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Medizinische Sprichwörter
faszinieren wegen ihrer
Vielfalt, Originalität und Weisheit.
R. Bouissou
Trotz dieser Faszination sind Medizinische Sprichwörter als eigenständige Gattung der Sprichwortforschung (Parömiologie) noch nicht so bekannt wie andere Sprichworttypen. Dabei übertrifft im Deutschen allein schon die Anzahl medizinischer Sprichwörter bei weitem die von Bauernregeln (Regen an Alexe wird zur alten Hexe) oder Rechtssprichwörtern (Wer da kommt, der Landsmann ist, der nimmt den Kauf in Jahresfrist). Denn während dieses Lexikon fast 5000 volkstümliche Gesundheitsregeln verzeichnet, weisen die gängigen Sammlungen von Wetter- bzw. Rechtsregeln meist nicht einmal halb so viele Einträge auf. So erschließt etwa Ruth Schmidt-Wiegands verdienstvolles Werk Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter (SWG1) die Bedeutung von rund 1800 Fundstellen.
Wenn man bedenkt, dass einem seine Gesundheit normalerweise wichtiger ist als Wetter oder Recht (Gesundheit ist das höchste Gut), verwundert das häufigere Vorkommen von Gesundheitssprichwörtern keineswegs. Was einigermaßen erstaunt, ist jedoch, dass bei der Vielzahl solcher Sprüche die Wissenschaft sich nicht eingehender mit ihnen befasst hat. Das bedauerte schon 1931 der spätere »Leiter der internationalen Parömiologie« (s. KSI, 40), der Amerikaner Archer Taylor. (s. TAY, 124) In neuerer Zeit wies dann u. a. die Dialektlexikographin Renate Herrmann-Winter darauf hin, dass die Erforschung von Gesundheitsregeln »in der Parömiologie zu Unrecht bislang am Rande stand.« (s. HMW I, n. pag.)
Die Gründe hierfür liegen wohl vornehmlich am weit verstreuten und (ohne Internet!) oft kaum zugänglich gewesenen Material. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich hier um eine interdisziplinäre Thematik handelt, die zumindest philologische, medizinische und historische Komponenten hat. Und so näherte man sich – wenn überhaupt – dem Gegenstand meist mit dürftigen Resultaten. |10| Die wenigen Arbeiten, die sich dem Thema »Gesundheit im Sprichwort« widmeten, boten oft nur ein Sammelsurium von Aussagen, die irgendwie mit Medizin zu tun haben. Auf klare Begriffsbestimmungen oder Abgrenzungen, z. B. zu Redensarten, sowie sprach- oder medizinhistorische Erläuterungen stieß man in den seltensten Fällen.
Mit einer diachronen Untersuchung zur vergleichenden Parömiologie (s. SEI II), zu der aus Finnland der damalige »Sprichwort-Papst« Matti Kuusi schrieb: »Ich hoffe, man hat ihre Bedeutung auch schon in Mitteleuropa erkannt«, wurde dann 1982 erstmals versucht, den Terminus »Medizinisches Sprichwort« als feste Größe in der Forschung zu etablieren und ein erstes diesbezügliches Inventar für das Deutsche (und Englische) zu erstellen.
Eine umfassendere Bestandsaufnahme des medizinischen Sprichwortschatzes im Deutschen hat es seitdem nicht mehr gegeben. Um so weiter trachtet nun dieses Lexikon auszuholen. So konnte etwa das in den vergangenen 25 Jahren zusammengetragene Korpus im Vergleich zu 1982 verzehnfacht werden. Angesichts einer derartigen Materialfülle wird wohl hoffentlich auch der Begriff »Medizinisches Sprichwort« bei uns zum Allgemeingut. In letzter Zeit ist er ja schon vermehrt benutzt worden, u. a. vom heutigen »Sprichwort-Papst« Wolfgang Mieder. (s. etwa MIE V, 142) Mieder hat sich übrigens in längeren Aufsätzen mit medizinischen Sprichwörtern des Englischen befasst (s. MIE III und MIE IV) und die Bedeutung der Sonderform »Medizinisches Sprichwort« in der Parömiologie in seinem Proverbs: A Handbook eigens hervorgehoben (s. MIE VI, 27-28).
Was genau bezeichnet nun aber im Deutschen der Ausdruck »Medizinisches Sprichwort«? Zunächst einmal wäre hier der Oberbegriff »Sprichwort« zu klären. Volkskundler rechnen ihn der Erzählforschung (Narrativistik), Linguisten meist der Phraseologie zu. Mitunter werden Sprichwörter auch als »Volkspoesie« bezeichnet, was ihre Zuordnung zur Lyrik bzw. Literaturwissenschaft nahelegen würde. Doch dazu gehören schon eher Weisheiten wie literarische Zitate, Maximen, Sentenzen oder Sinngedichte, bei denen der Urheber bekannt ist. (s. u. a. SEI II, 15) Das gilt übrigens auch für Aphorismen, den »Sprichwörtern der Gebildeten«. Mit anonymen Volksweisheiten hingegen beschäftigen sich vorrangig die eigentlichen Spezialisten, nämlich Parömiographen (Sprichwortsammler) und Parömiologen (Sprichwortforscher). Und so kann für Parömien die von Wolfgang Mieder erstellte Arbeitsdefinition als Leitlinie dienen: »Sprichwörter sind allgemein bekannte, festgeprägte Sätze, die eine Lebensregel oder Weisheit in prägnanter, kurzer Form ausdrücken.« |11| (RMD, 3) »Allgemein bekannt« muss sich dabei nicht unbedingt auf die Gegenwart beziehen, da manche einst sehr populäre Sprichwörter – insbesondere medizinischer Art – heutzutage nicht mehr in Umlauf bzw. allen geläufig sind. Unabdingbar ist indes, dass es sich um einen »festgeprägten Satz« handelt. Haben wir es mit einem offenen, veränderbaren Satzteil zu tun, liegt eine »Redensart« vor. So wäre etwa »einem den Star stechen« (s. RHR III, 1528 ) eine Redensart und Wenn man den Star heilen will, muss man nicht den Kopf abschlagen (Nr. 3883) ein Sprichwort. Demnach ist ein Volksreim wie Bier auf Wein – das lass sein keineswegs eine Redensart, wenngleich er z. B. im Internet-Gästebuch des WDR wiederholt als solche bezeichnet wird. (s. WDR VIII) Von anderen dort vorzufindenden Bezeichnungen für diesen Merksatz, nämlich »Regel«, »Sinnspruch« und »Trinkspruch« sind zudem die beiden letztgenannten auch eher unzutreffend.
Denn ein Trinkspruch, neudeutsch »Toast« genannt, ist eine Aufforderung zum Trinken (»Auf einem Bein kann man nicht stehen!«), die oft mit einem spezifischen Wunsch nach Wohlergehen verbunden ist (»Prost!«). Und ein »Sinnspruch« wäre in erster Linie ein literarischer Begriff, der mitunter mit Aphorismus, Sentenz, Bonmot, aber auch mit Epigramm gleichgesetzt wird. Letzteres stellt eine poetische Form dar und war als Priamel bzw. Vielspruch mit Ankündigung im 14.-16. Jahrhundert und als Sinngedicht im 17. Jahrhundert derart populär, dass bisweilen Sprichwörter daraus entstanden. Überhaupt sind die Grenzen zwischen den verschiedenen Genres manchmal fließend. So wurde etwa eine Priamel wie »Vor zweymal gekochter Speiß, |Vor einem Doktor, so nichts weiß, | Und vor einem bösen Weib, | Behüt o Herr Gott meinen Leib« (s. ZZM, 825) oder der Vielspruch mit Ankündigung Drei Dinge erhalten die Gesundheit fein: Brot von gestern, Fleisch von heute und vorjähriger Wein (Nr. 1570 ) sprichwörtlich. Längere Vielsprüche fallen allerdings mehr in den Bereich der Gnomik bzw. der Sittensprüche.
Der Terminus »Spruch« ist also ein vielschichtiger Kollektivbegriff, der nicht nur Sprichwörter einschließt. Das heißt, nicht jeder Spruch (Zauberspruch, Bannspruch, Sangspruch, Vielspruch, Weisheitsspruch, Wandspruch, Sittenspruch, Grabspruch, Trinkspruch, Sinnspruch, Werbespruch, Schützenspruch, Reiterspruch, Urteilsspruch, Segensspruch, Wahlspruch, SMSSpruch, Sponti-Spruch) ist ein Sprichwort. Allerdings schaffen manche Sprüche (z. B. aus der Werbung) den Sprung zum Sprichwort und selbst die meist aus Sagen stammenden »Pestsprüche« von einst, z. B. Trinkt Baldrian, sonst müsst ihr alle dran! (Nr. 524), erzielten oft die dafür notwendige »Volkläufigkeit«: »In den meisten Fällen ist offenbar die Sage in Vergessenheit geraten, nur der gereimte Spruch lebt noch weiter.« (MZL I, 255)
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Das obenerwähnte Bier auf Wein, das lass sein ist demzufolge – wie jedes Sprichwort – zugleich ein Spruch, allerdings kein Trinkspruch. Es könnte aber sehr wohl als Trinkregel bzw. Regel firmieren. Doch auch bei einer Regel gilt dasselbe wie für den Spruch: Es kann sich um ein Sprichwort handeln, muss es aber nicht. So hat beispielsweise die »Goldene Regel« der Ethik, nämlich Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu, durchaus sprichwörtlichen Charakter; bei den meisten der sogenannten »Mondregeln« (s. Nr. 1840 und 3034) ist das hingegen nicht der Fall. Dass eine Regel beileibe nicht immer sprichwörtlich sein muss, ist schon an Komposita wie Ordensregel bzw. Verkehrsregel ersichtlich. Desgleichen gehören Lebensregeln wie auch Gesundheitsregeln nicht von vornherein zur Kategorie »Sprichwort«. Eine Publikation mit dem Titel Antike Lebensregeln (s. HMR) enthält z. B. kaum ein Sprichwort. Und bei den »Internationalen Gesundheitsregeln« der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist der Volksmund ebenfalls nicht mit im Spiel (s. VNT, n. pag.); vielmehr handelt es sich um Bestimmungen bzw. ein Regelwerk für staatliche Behörden zur Bekämpfung von Krankheiten, was sich der Originalbezeichnung international health regulations noch eindeutiger entnehmen lässt. Wichtige Gesundheitsregeln stellte 1893 auch der Augsburger Königliche Gymnasialprofessor P. B. Sepp in einem überaus erfolgreichen Bändchen zusammen. Doch ging es dabei wieder nicht um Parömien, sondern – wie die Augsburger Abendzeitung damals schrieb – um »die wichtigsten allgemein anerkannten hygienischen Vorschriften.« (zit.n. SPP, 20) Eine davon lautet: »Auf der Strasse überhaupt, besonders aber wenn du aus dem warmen Wohnzimmer oder aus der Schule kommst, sollst du längere Zeit den Mund geschlossen halten.« (SPP, 11) Das ist zwar eine dieser »wichtigen Gesundheitsregeln«, aber keine volkstümliche. Im Volk kursiert(e) die Regel in gereimten Formen: Mund geschlossen, Potschi offen, hat der Doktor nichts zu hoffen (Nr. 930) sowie Die Zähne vor die Zunge erhält gesund die Lunge (Nr. 2770) . Ein Jahrhundert früher wiederum erwähnte der Verfasser des »kategorischen Imperativs« (als dessen volkstümliche Variante ja gemeinhin die vorhin zitierte »Goldene Regel« gilt) gleicherweise eine »gewisse Gesundheitsregel«, die er sich selber zum obersten Grundsatz seiner Lebensführung gemacht habe: »Ein jeder Mensch hat seine besondere Art gesund zu seyn, an der er, ohne Gefahr, nichts ändern darf.« (zit. n. IKP, n.pag.) Dieses persönliche Verhaltensprinzip Immanuel Kants mag zwar als Gesundheitsregel gelten, zu den Phraseologismen zählt es jedoch gewiß nicht. (siehe dazu aber Nr. 1621) Wenn man noch weiter zurückgeht, dann findet man in mittelalterlichen Traktaten oder volksmedizinischen Schriften so manche »Gesundheitsregel«, die nie in den Volksmund gelangte, so z. B. »Die Luft, darin |13| du wohnst sey liecht, rein von gift und stinke nicht« (VAR, n.pag.). Ebenso verhält es sich etwa mit den »Gesundheitsregeln der mittelalterlichen Nonne.« (WZL, 49) Gemeint sind damit die heilkundlichen Empfehlungen der Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert. Sie konnten jedoch als solche kaum sprichwörtlich werden: die Benediktiner-Äbtissin hatte sie in lateinischer Prosa verfasst. Ihre erst nach Jahrhunderten ins Deutsche übersetzten »Regeln« blieben somit meist reine Buchweisheiten.
