚D.U. – dauernd untauglich‘. Ich hatte doch vorgehabt zu dienen, um dann Reserveoffizier zu werden, und war nun traurig. Ich war absolut gesund, aber man wollte mich wohl nicht als Einjährigen haben.“
Was für ein Glück hat er nun wieder gehabt!, denke ich. Wenn überhaupt, wie hätte er den Ersten Weltkrieg überlebt, aus dem eine ganze traumatisierte, verwundete und geschlagene Männergeneration zurückkehren würde?
Bereits seine erste Bewerbung am 1. April bei der damals bekannten Stahlbaufirma Harkort in Duisburg war erfolgreich: „Ich wurde aufgrund meines Diploms und vorgelegter Zeichnungen sofort angenommen.“
Ich begleite beim Lesen seiner Erinnerungen nun meinen lieben Großvater zu seinem ersten Job:
„Ich erinnere mich noch genau, wie ich zum ersten Mal den großen, voll besetzten Zeichensaal betrat. Es gab nur einen, der studiert hatte wie ich unter den vielen Zeichnern, Oswald Erlinghagen. Alle anderen hatten eine Lehre bei Harkort durchgemacht und waren nun hier als zum großen Teil tüchtige Konstrukteure tätig.
Erlinghagen arbeitete schon seit einem Jahr in dieser Firma.
Meine erste Aufgabe war, eine Stahlbau-Eisenbahnbrücke für den Staat Siam in Asien zu entwerfen, mit einer Spannweite von 90 Metern. Diese Brücken wurden damals fürs Ausland wegen der einfacheren Montage als Gelenkbrücken ohne Montagenietung ausgeführt. Über derartige Brücken hatte ich während meines Studiums kaum etwas erfahren.“
Nun war Opa in der Klemme! Aber so wie er als Kind war, so war er wohl sein ganzes Leben. Die Menschen mochten ihn einfach. Dünkel, so wie häufig bei Menschen, die aufgestiegen sind, gab es bei ihm nicht.
Also, was nun? Der gerade erst diplomierte Ingenieur runzelte die Stirn:
„Die statische Berechnung war ja nicht schwierig, aber die Konstruktion! Derartige Zeichnungen kannte ich nicht, und man hatte mir bisher auch keine ausgeführten Brücken gezeigt. Da saß vor mir ein alter Konstrukteur, der merkte, dass ich in Not war. Er holte die Zeichnung einer ausgeführten Brücke und erläuterte mir diese. Das war sehr gut. Und so war ich bald mit meiner Aufgabe fertig.“
Alles klappte nun wie geschmiert: „Unser Angebot wurde statt eines der Engländer vom Staat Siam angenommen.“ Das muss man sich mal vorstellen: Frisch von der Uni!
Und es ging weiter mit den großen Entwürfen. Und weil er schon immer Spaß am Lernen gehabt hatte, lernte er auch zu Hause nach Feierabend weiter dazu. Er freundete sich mit den Ingenieuren der Maschinenfabrik Becham & Kaatmann an, die später von der Demag übernommen wurde. Mit diesen Freunden wanderte Opa sonntags in der näheren Umgebung und lernte so das Rheinland kennen.
Mein Großvater notierte eigentlich nur Positives. Bis auf wenige Ausnahmen erinnert er sich offenbar nur an die Ereignisse in seinem Leben, die ihm Freude bereitet haben. Und dann klingt das so, als sei nichts Unangenehmes in diesen Jahren passiert. Aber eigentlich gibt es doch in jedem Leben mehr oder weniger Angenehmes. Ja, das schon, aber es ist eher Opas Art, den nicht so schönen Erlebnissen, wie einer langen Krankheit, am Ende noch eine positive Note zu geben oder eine witzige Pointe zu entdecken. Nur gegen den Tod hatte auch er später kein Rezept. Er starb, als ich in Hamburg studierte.
Welche Freude er im Leben gehabt hat! Sie nährte ihn noch, als er nach all den Schicksalsjahren in seinem späten Ruhestand stundenlang an seinem Marmortisch saß. Er klagte eigentlich nie, wenn ich mich nach der Schule einen Augenblick zu ihm setzte. Mit einer Ausnahme! Sein Gehör! Er wollte so gerne mehr von mir erfahren. Aber mit dem Hörgerät mochte er nicht umgehen. Ich glaube, es enttäuschte ihn bei jedem seiner Versuche.
Knapp drei Jahre nach dem Examen, am 18. August 1903, feierte Opa in Hannover Hochzeit mit der schönen Eisläuferin Elli Hammerstein: „Meiner Liebsten seit langen Jahren. Eine herrliche, wenn auch nicht lange Hochzeitsreise in den Schwarzwald folgte.“
„Am 11.Juli 1904 wurde unser erstes Kind, der kräftige Hans geboren.“
Mein geliebter Onkel Hans. So voller Leben und Liebe! Und was hat er alles sehen müssen. Von ihm wird bald die Rede sein und vor allen anderen wird er sprechen.
Meine Großmutter Elli, die ich leider nicht mehr erlebt habe, stammte aus einer angesehenen Familie des hannoverschen Großbürgertums. Sie wuchs mit fünf Geschwistern auf. Am meisten beeindruckte uns Kinder Tante Martha. Sie war eine gefeierte Operndiva. Immer wieder betrachtete ich ihr Foto als Walküre mit ihrem wallenden dunklen Lockenhaar. Tante Marthas Mann, ebenfalls ein Sänger, soll sie nach Aussagen meiner Mutter Cilli und ihrer Schwester Elli, gezwungen haben, nach der Geburt ihres Sohnes mit der Bühne Schluss zu machen. Mich empört diese Geschichte noch heute.