Bei den einschlägigen Büchern enthält nun der sogenannte Große Zoozmann als wohl einzige Sammlung nicht nur »Sprichwörter, Redensarten, Aphorismen, geflügelte Worte, Epigramme, Inschriften, Kinderreime, Totentanzverse, Grabinschriften«, sondern explizit auch »Gesundheits-, Wetter- und Bauernregeln«. (ZZM, Coverrückseite) Mit dem speziellen Attribut »alte Gesundheitsregel« sind dort allerdings nur 9 von insgesamt 13 000 (!) Belegen versehen:
1) Offener Darm hält den Doktor fern. (S. 165)
2) Gut kauen ist halb verdauen. (S. 440)
3) Arbeit, Mäßigkeit und Ruh | Schließt dem Arzt die Türe zu. (S. 509)
4) Ruh und Rast | Ist die halbe Mast! (S. 509)
5) Baldrian und Bibernell | Heilt die Pestilenz zur Stell. (S. 582)
6) Wenn es am besten schmeckt, soll man mit dem Essen aufhören. (S. 668)
7) Schmieren und Salben | Hilft allenthalben. (S. 670)
8) Wer schwach ist, muß Kraut essen. (S. 682)
9) Kopf kalt und Füße warm, | Macht jeden Doktor arm. (S. 822)
Die verblüffend geringe Anzahl (weniger als 0,2 %) unterstreicht die vorhin gemachten Ausführungen über die mangelnde Erforschung bzw. Zugänglichkeit medizinischer Sprichwörter, wiewohl solche bei Zoozmann auch noch unter anderen Bezeichnungen als die einer »Gesundheitsregel« zu finden sind. Auf jeden Fall haben wir es bei den neun Regeln letztendlich mit der Thematik zu tun, um die es in diesem Lexikon geht. Allesamt sind nämlich VOLKSTÜMLICHE bzw. SPRICHWÖRTLICHE Gesundheitsregeln, mithin solche, die im Volke mehr oder minder häufige Verbreitung erfahren (haben) und nicht nur als bloße Verhaltensregeln in Gesundheitsbüchlein jedweder Art oder anderen gedruckten Werken aufgestellt wurden.
Bei einer Regel handelt es sich nun meist um eine Vorschrift bzw. ein Verbot, zumindest aber um einen ausdrücklichen Rat oder eine allgemeine Empfehlung. Das gilt, wie aus dem eben Dargelegten zu ersehen, sowohl für eine Gesundheitsregel à la Kant wie auch für eine volkstümliche Gesundheitsregel. Doch nur bei letzterer ist es der Volksmund, der den Rat weitergibt. Es |14| liegt dann also ein Sprichwort vor. Aber auch ein medizinisches? Hierzu wäre zunächst einmal mit einem Buchtitel zu fragen: Was ist Medizin? (s. USD). Wenn man – wie das bereits die Ärzteautoritäten der Antike und des Mittelalters getan haben – Medizin als die Wissenschaft von dem Gesunden und dem Kranken bezeichnet, bei der es darum geht, die Gesundheit zu schützen oder die Krankheit loszuwerden (s. SPS II, 107 und USD, 18), so gelangt man zu folgender Definition:
Ein medizinisches Sprichwort ist ein sprichwörtlicher Rat zum Erhalten oder Erlangen der Gesundheit.
Das deckt sich mit der einschlägigen Aussage Russell Elmquists, der für das gängige englische Pendant medical proverb bereits 1934 folgendes postulierte: »Proverbs which advise concerning physiological matters…may be considered medical proverbs in the narrow sense.« (EMT, 75) Ganz in diesem Sinne gebraucht denn auch Renate Herrmann-Winter für medizinische Sprichwörter die treffende Umschreibung »volksmedizinische Ratschläge in Sprichwortform.« (HMW I, n. pag.)
Die sechs Termini
– medizinisches Sprichwort
– Gesundheitssprichwort
– sprichwörtliche / populäre / volkstümliche Gesundheitsregel
– volksmedizinischer Ratschlag in Sprichwortform
können demnach als gleichwertige Synonyme gelten, die allesamt dasselbe bezeichnen, so wie etwa Bauern- und Wetterregel einerseits bzw. Wellerismus und Sagwort andererseits meist austauschbare Begriffe sind.
Wird der Rat dann direkt gegeben, bringt es der Volksmund oft »auf den Punkt«. Kann man etwa eine Empfehlung wie »Wer an Altersprostatitis leidet, sollte sexuelle Enthaltsamkeit praktizieren« treffender ausdrücken als mit Wenn man sich auf die Stiefeln pisst, ist’s Zeit, dass man all Buhlschaft misst (Nr. 3917)? Noch direkter wird die Einstellung sexueller Aktivitäten in den folgenden zwei Sprüchen angemahnt, wobei aber andere Vorzeichen genannt werden: Fängt der Bart an, weiss zu sein, lass die Frau und trinke Wein (Nr. 539) bzw. Wenn man fünfzig Jahre alt ist, muss man die Hosenklappe zumachen und eine Flasche mehr trinken. (Nr. 2053)
Medizinische Sprichwörter können Ratschläge aber auch indirekt erteilen. So hat man für die gerade angeschnittene Thematik durchaus Rezepte |15| parat. Eines lautet: Gelee von der Quit’ macht Alte noch fit! (Nr. 3371) Hier wird also indirekt Quittengelee als Aphrodisiakum empfohlen. Auch der Erfahrungssatz Mancher ging ins Bad gesund und kam zurück als kranker Hund (Nr. 496) enthält zugleich eine indirekte Warnung vor dem einst so populären Besuch öffentlicher Badestuben, die in der Periode ihres Niedergangs zu Ansteckungsherden für Krankheiten bzw. zu Vergnügungsorten mit ähnlichen Folgen (Syphilis) geworden waren. Ebenso impliziert die bloße Feststellung Wer in Sümpfen wohnt, wird mit dem Fieber belohnt (Nr. 3933), dass man sich (wegen des einstigen Malariarisikos) tunlichst woanders niederlassen soll.
Als medizinisch sind zudem die Sprüche einzustufen, in denen nicht nur auf eine Gefahr für den Leib, sondern sogar für das Leben hingewiesen wird. Schließlich ist dies wohl das extremste Gesundheitsrisiko überhaupt. Der Todesgefahr muss dabei nicht unbedingt eine Krankheit vorausgehen: Tiefe Schwimmer, hohe Klimmer sterben auf den Betten nimmer (Nr. 3730) bzw. Wer aus allen Brunnen trinkt, kann leicht den Tod haben (Nr. 779). Hierzu zählen auch in Sprichwörtern mitgeteilte Anzeichen eines baldigen Todes, wie etwa Wenn entweder der Mann oder die Frau eine weiße Leber hat, so stirbt einer von beiden. (Nr. 2627) Diese medizinischen Weissagungen können zugleich als Warnung dienen: Sieh dich vor!
Nicht berücksichtigt sind hingegen banale Feststellungen wie Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen bzw. Gesundheit ist der größte Reichtum nebst ihren vielen Varianten. Diese eher philosophischen Aussagen genügen den vorhin aufgestellten Kriterien für volkstümliche Gesundheitsregeln ebensowenig wie etwa der früher beliebte Reim Ist der Kranke genesen, zahlt er ungern die Spesen. (BEY, 610) Desgleichen zählt nicht jedes Sprichwort von Ärzten (Hypotoniker leben lang und schlecht, Hypertoniker kurz und gut) und über Ärzte (Besser der Doktor spricht’s Leben ab als der Jurist) zu den medizinischen Sprichwörtern. (s. ANZ, n. pag. und WAN I, 668)
Bei letzteren geht es ausschließlich um Belange der Humanmedizin. Veterinärmedizinische Weisheiten wie Wider Rotz und Spat ist kein Rat (BEY, 475) oder Im Sommer vier Wochen Disteln und im Herbst vier Wochen Möhren halten den Tierarzt aus dem Pferdestall (WAN V, 1735) sind hier also irrelevant. Das ist auch bei heilkundlichen Zaubersprüchen wie Beschwörung, Segen und Gebet der Fall. Denn Heilformeln wie Häcker, Häcker, reit über d’Äcker, reit über die Brach, reit den alten Weibern nach (RHR I, 613) sind nicht als Gesundheitssprichwörter zu klassifizieren, auch wenn mit ihnen meist Krankheiten o. ä. (im genannten Fall der Schluckauf) vertrieben werden sollen. Hier sei auf die einschlägige Arbeit von Hampp verwiesen. (s. HMP) |16| Die 4715 Fundstellen an medizinischen Sprichwörtern speisen sich nun aus folgenden Hauptquellen:
– Sprichwortsammlungen
Die bei weitem umfangreichste Sammlung ist nach wie vor das zwischen 1867 und 1880 in fünf Bänden erschienene Monumentalwerk des Schlesiers Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon (WAN I-V). Es ist in der Tat »für jede wissenschaftliche Beschäftigung mit dem deutschen Sprichwort als Belegquelle unentbehrlich« (RMD, 44) und liegt inzwischen zugleich als CD-ROM vor. Eine Überprüfung der mehr als 250 000 Einzeleinträge (!) förderte demnach auch viele medizinische Sprichwörter zutage. Natürlich hatte Wander »als größter Sprichwörtersammler aller Zeiten« (GTR, 235) bereits nahezu sämtliche bis dahin erschienenen Sammlungen ausgewertet, darunter die frühesten von Franck (1541) und Lehmann (1630), welche übrigens von Mieder neu herausgegeben wurden (s. MIE I und MIE II). Berücksichtigt sind bei Wander auch die bedeutenden Sammlungen von Körte und Eiselein, die wegen ihrer kulturellen und sprachlichen Anmerkungen für die vorliegende Publikation aber extra durchgesehen wurden. (s. KTE bzw. EIS) Letzteres gilt gleichermaßen für die populärste und am meisten gebrauchte Sprichwörtersammlung, nämlich die von Simrock (SRK). Zum Teil neues Material fand sich dann z. B. in den einige Jahrzehnte nach Wander veröffentlichten Sammlungen von Lipperheide (LPH) und Zoozmann (ZZM). Nicht so ergiebig erwies sich indes das einschlägige Lexikon von Harenberg, das sich zwar laut Untertitel »Mit 50 000 Einträgen das umfassendste Werk in deutscher Sprache« nennt (s. HBG), dabei wohl aber mehr Zitate als Sprichwörter enthält. Bei den modernen, d. h. in neuerer Zeit erschienenen Sprichwörtersammlungen nimmt daher Beyer mit 15 000 Belegen, die für unsere Zwecke allesamt auf ihre medizinische Relevanz hin überprüft wurden, immer noch den Spitzenrang ein (s. BEY).
– Fachliteratur zu »Gesundheit im Sprichwort«
Nachfolgend in chronologischer Reihenfolge die relevantesten Werke und Aufsätze, die sich mehr oder minder gezielt mit dem Thema »Gesundheit und Krankheit in deutschen Sprichwörtern« befassen und in diese Arbeit Eingang gefunden haben. Die Zahl verweist auf das Jahr des Erscheinens, der Name auf Autor oder Herausgeber und das Sigle auf die vollständigen bibliographischen Angaben im Quellenverzeichnis:
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1718: Baier (BAI) | 1964: Ries (RIE) |
1797: Bücking (BCG) | 1964: Hackmann (HKM) |
1806: Bremser (BRS) | 1971: Bouissou (BOU I) |
1894: Hertel (HTL) | 1979: Seidl (SEI I) |
1924: Zimmermann (ZIM) | 1982: Seidl (SEI II) |
1930: Ruediger (RDG) | 1984: Hohenadel (HHA) |
1931: Ebstein (EBN) | 1984: Allgeier (AGR) |
1950: Hoffmann (HOM) |
Bezeichnenderweise stammt die Mehrzahl der Verfasser aus der Ärzteschaft und nicht dem philologischen Bereich. Dies gilt z.B. für Baier, Bremser und Bouissou. Zu Baier wäre anzumerken, dass seine auf Latein abgefasste Pionierarbeit auch deutschsprachige Zitate enthält, während der Wiener Arzt Bremser wohl einer der ersten war, der explizit den Begriff »Medizinische Sprichwörter« benutzte, wenngleich noch in längerer Form: »Medicinisch-diätetische Sprichwörter« (s. BRS). Eine Sonderstellung nimmt hier der französische Marinearzt Roger-Pierre Bouissou ein. Bei seinem diesbezüglichen Aufsatz von 1971, aus dem auch das dieses Lexikon einleitende Zitat über die Faszination medizinischer Sprichwörter stammt (s. BOU I, 3), handelt es sich augenscheinlich um eine Übersetzung vom Französischen ins Deutsche, bei der gleichwohl das Herkunftsland der angeführten Sprichwörter immer vermerkt ist. Damit war es möglich, diese Quelle auch für deutsche Gesundheitssprüche heranzuziehen. 1999 hat Bouissou dann seine einschlägigen Forschungen in erweiterter Form als Buch veröffentlicht: Sagesse des nations et proverbes médicaux (s.BOU II). Im Hinblick auf den medizinischen Sprichwortschatz anderer Länder bzw. Sprachen wären übrigens für das Französische noch Loux / Richard (s. LXR), für das Englische Seidl und Mieder (s. SEI I-II bzw. MIE III-IV) und für das Griechische Rigatos (s. RGS) als neuere Publikationen zu nennen.
– Online-Quellen
Als ein wahrer Segen erweist sich für Parömiologen der »moderne Volksmund«, das Internet. Dort kann man anhand von Stichworten gezielt nach Parömien suchen, so dass sich mancher Einzelbeleg in Quellen entdecken läßt, in denen man a priori nicht unbedingt Sprichwörter vermutete. Manche hier verzeichnete Fundstelle wäre ohne das Internet gewiss nicht aufgespürt worden. So finden sich im Literaturverzeichnis über 500 benutzte Online-Quellen. Die einschlägigen Sprichwortsammlungen im Internet wurden hier |18| allerdings weniger herangezogen, da die meisten Sprüche ja bereits anderweitig erfasst waren. Zurückgegriffen wurde jedoch hie und da auf die Website www.sprichwort.ch, die auch wissenschaftlichen Anforderungen genügt. So wird etwa beim Stichwort »Verdauung« klar zwischen deutschem Sprichwort (»Nach dem Essen sollst du ruhn oder tausend Schritte tun«) und chinesischem (»Nach dem Essen dreihundert Schritt und du brauchst keine Apotheke«) unterschieden. (s. SHT, n. pag.) Im übrigen sei für die Sprichwortforschung generell auf die Homepages von www.deproverbio.com sowie http: / / faculty. gordon.edu / hu / bi / ted_hildebrandt / OTeSources / 20-Proverbs / Text / Bibliography / Proverbs-Bibliography.htm hingewiesen.
– Werke über Heilkräuter, Aberglauben und Volksmedizin
Die Phytotherapie hat von jeher eine große Rolle in der Medizin gespielt und in letzter Zeit wieder einen enormen Aufschwung erfahren, auch im Wissenschaftsbereich (etwa durch die »Forschergruppe Klostermedizin« an der Universität Würzburg: www.klostermedizin.de). Früher konsultierte man bei Krankheiten oft Kräuterweiber bzw. »weise Frauen«; man benutzte Pflanzen aber auch prophylaktisch, wie etwa an dem Reim Ramsen im Mai, das ganze Jahr keine Arznei (Nr. 3374) ersichtlich ist. Die bekannten Kräuterbücher des Mittelalters und der frühen Neuzeit listen jedoch kaum einschlägige Sprüche auf. Anders verhält es sich hier insbesondere bei Marzell ((s. MZL I-II). Manche Kräuter galten zudem als apotropäisch, d. h. zauberabwehrend. Schließlich glaubte man einst, dass einem Hexen Krankheiten anhexen konnten (»Hexenschuss«), bestimmte Pflanzen die »bösen Weiber« jedoch auf Distanz hielten: Rote Dost und Dorant ist den Hexen ihr Untergang (Nr. 1895).
Abergläubisches findet sich natürlich auch in vielen anderen Bereichen der Medizin. Bis ins 19. Jahrhundert hielt man z. B. Menschenfett für ein probates Arzneimittel: Zerlassen Menschenfett ist gut vor lahme Glieder, so man sie damit schmiert, sie werden richtig wieder (Nr. 2977). Die Hauptquelle für auf Aberglauben beruhende Sprüche bildete hier natürlich Bächtold-Stäubli (BDS I-X). Auf vielen der 15 000 Seiten seines 10-bändigen Handwörterbuchs fand sich auch sprichwörtliches Material.
Dasselbe gilt für die herangezogenen Publikationen über Volksmedizin. Schließlich hatte früher nur eine Minderheit Zugang zu Ärzten: »Heilkunst um 1800 war noch keine ausschließliche Domäne von Ärzten bzw. Tierärzten. Auch Menschen ohne medizinische Ausbildung versuchten mittels überlieferter Rezepte und Sprüche gegen allerlei Krankheiten bei Mensch und Vieh |19| vorzugehen.« (HLR, n. pag.) Die verwendeten Werke über Volksmedizin hatten meist eine spezielle Region als Untersuchungsgegenstand:
Schwaben | = | Buck (BCK) |
Franken | = | Büttner (BTR) |
Frankenwald | = | Flügel (FLG) |
Steiermark | = | Fossel (FOS) |
Oberbayern | = | Höfler (HFR) |
Oberpfalz | = | Höser (HSR) |
Oberfranken | = | Jäckel (JCL) |
Bayern | = | Lammert (LMT) |
In überregionaler, ja internationaler Hinsicht ist das Standardwerk natürlich v. Hovorka / Kronfelds Vergleichende Volksmedizin (HKD I-II). Ihre zwei voluminösen Bände waren aber durchaus auch für zahlreiche deutsche Sprüche von Belang, so etwa bei Eichenrinde, mit Milch gesotten, widerstrebt allen Giften (Nr. 1009). Dieses Sprichwort ist nur hier und sonst in keiner Sammlung verzeichnet. Bei den Veröffentlichungen über Regionen fand sich naheliegenderweise auch manch »endemischer« Spruch, wie etwa Wer flickt an Thoma, der muss derkrumma und derlohma (Nr. 3992). Diese Warnung für den Thomastag mag einerseits damit zusammenhängen, dass der Heilige der Schutzpatron der Bauleute ist. Andererseits galt der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres, seit jeher als unheimlich, ja sogar als Unglückstag, an dem man sich vorsehen muss. Wir haben es hier also mit einem medizinischen Aberglauben zu tun, dessen Wurzeln weit zurückreichen und der im Volke selbst entstanden sein dürfte.
Der Volksmund war allerdings nicht bei allen Gesundheitssprichwörtern der Urheber. Manche Weisheiten leiten sich ganz offensichtlich von Lehren der Schulmedizin her und stellen somit »gesunkenes Kulturgut« dar. Das beste Beispiel hierfür liefert zweifellos die Medizinschule von Salerno. Zu dem bei Neapel gelegenen Ort heißt es in der deutschen Nachdichtung eines italienischen Verses: »Hätte Salerno einen Hafen, legte sich Neapel schlafen.« (WAN V, 1694) Die andere bedeutende Medizinhochschule des mittelalterlichen Abendlandes taucht sogar explizit im deutschen Sprichwortgut auf. Der bei »landläufiger« Aussprache gereimte Spruch besagt, dass selbst dort aus einem Narren kein Gebildeter werden könne: »Man treib’ einen Farren nach Montpellier; Kommt er wieder, er bleibt ein Stier.« (WGR, 37) Das südfranzösische Montpellier galt also damals als Inbegriff für die Güte der vermittelten akademischen Ausbildung. Salerno erzielte jedoch noch zusätzlich eine immense Wirkung auf die breiten Volksmassen in Europa, und zwar durch ein besonders für Laien gedachtes Lehrgedicht, das im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte vom Lateinischen |20| in viele Landessprachen übertragen und dabei oft stark erweitert wurde. »Als das große Gesundheitsbuch des lateinischen Mittelalters imponiert uns auch heute noch das ›Regimen Sanitatis Salernitanum‹, das Buch der Gesundheit aus der Schule von Salerno.« (SPS IV, 268) Die zahlreichen Ausgaben »entwickelten sich im Mittelalter zu regelrechten Bestsellern, nicht zuletzt aufgrund ihrer humorvollen Merksätze und Lebensregeln.« (RDD, 59) Diese Salernitanerregeln, »aus denen sich bekannte Sprichwörter ableiten« (Ebd., 58), sind in ihrer lateinischen Urfassung wohl im 11. oder 12. Jahrhundert entstanden. In der Tat trug das »volkstümlichste Gesundheitsbuch des hohen und späten Mittelalters« (SPS III, 246) zum Aufkommen vieler europäischer Gesundheitssprüche bei.