Als junge Journalistin in Bonn sollte ich dann viele Jahre später 1977 den zweiten wichtigen gesetzlichen Schritt nach der Abschaffung des Stichentscheides des Mannes im Familienrecht (1958) bewusst miterleben. Durch ihn durften Frauen nun ohne das Einverständnis ihres Mannes erwerbstätig sein. Eigentlich konnte ich es damals schon kaum glauben, dass so etwas bei uns Gesetz war und der Ehemann entscheiden konnte, ob die Frau arbeiten durfte oder nicht.
Meine Großmutter liebte ebenfalls die Musik und wollte den Namen Hans ihres ersten Sohnes mit zwei „n“ schreiben, vielleicht, um ihn aus der Masse der vielen Jungs mit Namen Hans heraus zuheben. Offenbar machte der Standesbeamte nicht mit. Meine Mutter bekam den Namen einer Muse der Musik, der heiligen Cäcilia, allerdings mit „e“, nämlich Cäcilie. Doch sie mochte ihren Namen nicht und hielt sich selbst auch für unmusikalisch. Ich hätte meine Großmutter so gerne kennengelernt. Zart, musisch und schön, wie sie war. Ihr Foto steht noch heute auf meinem Sekretär.
Und bei Opa ging es unaufhaltsam weiter. Er wollte noch mehr lernen:
„Bei Harkort hatte ich es beim Entwerfen von Brücken weit gebracht und wollte nun gerne das Montieren von Stahlbrücken erlernen. Das war nicht möglich, weil die Fabrik schon eine Reihe von guten Montage-Ingenieuren besaß. Als letzten Entwurf hatte ich an der großen Rheinbrücke Ruhrort-Homberg mitgearbeitet. Den Auftrag zur Ausführung erhielt jedoch die Firma MAN in Gustavsburg. Ich lernte dadurch aber damals den von der Stadt Ruhrort angestellten Leiter, Baurat Degener, kennen. Er bot mir an, bei MAN die Prüfungen und Überwachungen zu übernehmen. Ich war sofort dazu bereit, aber die Firma Harkort wollte mich nicht freigeben. Ich habe es dann aber doch durchgesetzt. Meine früheren Direktoren nahmen mir das sehr übel.
Ungefähr drei Jahre dauerte der Brückenbau bei MAN, und er brachte mir viele Kenntnisse und gute Beziehungen. Ich war häufig in den Walzwerken in Lothringen und dem Saarland zur Prüfung des Materials, oft in Gustavsburg zur Werkstattprüfung und besonders war ich ständig bei Montage auf der Brücke. Ich habe auch Entwürfe für Seitenbrücken auf beiden Rheinufern gemacht und deren Ausführung überwacht. 1906 besuchte mich Johann, der Sohn des hannoverschen Stahlbaufabrikanten Eilers, den ich noch aus der Leibniz-Schule kannte. Er bat mich, für Eilers die Entwürfe für die Ausschreibung zweier Brücken in Kassel, die Fuldaer- und die Hafenbrücke anzufertigen. Ich habe das zunächst abgelehnt, weil ich kaum Zeit hatte, und schließlich doch zugestimmt. Die Arbeit konnte ich erst nach Feierabend um 18 Uhr bis spät in die Nacht durchführen.
Nach drei Monaten sollte der Entwurf abgeliefert werden. Es gelang mir sogar, für beide Brücken je zwei Entwürfe fertigzustellen: Einen einfachen, billigeren Entwurf und einen mehr künstlerischen. Die beiden anspruchsvolleren Entwürfe bekamen für beide Brücken den ersten Preis. Der Firma Eilers wurde die Ausführung für die Hafenbrücke übertragen. Die Fuldaer Brücke wurde in Stein nach dem zweiten Preis ausgeführt [also nicht, wie Opa es vorgesehen hatte, als Stahlkonstruktion, aber auf Grundlage seines Entwurfs].“
Die Arbeit in Ruhrort gefiel Großvater nach wie vor. Er konnte durch sie seine Fähigkeiten und Kenntnisse erweitern.
Für seine Familie war diese Zeit nicht so gut:
„Wir mussten gleich von Duisburg nach Ruhrort ziehen, eine sehr hässliche Stadt, die außerdem umgeben war vom Rauch und Qualm der Schornsteine, auf der Rhein- und Hafenseite der Schiffe, auf der Fabrikseite durch Schlote. Da gediehen weder Bäume noch Blumen. Meine Frau musste mit den Kindern – 1906 war ja auch noch Tochter Elli geboren worden – sehr weit rheinabwärts gehen, um auf einer grünen Wiese sitzen zu können.“
Für meine kultivierte Großmutter war das schlimm. Sie war allem Schönen zugetan, den Künsten und vor allem der Natur. Diese Naturverbundenheit hat sich über meine Mutter auf uns drei Kinder vererbt. Ich kann mir gut vorstellen, wie schrecklich es für Großmutter gewesen sein muss, in Ruhrort zu leben. Großvater zog daher mit der Familie wieder nach Duisburg um, wo es noch Grün gab.
Im Jahre 1907, als die Arbeit an den Rheinbrücken fast zu Ende war, beschloss die Familie nach Hannover zurückzukehren. Opa wollte dort ein Ingenieurbüro für Stahlbau eröffnen.
„Das Angebot, die Arbeit als Oberingenieur bei MAN und der Gute-Hoffnung-Hütte zu übernehmen, hatte ich abgelehnt.“