Die folgenden Medizin-Sprichwörter des Deutschen lassen sich sogar bis auf die ältesten Versionen des Flos Medicinae, wie dieses Vademekum der Diätetik auch noch genannt wurde, zurückführen:
Nr. 24: | Aus einer langen Abendmahlzeit erwächst dem Magen das größte Leid. Ex magna coena stomacho fit maxima poena. (SAL II, VII) |
Nr. 32: | Wer will eine ruhige Nacht, dessen Abendtisch sei leicht bedacht. Ut sis nocte levis, sit tibi cena brevis. (SAL II, VII) |
Nr. 377: | Doktor Maß, Doktor Stille und Doktor Frohmann sind die größten Ärzte. (Si tibi deficiant medici, medici tibi fiant haec tria, mens laeta, requies, moderata diaeta. (SAL II, I) |
Nr. 456: | Fenchel, Eisenkraut, Rosen, Rauten, Schelkraut macht die Augen lauter. (Feniculus, verbena, rosa, chelidonia, ruta: ex istis fit aqua, quae lumina reddit acuta. (SAL II, LXXVI) |
Nr. 665 : | Auf eine Birn’ ein Trunk. Adde potum piro…post pira da potum. (SAL II, XXXVII) |
Nr. 667: | Birn’ ohne Wein sind lauter fenein. Sine vino sunt pira virus. (SAL II, XXXVII) |
Nr. 671: | Gekochte Birnen sind gesund und gut, und schaden, so man sie roh essen tut. Si coquas, antidotum pira sunt, sed cruda venenum. (SAL II, XXXVII) |
Nr. 762: | Von warmem Brot bekommt man Bauchschmerzen. De pane…Panis non calidus. (SAL II, XXIII) |
Nr. 1000: | Auf ein Ei gehört ein Trunk, auf den Apfel ein Sprung. (Singula post ova pocula sume nova…post pomum vade faecatum. ((SAL II, XXXVI u. XXXVII) |
Nr. 1016: | Eier von heute, Brot von gestern und vorjähriger Wein am besten gedeihn. (Ova recentia, vina rubentia, pinguia iura, cum simila pura, naturae sunt valitura. (SAL II, X) |
|21| Nr.1217: | Nach Fischen Nüss’, nach Fleisch Käse iss. |
Post pisces nux sit, post carnes caseus adsit. (SAL II, XXXVII) | |
Nr. 1555: | Käs’ und Brot ist den Gesunden eine Arznei. |
Caseus et panis, bonus est cibus hic bene sanis. (SAL II, XXXV) | |
Nr. 1787: | Halte den Harn zurück nicht zu lang, regt sich’s im Darm, folge dem Drang. |
Non mictum retine. (SAL II, I) | |
Nr. 1854: | So du wilt deiner gsundheit pflegen, lass’s Herbstmonats frücht vnderwegen. |
Autumni fructus caveas; ne sint tibi luctus. (SAL II, XVIII) | |
Nr. 1968: | Der Hund, der mich abends beißt, muss mich morgens wieder lecken. |
Nr. 1983: | Auf des Hundes Biss Hundshaar nit vergiss, und auf viel Wein, lass Wein das beste Pflaster sein. |
Si tibi serotina noceat potatio vini, hora matutina rebibas, et erit medicina. (SAL II, XVI) | |
Nr. 2169: | Dess Haupts Kälte, Nuss vnd Oel, gross truenck, roh Obs, rauch macht die Keel. |
Nux, oleum, frigus capitis anguillaque, potus ac pomum crudum faciunt hominem fore raucum. (SAL II, LXXVIII) | |
Nr. 2435: | Willst du von Krankheit bleiben frei, meid Sorg, Zorn, Neid. Melancholei. Si vis te reddere sanum, curas tolle graves, irasci crede profanum. (SAL II, I) |
Nr. 3010: | Meid den schlaff zu Mittag, das Feber und unlust folgt jm nach, Wehtum des Haupts, der schnupff darzu, Diß brengt dir alles des Mittags ruh. |
Febris, pigrities, capitis dolor, atque catarrhus: haec tibi proveniunt ex somno meridiano. (SAL II, III) | |
Nr. 3197: | Die erste Nuss ist nützlich, die zweite schädlich, die dritte tödlich. |
De nuce…Unica…prodest, nocet altera, tertia mors est. (SAL II, XXXVII) | |
Nr. 3491: | Salbei im Garten, der Tod kann warten. |
Cur moriatur homo, cui salvia crescit in horto? (SAL II, LVIII) | |
Nr. 3575: | Schlaf nach dem Mittagstisch ist so gesund wie fauler Fisch. |
Sit brevis aut nullus tibi somnus meridianus. (SAL II, III) | |
Nr. 3711: | Auf Schweinefleisch trink guten Wein, willst du bei guter Gesundheit sein. |
Est caro porcina sine vino peior ovina: si tribuis vina, tunc est cibus et medicina. (SAL II, XXIV) | |
Nr. 4090: | Wer von Käse oder Aal gegessen, soll drauf das Trinken nicht vergessen. |
Caseus, anguilla, nimis obsunt si comedantur, ni tu saepe bibas et rebibendo bibas. (SAL II, XXX) | |
Nr. 4113: | Raute und Salbei machen den Trunk frei. |
Salvia cum ruta faciunt tibi pocula tuta. (SAL II, XIX) | |
Nr. 4268: | Willst du bleiben gesund, wasche auch Hände und Mund. |
Si fore vis sanus, ablue sape manus. (SAL II, XXII) | |
Nr. 4458: | Wer Wild zu sehr liebt, der wird wild. |
Caro cervina, leporina, caprina, bovina: haec melancholica sunt, infirmis inimica. (SAL II, IX) |
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Aus späteren, erweiterten Ausgaben des Regimen Sanitatis Salernitanum stammen u. a. diese lateinischen Vorbilder für die entsprechenden deutschen Gesundheitsregeln:
Vinum lac senum. (SAL I, 144) | |
Nr. 112: | Der Wein ist die Milch der Alten. |
Mingere cum bombis Res est salvissima lumbis. (zit. n.ROR, 25) | |
Nr. 233: | Wenn’s Arscherl brummt, is ’s Herzerl gsund! |
Post prandium stabis, post coenam ambulabis. (zit. n. STV, 1102) | |
Nr. 1083: | Nach dem Essen sollst du stehen oder tausend Schritte gehen. |
Sanat, sanctificat et ditat surgere mane. (zit. n. APS, 173) | |
Nr. 1341: | Wer früh aufsteht, bleibt gesund und hat Brot für seinen Mund. |
A cibs bis cocto, a medico indocto, a mala muliere libera nos domine. (zit. n. SPS I, 180) | |
Nr. 1583: | Aufgewärmte Speise, Ärzte, die nicht weise, und die bösen Weiber, sind Gesundheitsräuber. |
A mensa semper cum fame recedendum est. (SAL I, 39) | |
Nr. 2000: | Wenn einen noch hungert, so soll er aufhören zu essen. |
Caseus est sanus quem dat avara manus. (zit. n. RLY, 46) | |
Nr. 2144: | Käs’ ist gut, wenn karge Hand ihn reichen tut. |
Balnea, vina, venus / corrumpunt corpora nostra. / Sed vitam faciunt balnea, | |
vina, venus. (zit. n. SPS III, 247) | |
Nr. 2661: | Drei Dinge dem Leibe nütz und schädlich sein: die Venus, das Bad und der Wein . |
Nr. 2663: | Bad, Wein und Weiber Erquicken unsere Leiber. Bad, Wein und Weiber Verderben unsere Leiber. |
Mit den inhaltlichen Varianten käme man demnach auf Aberhunderte von Medizin-Sprichwörtern des Deutschen, die sich auf Anhieb ganz offenbar von den Gesundheitsregeln der Schola Salernitana herleiten. Darüber hinaus verbirgt sich salernitanisches Gedankengut gewiss noch in einer Vielzahl weiterer Sprüche. Denn die Lehre, die dieser Medizinschule zugrunde lag, wirkte über Jahrhunderte hinweg bis weit in die Neuzeit hinein.
Es handelt sich um das sogenannte Säftekonzept, das von Hippokrates (460-377 v. Chr.) und seinen Schülern ausging und von Galen (129-199) sowie Avicenna (980-1037) verfeinert und tradiert wurde. Zum Verständnis mancher nachfolgender Parömie seien die Grundzüge dieses Lehrsystems hier kurz wiedergegeben (vgl. dazu auch den vom einstigen »Doyen der Medizingeschichte«, Heinrich Schipperges, gutgeheissenen medizinhistorischen Abriss in SEI II, 27-31):
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Von den drei Hauptvertretern der Säftelehre bzw. der Humoralpathologie ist Hippokrates durch den »Hippokratischen Eid« der Ärzte heutzutage wohl bekannter als die im Mittellalter weitaus berühmteren Galen und Avicenna. Von deren einstiger Bedeutung zeugen zumindest noch ihre Erwähnungen im deutschen und spanischen Sprichwortschatz: Galenist und Theophrast sind nicht für des Herzens Prast (Nr. 1890) bzw. Más mató la cena, que sanó Avicena (CAB, 122).
Der Hippokratismus ging nun im Kern von vier Körpersäften aus, denen die 4 (aristotelischen) Elemente Luft, Feuer, Erde, Wasser zugeordnet waren. Im 12. Jahrhundert wurde dann noch die von Aristoteles begründete Temperamentenlehre in das System integriert. Danach resultierte aus der als gegeben vorausgesetzten Dominanz eines Saftes der jeweilige psychosomatische Konstitutionstyp. Die Lehre von den 4 verschiedenen Komplexionen bzw. Temperamenten ist ansatzweise noch heute im Volksglauben anzutreffen. In einem Augsburger Kalender vom Jahre 1480 sind die vier Charaktertypen folgendermaßen in Merkversen beschrieben:
Sanguineus Vnser complexion sind von luftes vil. Darumb sey wir hochmütig one zyl. Colericus Vnser complexion ist gar von feuer Schlahen vnd kriegen ist vnser abenteüer. Melancolicus Vnser complexion ist von erden reych Darumb sey wir schwärmütigkeit gleich. Flegmaticus Vnser complexion ist mit wasser mer getan Darumb wir subtilikeit nit mügen lan. (zit. n. FHR, 91)
Die Elemente und Säfte waren aber in ein viel komplexeres, den ganzen Kosmos mit seinen Planeten umfassendes System eingebettet. Galen betonte dabei u. a. das Wechselspiel der Kräfte bzw. Qualitäten wie feucht, trocken, kalt und warm. Auch die Hauptorgane des Menschen sowie die 4 Jahreszeiten spielten eine besondere Rolle. Das folgende Schema zeigt die Zuordnung einiger wesentlicher Komponenten:
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Um ein ausgewogenes Verhältnis zu gewährleisten, veränderte sich je nach Bedarf die Zusammensetzung der Säfte und Qualitäten im menschlichen Körper. War die relative Ausgewogenheit aber durch den Einfluss innerer oder äußerer Faktoren (z. B. Alter, Klima, Ernährung) nicht mehr gegeben bzw. ein Saft verdorben, lag eine Krankheit vor. Erkenntnisse über die einzuleitenden Therapie-Maßnahmen gewann der mittelalterliche Arzt meist durch die Harnschau: Der Urin bestimmt die Medizin (Nr. 4189). Mittels künstlich herbeigeführter Entleerungen bzw. Ausscheidungen suchte man dann Überflüssiges bzw. Unreines aus dem Körper zu entfernen und damit den vorherigen Zustand der Eukrasie, der adäquaten Säftemischung, wiederherzustellen. Vor diesem Hintergrund sind die einst so populären Praktiken des Aderlassens, Schröpfens oder Abführens zu sehen. Schädliche Stoffe konnten zudem durch Schweiß oder Erbrechen ausgeschieden werden. Das fand sogar im Sprichwort seinen (derben) Niederschlag: Scheiß, spei und schwitz, das ist der Doktor all ihr Witz. (ZIM, 33) Hilfreich, so glaubte man, vermochte dabei selbst ein Fieber zu sein: Fieber im Frühling ist Königsmedizin. (Nr. 1155) Hierher gehört auch »die oft zu findende Lehre, ein einmaliger Alkoholrausch im Monat sei gesundheitsdienlich, weil der daran anschließende Schlaf- und Schweißausbruch das Gehirn von verbrauchtem spiritus befreie«. (DPG, 242) Diese Ansicht, die ebenfalls als Sprichwort kursiert(e), nämlich Ein Rausch im Monat ist gesund (Nr. 3395), geht wohl indirekt auf den Vermittler der antiken Medizin im Abendland, den Verfasser des Canon Medicinae (eines der einflussreichsten Lehrbücher überhaupt), auf den Princeps Medicorum höchstselbst zurück. Avicenna, auch unter seinem arabischen Namen Ibn Sina bekannt und Vorbild für Noah Gordons Weltbestseller Der Medicus, schreibt nämlich in seinem Lehrgedicht über die Heilkunde: »Man hüte sich, längere Zeit hindurch trunken zu sein; man sei es höchstens einmal im Monat.« (OPZ, 199)
Körperausscheidungen bzw. -absonderungen waren also bei der Humoralpathologie einer von sechs wichtigen Aspekten. Die anderen der sogenannnten sex res non naturales erstreckten sich auf das Gemüt, den Schlaf, die Arbeit, Essen und Trinken sowie die Umwelt. Bei all diesen Punkten galt die Einhaltung eines richtigen Maßes, einer goldenen Mitte, als oberstes Gebot. War ein Ausgleich nötig, griff man zum Prinzip contraria contrariis. Man suchte also durch das Gegenteil zu heilen bzw. es erst gar nicht zu einer Krankheit oder Schwächung des Körpers kommen zu lassen. Im warmtrockenen Sommer etwa, dem gemäß obigem Viererschema noch das hitzige Feuer, die Leber als Sitz der Leidenschaften und die in dieser Jahreszeit zunehmende, aufwühlende Gelbgalle zugeordnet waren, bedurfte es |25| daher eines Ausgleichs mittels Kühle und Feuchtigkeit, beispielsweise durch saftige, »feuchtkalte« Kost. Zusätzliche Hitzewallungen – z. B. durch Geschlechtsverkehr – konnten den Körper jetzt nur destabilisieren und waren demzufolge verpönt: Im Juli und August hüte dich vor Frauenlust (Nr. 1278). Da half es auch wenig, dass Frauen als feucht und kalt galten (s. OPZ, 161). Die Warnung vor sommerlichem Beischlaf findet sich überdies in erweiterter Form: Wer im August will bleiben wohl, genieße weder Frau noch Kohl (Nr. 483). Was haben hier nun Sex und Kohl gemein? Nach der Säftetheorie lag das auf der Hand: der »Genuss« des einen wie des anderen führte zu einem Übermaß an Hitze und Austrocknung. Denn dem Kohl schrieb man, wie allen Pflanzen und Nahrungsmitteln, bestimmte Qualitäten zu, die in seinem Fall für die heiße Jahreszeit völlig kontraproduktiv waren. Er galt nämlich meist als warm und trocken. Als kalt und trocken stufte man hingegen alte Leute ein, die somit Wärme und Flüssiges brauchten: Wärme tut dem Alten wohl (Nr. 105) bzw. Ein gut Glas Wein hilft den Alten auf die Bein. (Nr. 110) Und der Kälte des Winters konnte mit warmen Speisen getrotzt werden: In dem Jenner ist fast gesund warm Speis essen zu aller Stund (Nr. 2065). Die den Speisen zugeschriebenen spezifischen Eigenschaften schlugen sich natürlich auch in entsprechenden Empfehlungen nieder: Nach Fischen Nüss’, nach Fleisch Käse iss (Nr. 1217). Die beiden Gegensatzpaare (Fische / Nüsse bzw. Fleisch / Käse) ergänzten sich ideal, hielt man doch Fisch und Käse für »kalt«, Nüsse und Fleisch für »warm«. (vgl. auch WBN, 16-17) Überhaupt standen bei den sechs traditionellen Punkten der galenischen Diätetik, die ja eine alles umfassende Lehre von der gesunden Lebensführung war, gleichwohl Speisen und Getränke im Vordergrund. Hier ging es um die »richtige Menge und Auswahl, um die zuträglichen Qualitäten.« (SCK, 123) Da Nahrungszufuhr die Körperwärme ansteigen lässt, war ein Zuviel besonders schädlich. Insgesamt kann man feststellen, dass der Schwerpunkt eindeutig auf der Prophylaxe lag. Hauptanliegen der Säftelehre wie auch der Gesundheitsregeln der Schola Salernitana war also, wie sich Erkrankungen vermeiden ließen.
Auch für den »Luther der Heilkunde« (s. Nr. 1890), Theophrastus von Hohenheim alias Paracelsus (1494-1541), bestand die Medizin »weniger im Traktieren und Operieren als in der Vorsorge und Verhütung.« (BGD II, 215) Ein Teil seines komplexen Gesundheitsmodells, die Signaturenlehre, hatte allerdings vornehmlich mit der Behandlung von Krankheiten, der Therapie, zu tun. Die Grundanschauung ist im Sprichwort Für jede Krankheit ist ein Kraut gewachsen, wer’s kennte (Nr. 2444) enthalten. Die Paracelsisten gingen |26| nämlich davon aus, dass Gott alles zum Wohle der Menschen erschaffen habe und z. B. bei Mineralien oder Heilkräutern durch Form, Farbe oder andere »Signaturen« angezeigt würde, für welche Heilungszwecke sie Verwendung finden. Man musste also nur die bestimmten Merkmale erkennen. So stand z. B. das Madelger, eine Enzianpflanze, im Volk einst in hohem Ansehen: Madelger ist aller Wurzel ein Ehr (Nr. 3024). Die »Ehre« verdankte es u. a. seinem Ruf, bei nachlassender Libido zu helfen. Hieronymus Bock erklärt das in seinem berühmten Kräuterbuch vom Jahre 1539 damit, dass »die wurzel wie ein weiblich glid zerspalten ist.« (zit. n. BDS II, 863) Und warum sah man den Augentrost, von dem es im Sprichwort heißt, er sei besser als Tausendgüldenkraut (Nr. 482), als Wohltat für die Augen an? Seine Blüte »zeigt die ›Signatur‹ des Auges (der dunkle Fleck in der Blüte wird mit der menschlichen Pupille verglichen).« (BDS I, 720) Somit galt der Augentrost »im Volk als Mittel gegen Augenkrankheiten.« (Ebd.)
Die Signaturenlehre hatte jedoch weniger lange Bestand als die Säftelehre, von der viele Aspekte (u. a. Verderbnis der Säfte, Trockenheit des Alters) noch in zwei Publikationen enthalten sind, die um die Wende zum 19. Jahrhundert erschienen: Fausts populärer Gesundheitskatechismus (s. FAU) und der Medizinbestseller der Goethezeit, Hufelands Makrobiotik. (s. HLD) Die zwei Ratgeber, die – ganz im Sinne der zahlreichen Gesundheitsregimina des Mittelalters – speziell für Laien gedacht waren, knüpften mehr oder minder direkt an die »sechs nicht-natürlichen Dinge« Galens an.
Dieser medizinhistorische Überblick verdeutlicht, dass Gesundheitssprichwörter hie und da noch auf falschen physiologischen Vorstellungen, überholten Konzepten oder Aberglauben fußen. Allein daher ist ein Teil des folgenden Korpus an medizinischen Sprichwörtern als nicht mehr gebräuchlich einzustufen. Es wäre jedoch ein Trugschluss, deswegen Gesundheitsregeln generell für passé zu erklären. Hier kann man sich getrost den Worten Wolfgang Mieders, der höchsten Sprichwortinstanz, anschließen: »Proverbs are never out of season« (s. MIE III bzw. MIE IV). Zwar kommen einige gelegentlich außer Gebrauch, dafür entstehen aber wieder neue. Dies gilt durchaus auch für medizinische Sprichwörter. Und das, obwohl der Fortschritt der Medizin so manchem Spruch den Garaus machte und die Verbesserung der ärztlichen Versorgung die herkömmliche Gesundheitsregel meist ebenso ersetzte wie die Meteorologie die Bauernregel. Die Behauptung, dass heutzutage noch weitaus mehr Gesundheits- als Wetterregeln in Umlauf sind, ist jedoch alles andere als gewagt. Schließlich wird in Zeiten von Anti-Aging,
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Wellness und Diätenwahn Gesundheit wichtiger genommen denn je: »Der Wunsch, gesund zu bleiben, steht bei den meisten Menschen an erster Stelle. Gesundheit, so zeigen Meinungsumfragen, ist vielen mittlerweile sogar wichtiger als eine intakte Umwelt oder das Bedürfnis, möglichst viel zu erleben.« (OKN, 3) Die durchaus begrüßenswerte Beschäftigung mit dem eigenen Körper (s. Nr. 2332: Wer auf seinen Körper acht’t, hält auf bestem Posten Wacht) erreicht aber manchmal schon krankhafte Züge und droht, insbesondere bei Fragen der richtigen Ernährung, zuweilen zur Orthorexie auszuarten. Auf jeden Fall verdeutlichen einschlägige Rubriken in Zeitungen und Zeitschriften, die sprunghaft gestiegene Zahl von Gesundheitsmagazinen bei den Fernsehsendern sowie ein spezieller TV-Gesundheitskanal den anhaltenden Trend zu gesundheitsbewußtem Verhalten. Dabei sorgen die Medien dafür, dass altbekannte Weisheiten oder neue Erkenntnisse einer breiten Öffentlichkeit vermittelt werden. Letztere erlang(t)en dann mitunter erst durch ihre Propagierung in den Medien sprichwörtlichen Charakter, so wie etwa der Spruch Fünf am Tag (Nr. 1376). Nachfolgend weitere Beispiele für medizinische Meinungen oder Forschungsergebnisse, die in den letzten Jahrzehnten sprichwörtlich geworden sind:
Bananen machen glücklich. (Nr. 528) | Eier sind schlecht fürs Herz. (Nr. 1013) |
Radfahren macht Männer impotent. (Nr. 3373) | Salz erhöht den Blutdruck. (Nr. 3496) |
Schokolade macht Pickel! (Nr. 3668) | Testosteron steigert die Potenz. (Nr. 3985) |
Davon sind jedoch etliche umstritten und zum Teil schon wissenschaftlich widerlegt: »Wissenschaftler kolportieren selbst gern, daß der gute Rat von heute oftmals der wissenschaftliche Irrtum von morgen ist.« (WZL, 30) Man denke hier nur an die »Cholesterinschlacht« bzw. den »jahrelangen Butter-Margarine-Streit.« (s. ebd.) Es zeigt sich also, dass selbst neuere Empfehlungen oft genauso wenig haltbar sind wie manch alte Regel: »Kaum ein Bereich hat über Generationen so viele Fehlmeldungen verbreitet wie die Medizin. Da tummeln sich überlieferte Ratschläge, kuriose Volksweisheiten und ärztliche Irrtümer.« (VTL, n. pag.) Was sich dann im nachhinein als »Ernährungsmärchen« oder »Gesundheitsmythos« entpuppt, muss aber nicht unbedingt in griffiger, sprichwörtlicher Form vorgelegen haben. Nichtsdestotrotz zählen natürlich, wie obige Beispiele zeigen, auch manche Gesundheitsparömien dazu.
Wie man nun einen sprichwörtlichen Mythos in die Welt setzen kann, veranschaulicht z. B. der oft gehörte Karotten-Spruch über die angebliche Verbesserung der Sehkraft: Wenn man Karotten isst, kann man im Dunkeln |28| sehen. (Nr. 2137) Er leitet sich ganz offensichtlich vom englischen Pendant »Eating carrots will improve your eyesight« (KDH, n. pag.) her. Dieses aber entstand möglicherweise wie folgt: »This tale may have started during World War II, when British intelligence spread a rumor that their pilots had remarkable night vision because they ate lots of carrots. They didn’t want the Germans to know they were using radar.« (Ebd.)
Medizinische Sprichwörter bestehen also beileibe nicht nur aus überkommenen Weisheiten früherer Jahrhunderte. Sie sind – wie die vielen Neuschöpfungen nahelegen – selbst im Zeitalter der Gerätemedizin keineswegs aus der Mode gekommen. Gesundheitstipps sind eben immer gefragt. Dass dabei Irrtümliches, ja selbst Irrationales weitergegeben wird, ist nie auszuschließen.
Eine Kurzanalyse des hier zusammengetragenen Korpus beweist allerdings, dass nur ein geringer Teil der volkstümlichen Gesundheitsregeln mit Etiketten wie Aberglaube, Irrtum, Ammenmärchen, Food-Fabel oder Mythos versehen werden könnte. So nennt sich Volksmedizin heute mitunter Erfahrungsmedizin. Und gerade Empirie und genaue Beobachtung sind es, die den meisten medizinischen Sprichwörtern zugrunde liegen. Dass sie sich in der Praxis bewährt hatten, war der Hauptgrund, weshalb die Ratschläge über Generationen hinweg weitergegeben wurden. Ein anderer Grund für ihr Fortbestehen ist der allgemeine Charakter der ausgesprochenen Empfehlungen, der ihnen auch gute Zukunftsaussichten bietet: »The fact that these proverbs give only general medical advice for healthy living will prevent them from becoming obsolete.« (RSL, n. pag.)
Bei einer genauen Überprüfung stellte sich nun heraus, dass von den 4715 Weisheiten zirka 3800, also 80 %, diese Bezeichnung zu Recht tragen. D. h. man kann sie ohne weiteres als »heute noch richtig bzw. nützlich« einstufen. Von den restlichen lassen sich ca. 600 als weder nützlich noch schädlich kategorisieren. Dazu gehört mancher Aberglauben wie etwa Iss an Lichtmess kein Fleisch, wenn du gesund bleiben willst (Nr. 2723). Als medizinisch falsch, aber harmlos können ungefähr 200 Regeln gelten, so z. B. der warnende Hinweis, dass Sex Gicht verursacht: Hohe Brüst und weiße Bein machen gern das Zipperlein (Nr. 4640). Demnach bleiben von den 4715 Gesundheitssprichwörtern kaum mehr als 100 übrig, die mit dem Attribut »gefährlich« bzw. »schädlich« bezeichnet werden müßten. Dazu zählen keineswegs nur althergebrachte Irrglauben über schimmeliges Brot (s. Nr. 763), Wein für Kleinkinder (s. Nr. 2180) oder Gewitterschutz unter |29| Bäumen (s. Nr. 2752), sondern eben auch neuere Mythen wie einige der vorhin genannten oder etwa die Mär, dass Schnaps der Verdauung förderlich sei (s. Nr. 3645).
Wenn dann in medizinischen Parömien Krankheiten explizit genannt werden, so erfolgt eher eine Warnung vor der Krankheit als ein Rezept dagegen. Denn häufig stand man ja dem Übel machtlos gegenüber: Bei Wassersucht und Quartan stehen alle Medici an (Nr. 2949) bzw. Zwei Dinge überwindet man nie: Syphilis und Theologie (Nr. 3960). Gegen die Syphilis half also kein Arkanum, höchstens ein warnendes Stoßgebet zur Prophylaxe: Gott bewahre mich vor den Franzosen im Lande und in den Hosen (Nr. 1657). Nur für wenige Heimsuchungen, wie etwa die Pest, glaubte man, Mittel parat zu haben. Meist waren das verschiedene Kräuter (s. z. B. Nr. 3258). Neben der Pest finden vor allem die Schwindsucht (s. etwa Nr. 3731) sowie die Krätze im Volksmund Erwähnung (s. Nr. 2477). Mehr Hinweise gibt es jedoch auf ein Gebrechen, das früher als die Krankheit der Deutschen schlechthin galt. Es handelt sich dabei nun keineswegs um heutige »Spitzenreiter« wie Krebs, Schlaganfall oder Herzinfarkt: »Der Spanier krankt an unzähligen Übeln, der Italiener an Seuchen, der Franzose an Franzosen, der Engländer am Wolf, der Deutsche am Zipperlein.« (WAN IV, 649) In der Tat existieren eine Reihe von Ratschlägen zur Gicht (s. Nr. 1626 ff.), die nur von denen übertroffen werden, die zur angeblich schlimmsten Krankheit vorliegen: zum Neid (s. Nr. 3175). Dabei weiß das Volk sehr wohl zwischen Neid und Mißgunst zu unterscheiden (s. Nr. 3163). Auffallend sind auch die häufigen Hinweise zur Pflege der Augen (s. Nr. 403 ff.) und zur Behandlung von Wunden (s. Nr. 4527 ff.) sowie die wiederholten Warnungen, sich bei Sex bzw. »Wollust« zu verausgaben. Letztere gipfeln in dem Reim Vor der Frau Venus geile Sucht die best Arznei ist schnelle Flucht (Nr. 4196). Wem hier aber an einer schnellen Flucht gar nicht gelegen ist, der kann – so die oft lange und weit verbreiteten Ansichten – zwecks Hebung der Potenz zu diesen Aphrodisiaka greifen: Apfel, Baldrian, Basilikum, Eier, Eisenkraut, Hüttrauch (Nr. 4675), Kaffee (Nr. 812), Kanthariden (Nr. 4207), Lakritze, Madelger, Mädesüß, Muskatnuss, Odermennig, Pastinak, Petersilie, Pfeffer, Quitte, Sellerie oder Spargel.
Die folgenden Übersichtstabellen geben nun ausschnittweise einen Einblick in das, was der Volksmund über Jahrhunderte hinweg an Empfehlungen und Warnungen zur Gesundheit weitergegeben hat:
Nach den in medizinischen Sprichwörtern enthaltenen Ansichten gilt u. a. |30| als gesund bzw. lebensverlängernd:
kurzes Abendbrot | zweimal jährlich Aderlass | zeitig alt werden |
Alter / Eltern in Ehren halten | ein Apfel pro Tag | Arbeit |
Armut | frühes Aufstehen | baden |
Ballaststoffe | barfuß laufen | Bauernleben / Landleben |
Bergluft / Landluft | Bewegung | Bibernellle / Pimpernell |
gekochte Birnen | braunes / gestriges Brot | Butter / Buttermilch |
ein bisschen Dreck | den Durst stillen | Ehrenpreis |
weich gesotten Ei | Einreiben mit Öl | kalt essen / trinken |
warm essen | essen wie eine | Katze Fleisch von heute |
wenig Fleisch essen | Friedens | Freude / Frohsinn / Heiterkeit |
Fürze / Winde / Blähungen | warme Füße | Geduld / Gelassenheit |
auf die Gesundheit trinken | Gottesfurcht | Händewaschen |
wenig hassen | sauberes | Haus Hausmannskost |
Honig essen | kein Verkehr mit Huren | langes Husten |
Joghurt | Käse | warme / reinliche Kleidung |
häufiger Knoblauchverzehr | auf Kohl trinken | Kopf kalt / kühl halten |
Kräuterwurzeln | Lachen / Lächeln | hartes Leben |
gut / mäßig / einfach leben | ledig bleiben | sparsam lieben |
frische / reine Luft | täglich zwei Mahlzeiten | Maß in allen Dingen |
Mäßigkeit bei Speis&Trank | Märzenbier | harte Matratzen |
auf Milch trinken | Mittagsschlaf | Moselwein |
geschlossener Mund | Mund spülen | Obst |
Pumpernickel | ein Rausch im Monat | Reinlichkeit |
Rohkost | täglich ein Glas Rotwein | Ruhe |
Sauerkraut | Selbstbeherrschung | kühle Septembernächte |
Sex | Schimpfen | sieben Stunden Schlaf |
Schweinebraten | Schwimmen | Schwitzen |
Sonnenschein | Speck | Spinat |
Sport | regelmäßiger | Stuhlgang viel Suppe essen |
Tanzen | kurz trauern | nie kalt trinken |
ein frischer Trunk | drei Trünke über Tische | Wasser |
alter / vorjähriger Wein | Ziegenmilch | frühes Zu-Bett-Gehen |
Manches wird auch für gesünder als anderes gehalten. So sollen z. B.
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Ausdrücklich ungesund oder schädlich bzw. lebensverkürzend sollen u. a. sein:
Aderlassen | Angst | in der Apotheke etwas kosten |
Aprilenwind | (zuviel) | Arbeit Ärger / Zorn / Zank / Fehde |
Armut | Arzt zum Erben einsetzen | böses Auge (böser Blick) |
für die Augen: Rauch | Ausschweifungen | Bäder |
heiß baden | kalt baden | Besuch einer Badstube |
bald rot, bald weiß | Bier | Bier auf Wein |
rohe Birnen | Bohnenkaffee | Bordellbesuche / Hurerei |
neugebackenes Brot | Bürste auf dem Bett | falsches Denken |
Dreistigkeit | im Dunkeln lesen | Durst |
Eier | Eifer | gefärbte Essen |
viel Essen / viele Schüsseln | Essig den Zähnen | Falschheit / Heuchelei |
Faulheit | nasses Februarwetter | alles Fette |
auf Fisch Wasser oder Bier | Fleisch essen an Lichtmess | Fraß |
Gänse nach Martini | Geiz | Gesundheitstrinken |
Grillenfang / Schwermut | Halb gekocht | Hausbau |
Hektik | Herrenküche | am Hofe leben |
Hexen / böse Weiber | sich sorgen wie ein | Hund Hunger leiden |
nüchtern Joggen | Jähzorn | Kaffee |
Kälte | volle Kannen und Teller | Kopfwäsche |
Kränkungen | Lärm | Leckerei |
Lust | Margarine | Märzenluft |
weißes Mehl | Mehltau im August | Met |
Mittagsschlaf | Mundgeruch | Müßiggang |
Nachtluft | Neid | Nüsse |
Obst | Purgieren | Rauchen |
Regen und Nebel | Reisen | ungewohntes Reiten |
fehlende Ruhepausen | zuviel Salz | Saufen / Trunksucht |
Scharfes | zu langer / kurzer Schlaf | Schlemmerei / Völlerei |
Schulden | sündig Seel | warme Septembernächte |
(zuviel) Sex / Unkeuschheit | Sommerhusten | Sorge / Kummer / Gram |
Sport | Stress | in die Suppe trinken |
Süßigkeiten / Naschwerk | Tanzen | unreife Trauben |
langes Trauern / Trübsale | Trunkenheit | Undank |
Unmäßigkeit | Weinsucht | Weißbrot |
Wollust | Zorn | Zucker |
Sehr häufig taucht zudem die Formel x macht / machen y auf.
Es machen angeblich u. a.
schlank: | Alkohol, Fasten, Joghurt, Krebs, Light, Rauchen; |
dick: | Bananen, Bier, Birnen, Kartoffeln, Mehlspeisen, Nudeln, Weintrauben, spätabends essen, Zucker; |
|32| blind: | Absinth, Masturbieren, Onanieren, Schere; |
rote Backen / Wangen: | Graben und Hacken, Beckenbrot, rote Beete, Bier und Brot, Brot, trocken Brot, gesalzen Brot, Schwarzbrot, Dreck und Kot, ein fröhlich Herz, Milch und Brot, Roggenbrot, Salz und Brot, Speck und Brot, Käse und Brot; |
stark: | Bärlauch, Butter, Haferbrei, Ingwer, Leinöl, Quark, grobe Speisen, Wasser trinken. |
Die Formel kann also auf etwas Positives (»Bärlauch macht bärenstark«) oder Negatives (»Absinth macht blind«) hinweisen. Aus der Feststellung lässt sich jeweils ein Rat für die Gesundheit ableiten: »Iss Bärlauch!« bzw. »Trink nicht zuviel Absinth!«
Manchmal ist der Rat aber nicht verbrämt, sondern wird – insbesondere bei Warnungen – offen und direkt ausgesprochen, etwa mit den Aufforderungen Hüte dich bzw. Meide. So sollte man sich beispielsweise vor Folgendem in Acht nehmen, wenn einem seine Gesundheit lieb ist:
Aprilensonne | unerfahrenen Ärzten | morschen Brücken |
Entnafzen | aufgewärmtem Fisch | Frauenlust / Weibern |
stummem Hund | Huren | Leckereien |
Leidenschaften | grobem Mann | Melancholie |
Mittagsschlaf | Pilze | Quacksalberei |
gefährlicher Reise | Schlangen | Skorpionstacheln |
Spazierengehen (=Muße) | ungekosteten | Speisen Trunksucht |
Waffen | schweigendem Wasser | Weinrausch |
Wintersonne | Wollust | Zugluft |
Als sprichwörtliche Heilmittel gemäß den Formeln x heilt y bzw. x vertreibt y oder x ist gut für / gegen / wider y werden u. a. empfohlen:
Alkohol, Armsünderschmalz, rote Beete, Bett, Bibernelle, Bienenstock, Bitter, Butter, Buttermilch, warme Cola, Ehe, Ehrenpreis, Fisch, Fröhlichkeit, Gebet, Geduld, Geld, Gift, Herz, Hobrat, Hundehaar, Hundes Zung, Jungfrauen, Kaiserschmarren, Lautenklang, Liebe, Menschenfett, Milch, Nichts, Pfingstregen, Rauchwerk, Ruprechtskraut, Sanikel, Sauerkraut, Schnaps, Speck und Brot, Speik, Stänz, Thymian, Tormentille, Vergessen, Waldmann, Wasser, Wein, Weisheit, Wermut, Widertot, Zeit, Zwiebel.
Die meisten Mittel gelten dabei als Panazeen (»..heilt alle Übel / neunerlei Krankheiten«). Nur wenige enthalten eine spezielle Indikation, wie etwa Hobrat fürs Alpdrücken bzw. bei Schwermut: Wermut!
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Werden Mittel für bestimmte Leiden genannt, geschieht dies bisweilen auch mit der Formel x hilft gegen / vor / für y, so etwa Buttermilch gegen Sonnenbrand, Hühnersuppe gegen Schnupfen und Ingwer gegen Übelkeit.
Schwer zu heilen sind jedoch nach den sprichwörtlichen Erkenntnissen des Volkes u. a.:
alte Brüche, Gelbsucht, alter Grind, Ehrenwunden, ein verwundet Herz, Liebesfieber, alte Schwäre, Narrenfieber, alte Übel und faule Wunden.
Keine Hilfe ist
von Zittern bei Frost und Fieber, von Kamillentee bei Liebesweh, von einer Kur im Falle einer bösen Natur, von einem goldenen Schuh bei Podagra, vom Saitenspiel bei Trauer und von Wasser bei Wassersucht zu erwarten.
Gar töten können
ein Kind zuviel Pflege bzw. ein Hornissenstich, einen Mann Fieber, Schuld und Spott, viele Leute das Schwert bzw. Traurigkeit und die Alten Hunger oder die Liebe.
Aus der Kurzanalyse war des weiteren ersichtlich, dass Rick Woodburns Feststellung zur äußeren Form englischer medical proverbs zugleich für die medizinischen Sprichwörter des Deutschen gilt: »Many medical proverbs are rhymed, which makes them easy to remember.« (WBN, 36). Allerdings ist die Mehrzahl nicht in gebundener Form gehalten. Denn nach wie vor (vgl. SEI II, 366) sind nur rund 40 % gereimt, d. h. immerhin 1900 Regeln.
Gereimt sind meist auch die zirka 40 Lesarten der einst wohl populärsten und häufigsten deutschen Gesundheitsregel: Kopf kühl, Füße warm macht den Doktor arm. (Nr. 911) Sie ist, genauso wie der auf Salerno zurückgehende Vers Nach dem Essen soll man ruhn oder tausend Schritte tun (Nr. 1079) durchaus noch oft in Umlauf (s. HMW I), doch dürfte heutzutage der schlagwortartige Reim Gut gekaut ist halb verdaut (Nr. 1481) weitaus bekannter sein.
Dass sich im übrigen einige Aussagen widersprechen, liegt in der Natur der Sache bzw. des Menschen. Denn die Unterschiede zwischen den einzelnen Individuen lassen kaum Patentrezepte zu, die für jeden passen: Was den Einen belebt, den Andern begräbt. ( Nr. 1028) So vertrat man in fast 650 Fällen, also ca. 14 %, auch konträre Ansichten oder hatte gegenteilige Erfahrungen gemacht.
Bei den insgesamt 4715 Sprüchen handelt es sich nun durchweg um Sprichwörter nach der eingangs formulierten Definition. Hin und wieder erfolgt in den Anmerkungen sogar der explizite Hinweis, dass hier in der Tat eine |34| Parömie vorliegt. Ansonsten sind alle Belege ausdrücklich auf ihren Sprichwortcharakter hin überprüft. Vielfach waren sie in den Quellen ohnehin mit entsprechenden Zusätzen wie »sagt der Volksmund«, »volksmedizinischer Rat«, »Omas Weisheit«, »die Altgläubigen meinen«, »alte Gesundheitsregel«, »Öfters hört man« oder »…hieß es« versehen. Bei aus Sammlungen entnommenen Belegen kann natürlich nie ganz gewährleistet werden, dass ein dort angeführter Spruch auch wirklich im Volk Verbreitung gefunden hatte. Dafür waren die meisten Sammler viel zu unkritisch. Wenn man, wie Wander das tat (s. WAN I, v), Sprichwörter mit in Umlauf befindlichen Münzen vergleicht, dann stellt sich bei näherer Betrachtung manches gar als »Falschgeld« heraus. Wander selbst bildet hier keine Ausnahme. Vollends unberechtigt wäre z. B. die Aufnahme dieser schönen Reime gewesen, die alle Voraussetzungen für medizinische Sprichwörter zu erfüllen schienen (s. WAN V, 1545; 1554 u. 1614):
Willst du lange leben,
iss mäßig, schlaf im obern Stock und trink nicht viel vom Saft der Reben.
Hämorrhoidarische Leut’
bringen ihr Leben weit.
Am Morgen ins Gebirge und am Abend ins Bad,
so wirst du nicht malad.
Der dritte lässt sich sogar von einem Vers der Schola Salernitana herleiten: »Mane igitur montes, sub serum inquirito fontes.« (SAL II, II) Allein die Ausdrücke »malad« und erst recht »hämorrhoidarisch« machen einen stutzig. Letzteres ist für eine Weitergabe im deutschen Volksmund denkbar ungeeignet. Denn die Hämorrhoiden wurden – wenn sie überhaupt Erwähnung fanden – als »Hemrittn« (Franken) bzw. »Hämoritten« (Bayern) oder gleich als »Jucken an heimlichen Orten« bzw. »Goldene Ader« sprachlich vereinfacht. War hier also mitnichten Volkspoesie am Werk? Bei den drei Stellen ist jeweils ein – wie es scheint – italienisches Pendant verzeichnet, dessen Quelle mit »Giani« angegeben wird. Im Quellenverzeichnis des Fünften Bandes heißt es dann unter »Giani«: »Sapienza italiana in bocca alemanna da Leop. Carlo Maxim. Giani – Italienische Sprichwörter in deutschem Gewande. Von L.C.M. Giani. Stuttgart 1876.« (WAN V, xv) Wir haben es also tatsächlich mit einer Nachdichtung italienischer Sprüche ins Deutsche und keineswegs mit authentischen deutschen Sprichwörtern zu tun.
Abschließend muss noch einmal betont werden, dass es sich bei medizinischen Sprichwörtern um eine parömiologische Sonderform handelt und mit diesem Lexikon die umfangreichste systematische Erfassung und wissenschaftliche Dokumentation des medizinischen Sprichwortguts im gesamten deutschen |35| Sprachraum vorliegt. Zudem versteht sich dieses enzyklopädische Sprichwörterbuch auch eher als lexikographisches Lesebuch zur Erbauung und Belehrung denn als bloßes Nachschlagewerk. (vgl. SCL, 181-186) Es ist jedoch – und darauf sei aus rechtlichen Gründen ausdrücklich hingewiesen – kein medizinischer Ratgeber, obwohl der Großteil der Regeln durchaus nützlich, einige harmlos und nur wenige schädlich sind. Der scherzhafte Tipp Mark Twains »Seien Sie vorsichtig beim Lesen von Gesundheitsbüchern: Ein Druckfehler kann ihr Tod sein« (ZIT, n. pag.) wäre bei der vorliegenden Publikation also völlig unangebracht. Dennoch übernehmen Autor bzw. Verlag natürlich keinerlei Haftung für eventuelle Schäden aus der Anwendung oder Befolgung der hier enthaltenen Ratschläge.
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Hinweise zur Präsentation des Korpus
Was die Präsentation der Fundstellen an medizinischen Sprichwörtern anlangt, so sind sie alphabetisch nach Stich- bzw. Kernwörtern angeordnet. In den meisten Fällen sind das Substantive, es können aber auch Verben, Adjektive oder Partizipien (z. B. »gekaut«) sein. Demnach finden sich der Vers Vier Ding verderben den Mann: Weib, Tabak, Kart’ und Kann’ (Nr. 2856) unter »Mann« und der Reim Wer will lang nagen, der hält warm sein Kragen (Nr. 3131) naheliegenderweise unter »nagen«. Die Belege sind von 1– 4715 durchnummeriert. Jede Buchseite hat nicht nur eine Kopf-, sondern auch eine Fußzeile. In letzterer finden sich die bei den einzelnen Sprichwortnummern immer wieder verwendeten Siglen und deren Bedeutung:
Q = Quelle // R = Region // E = Erklärung // I = Inhaltliche Variante // F = Formale Variante // W = Widerspruch
Die nach einem Spruch mittels Siglen eingeleiteteten Hinweise nehmen also, sofern Informationen darüber vorliegen, auf bis zu sechs verschiedene Aspekte Bezug:
Q: verweist dabei auf die Quelle, der das Sprichwort entnommen wurde. Sie ist für alle 4715 Fundstellen angegeben. So besagt der Vermerk »Q: WAN V, 1006«, dass die Parömie im fünften Band, Spalte 1006 von Wanders Deutsches Sprichwörter-Lexikon angeführt ist. Die Quellen selbst sind, wie eingangs erwähnt, durch Siglen gekennzeichnet. Die vollständigen Literaturangaben finden sich im Siglen- und Quellenverzeichnis am Ende des Lexikons.
R: steht für »Region« und gibt nähere Aufschlüsse über das jeweilige Verbreitungsgebiet. Ist nichts anderes angegeben, entstammt diese Information derselben Stelle wie das betreffende Sprichwort. Die regionalen Herkunftshinweise reichen dabei von einem Ort über eine Landschaft oder ein Gebiet bis hin zu den heutigen Staaten Deutschland, Österreich und der Schweiz. Da dieses Lexikon alle Gesundheitssprichwörter seit Ende des Mittelalters zu erfassen versucht, finden sich bei den geographischen Zuordnungen auch frühere deutsche Sprachgebiete. Hier nun eine aufschlussreiche Übersicht, wobei anzumerken wäre, dass bei manchen Sprichwörtern überhaupt keine diesbezügliche Angabe vorlag und viele nur mit allgemeinen Kennzeichnungen wie »deutsches Sprichwort« oder Ähnlichem versehen waren. Herauszustellen |37| ist auch, dass etliche der nachfolgenden Regionalhinweise nur vereinzelt im Korpus auftauchen, andere wiederum zahlreich vertreten sind:
Allgäu, Alpenraum, Altmark, Alpach / Unterinntal, Amrum, Ansbach / Mittelfranken, Appenzell, Arnsberg, Baden, Bayerischer Wald, Bayern, Bergisches Land, Berlin, Böhmen, Böhmerwald, Brandenburg, Braunschweig, Breitingheim, Bremen, Breslau, Deutschland, Duisburg, Eifel, Elsass, Ennstal / Österreich, Erzgebirge, Euskirchen, Franken, Frankenwald, Fränkische Schweiz, Freyung / Niederbayern, Fricktal, Göttingen, Gotha, Gottschee / Krain, Graubünden, Hamburg, Hanauer Kinzigtal, Harz, Havelgegend, Hessen, Hindelang / Allgäu, Holstein, Innsbruck, Karlsbad, Kärnten, Kleinwalsertal, Köln, Königsberg / Ostpreußen, Köthen, Lausitz, Leipzig, Lüneburger Heide, Luzern, Mähren, Mecklenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Meiningen, Mitteldeutschland, Münsterland, Nassau, Neustettin, Niederbayern, Niederösterreich, Niederrhein, Niedersachsen, Nordböhmen, Norddeutschland, Nordniedersachsen, Nordostdeutschland, Nürnberg, Oberaargau / Schweiz, Oberbayern, Oberfranken, Oberharz, Oberlausitz, Oberösterreich, Oberpfalz, Oberschlesien, Oberstaufen / Allgäu, Odenwald, Oldenburg, Osnabrück, Ostermiething an der Salzach, Österreich, Ostfriesland, Ostpreußen, Pfalz, Pfronten / Allgäu, Pielachtal / Österreich, Pommern, Posen, Preußen, Pustertal, Rendsburg, Rheingau, Rheinhessen, Rheinland, Riesengebirge, Rottal, Sachsen, Salzburg, Salzkammergut, Sauerland, Schlesien, Schleswig-Holstein, Schwaben, Schwarzwald, Schweiz, Schwyz, Siebenbürgen, Soest, Spessart, Steiermark, St. Gallen, St. Wendel / Saarland, Strelitz, Sudetenland, Tannheim / Allgäu, Thüringen, Tirol, Trattenbachtal / Österreich, Trier, Unterfranken, Unterinntal, Vogtland, Wagstadt, Walsertal, Westböhmen, Westfalen, Wetzlar, Wien, Wiesbaden, Württemberg, Zug / Schweiz.
E: kündigt eine »Erklärung« an. D. h., es folgen nähere Erläuterungen. Diese können beispielsweise aus einer Übertragung ins Hochdeutsche bestehen, wenn ein Spruch ausnahmsweise in der Mundart zitiert ist. Das war etwa bei folgenden Nummern der Fall:
1247: Kole Fööt un norden Wind gifft ’n krusen Büdel un ’n lütten Pint.
1286: Fresse brengk mieh Lück noh Malote als Drinke.
2983: Es dout gout, middoegs e Aach voll ze nemme.
2873: A habernes Ross und an g’schmalzenen Mann, die zwoa reisst koa Teuflzam.
Hier lagen für das Plattdeutsche, das Kölsche, das Hessische und das Bairische die sprichwörtlichen Gesundheitsempfehlungen in nahezu authentischer, ursprünglicher Form vor. Dabei erscheint derselbe Rat mitunter in ähnlichem Gewand: In Pommern etwa als Hun’nhinken und Frugenskranken, dat het nischt to bedüden (Nr. 1335) und im Bayerischen Wald als Aaf d Weibertskrankat und s Hundshinka derf ma nix gebn (Nr. 4352). Im Übrigen gilt hier zu bedenken, dass wohl fast alle Sprichwörter im Dialekt tradiert wurden und die Belege in Sammlungen meist Übertragungen ins Hochdeutsche darstellen. So findet sich beispielsweise bei Wander der nicht-medizinische Spruch Wenn du wüsstest, was ich weiß, würd’ es dir in einer warmen Stube zu heiß |38| mit der Ortsangabe »Passau« (s. WAN V, 299). Die Bewohner der niederbayerischen Dreiflüssestadt haben diesen Satz nun gewiss nicht in der angegebenen schriftdeutschen Form im Munde geführt. Bei ihnen hätte sich z. B. »woaß« auf »hoaß« gereimt (statt weiß auf heiß).
Manchmal ist ein Spruch auch nicht mehr ganz verständlich, wenn er in älterer Fassung zitiert wurde, so z. B. Der kiffel ist der alten stuetz (Nr. 115). In solchen Fällen erfolgten natürlich ebenfalls entsprechende Anmerkungen. Handelte es sich lediglich um Orthographisches (etwa »Thür«, »Doctor« oder »Oel« statt Tür / Doktor / Öl), wurden die betreffenden Schreibweisen nach den Grundsätzen der neuen Rechtschreibung modernisiert.
Bisweilen waren Zusatzinformationen nötig, weil ganze Sprüche wie etwa Ein Biss von einem Pfaffen und Wolf ist unheilbar (Nr. 672), Eine Gans erschlägt es nicht (Nr. 1418), Wenn der Kopf hängt, so hebe die Hand (Nr. 2302) oder Behüt’ uns Gott vor großem Glück, gnädigem Herrn und gesunder Speis (Nr. 1662) für auf Anhieb kaum nachvollziehbar gelten mussten. Mitunter bedurften nur einzelne, obsolete Ausdrücke wie »Armsünderschmalz« (Nr. 228), »Bademütter« (Nr. 505), »Entnafzen« (Nr. 1048), »Hag« (Nr. 2594), »bass« (Nr. 2794), »Sterz« (Nr. 2892), »Metze« (Nr. 2982), »bausen« (Nr. 3264), »Pocher« (Nr. 3764) »batten« (Nr. 4116) oder »lungrig« (Nr. 4236) einer Erläuterung. Das galt erst recht, wenn eine heute noch übliche Vokabel in einem älteren Sprichwort eine ganz andere Bedeutung hatte. Siehe dazu u. a. »eitel« (Nr. 742), »rein« (Nr. 1773 und Nr. 3590), »Panzer« (Nr. 2323), »wanken« (Nr. 2557), »ziemlich« (Nr. 2580), »nüchtern« (Nr. 3081), »blöd« (Nr. 3698) und »fromm« (Nr. 4333).
Vereinzelt finden sich hier auch Hinweise auf die mögliche Entstehungsgeschichte eines Sprichworts, wenngleich sich natürlich bei Parömien als anonymen Volksweisheiten ein Ursprung in den seltensten Fällen eruieren lässt und Erstbelege oft dem Zufall geschuldet sind. Da sie höchstens Näherungswerte bieten und eher für tiefschürfende Einzelmonographien von Belang sind, erübrigte sich bei diesem Lexikon eine durchgehende Altersangabe für jeden Spruch. Aufschluss darüber bieten aber oftmals die Quellenangaben; mitunter wird auf das Alter – insbesondere bei älteren Belegen aus dem 16. und 17. Jahrhundert – unter E: extra verwiesen. Da man moderne, im 20. Jahrhundert entstandene Sprüche nicht selten an gewissen Gegebenheiten (z. B. an Termini wie »Joggen«, »Banane« oder »Jeans«) erkennen kann, ist für das Aufkommen der restlichen Regeln meist wohl das 18. oder 19. Jahrhundert anzusetzen.
Manchmal liefern die zum Verständnis unabdingbaren und oft sehr ausführlichen medizinhistorischen bzw. volkskundlichen Kommentare bei E: ebenfalls Erkenntnisse über das Alter eines Sprichworts, so etwa wenn von Starstechern (s. Nr. 3882) oder Steinschneidern (s. Nr. 1797 ) die Rede ist.
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Ob nun die heutige Schulmedizin eine volkstümliche Gesundheitsregel gutheißen oder verwerfen würde, ist im Rahmen der Rubrik E: meist nur dort vermerkt, wo sich ein entsprechender Hinweis bereits beim zitierten Sprichwort fand.
Bei I: und F: sind, sofern vorhanden, inhaltliche bzw. formale Varianten zu einer Fundstelle verzeichnet. Eine inhaltliche Variante liegt vor, wenn in einem weiteren Sprichwort derselbe oder ein ähnlicher Rat in anderer Form gegeben wird. Dazu reicht bereits ein abweichendes Wort aus. Die Anzahl verschiedener Fassungen ist insofern eminent wichtig, als sie auf Popularität und Verbreitung eines Spruches schließen lässt. Nachfolgend ein Beispiel für die inhaltlichen und formalen Varianten einer Parömie: nach der Nr. 487 Austern soll man nur in den Monaten mit dem Buchstaben »r« essen steht z. B. der auf inhaltliche Varianten verweisende Vermerk: »I : 3090-3095«. Er besagt, dass in diesen sechs Sprichwortnummern zum Teil bzw. in Gänze dieselbe oder eine ähnliche Inhaltsaussage getroffen wird, wobei zugleich formale Gemeinsamkeiten auftreten können:
Nr. 3090: In Monaten ohne »r« soll man keine Muscheln essen.
Nr. 3091: In den Monaten mit »r« soll man Muscheln essen.
Nr. 3092: Iss niemals Muscheln in den Monaten ohne »r«!
Nr. 3093: Muscheln soll man nur in Monaten mit »R« essen.
Nr. 3094: Muschelverzehr nur in den Monaten mit R.
Nr. 3095: Kein Muschelverzehr in Monaten ohne »r«.
Bei der Nr. 487 wird zudem – angezeigt durch das Sigle F – auf formale Varianten zu dieser Parömie verwiesen. Eine formale Variante hat nun einen anderen Inhalt zum Gegenstand, weist jedoch eine ähnliche oder identische Form bzw. Struktur auf. Zur R-Regel mit der Auster gibt es demnach ein Dutzend formale Varianten:
Nr. 534: Man darf erst nach den Monaten mit »R« barfuß laufen.
Nr. 535: Nur in Monaten ohne »R« soll barfuß gelaufen werden.
Nr. 536: Barfuß nur in Monaten ohne »R«!
Nr. 1210: Man muss nicht Fische essen in Monden ohne R.
Nr. 2139: Karpfen darf man nur in Monaten mit »r« essen!
Nr. 2505: Krebse man isst, wenn kein R im Monat ist.
Nr. 2506: Krebse man nicht wohl isst, wenn ein R im Monat ist.
Nr. 2507: Wenn ein R im Monat ist, man nicht gern Krebse isst.
Nr. 2508: Krebse man nicht gerne isst, wenn ein r im Monat ist.
Nr. 3029: Wenn kein R im Monat ist, so lass die Frau hübsch ungeküsst.
Nr. 3030: In den Monaten ohne R sind die Krebse gut, die Küsse nicht, aber die vollen Gläser.
Nr. 3031: In den Monaten ohne R soll man wenig küssen und viel trinken.
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Beispielsweise sind also die Nummern 534-536 inhaltliche Varianten, die wiederum für die angeführten Muschel-Sprüche (Nr. 487, Nr. 3090-3095) als formale Varianten zu gelten haben.
Schließlich steht das Sigle W: für »Widerspruch«. Hier wird darüber informiert, dass es zu diesem Spruch auch Gegenteiliges gibt, der Volksmund sich also ganz oder teilweise widerspricht. So heißt es einerseits Im Mittel lebt man am besten (Nr. 3017), andererseits In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod (Nr. 3022). Widerspruch erntet z. B. auch die Behauptung Wer gut zu Abend isst, schläft gut (Nr. 4). Er äußert sich u. a. in der indirekten Empfehlung Auf mäßig Abendessen folgt ruhiger Schlaf (Nr. 19). Ob dann mittags ein Schläfchen angebracht sei, darüber gehen die sprichwörtlichen Meinungen ebenfalls auseinander: Mittagsschlaf ist gesund (Nr. 3014) bzw. Schlaf nach dem Mittagstisch ist so gesund wie fauler Fisch (Nr. 3575).