Читать книгу Geriatrisches Assessment - Helmut Frohnhofen - Страница 10
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1.1 Geschichtliche Entwicklung des Assessments
Der aus dem Englischen stammende Begriff »Assessment« bedeutet Einschätzung. Den meisten ist dieser Begriff aus der Personalpsychologie in der Wirtschaft bekannt. Assessment bedeutet hier eine umfangreiche Testung – häufig in einem sog. Assessment-Center –, um vor der Einstellung eines Bewerbers dessen Eignung durch Aufdecken seiner Stärken und Schwächen einschätzen zu können.
Ursprünglich stammt diese Methode aus dem Militärbereich. Die ersten Assessmentverfahren entstanden in Deutschland. Schon im ersten Weltkrieg wurden psychologische Testungen zur Auswahl von Funkern, Piloten, Kraftfahrern und ab 1920 auch von Offizieren angewandt. Während die Offiziersanwärter früher fast ausschließlich aus dem Adel rekrutiert wurden, war es nun erforderlich, aus einer großen Menge von Bewerbern unterschiedlichster Vorbildung eine von der Herkunft unabhängige, optimale Auswahl zu treffen.
Zunächst widmete sich das Verfahren nur den Einzelfähigkeiten der Teilnehmer, aber schon nach kurzer Zeit wurde deutlich, dass nur die verschiedenen »isoliert gedachten seelischen Fähigkeiten innerhalb der seelischen Gesamtveranlagung« (Simoneit 1933, S. 44), also die verschiedenen Kompetenzen und persönlichen Eigenschaften in der Zusammenschau eindeutigere Schlüsse auf zukünftige Verhaltensweisen zuließen.
Die Offiziersanwärterauswahl basierte fortan auf einem charakterologischen Verfahren, das bereits viele seiner heutigen Elemente, wie z. B. eine Gruppendiskussion, beinhaltete. Der zweite Weltkrieg beendete in Deutschland zunächst die von der Herkunft unabhängige Auswahl beim Militär. Aber die durch diesen Kontext entstandene organisatorische und methodische Grundkonzeption der Beurteilungsverfahren ist bis zum heutigen Tage erhalten geblieben.
In Großbritannien wurden ab 1941 ähnliche Methoden der Offiziersanwärterauswahl angewendet. Auch hier stand das Ziel einer von der gesellschaftlichen Herkunft unabhängigen, effizienten Auswahl qualifizierten Personals im Vordergrund. Kurze Zeit später begannen die USA jene psychologischen Testverfahren zur Auswahl von Bewerbern für den Geheimdienst OSS (Office of Strategic Services) einzusetzen, nachdem sie von den Erfolgen der britischen Armee in Kenntnis gesetzt worden waren. Der Psychologe Henry H. Murray von der Harvard-Universität, der führend an der Konzeption beteiligt war, prägte hier den Begriff Assessment-Center.
Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse des OSS-Stabes setzte eine weite Verbreitung dieser Verfahren in den USA ein. Das erste Assessment Center im wirtschaftlichen Bereich wurde – zunächst versuchsweise und unter strikter Geheimhaltung der Ergebnisse – 1956 von der American Telephon & Telegraph Company (AT & T) gegründet. Da die dort erstellten Prognosen später hohe Übereinstimmungen mit den tatsächlichen Karriereverläufen der Teilnehmer aufwiesen, begann AT & T ab 1958 die erlangten Kenntnisse zur Auswahl von Führungskräften anzuwenden. Bis 1969 verbreitete sich die Assessment-Center-Methode nur zögerlich im Bereich der Wirtschaft; dann setzte jedoch eine stetig zunehmende, weltweite Verbreitung ein.
1.2 Assessment in der Altersmedizin
Der Ursprung der Geriatrie liegt schon lange zurück. Ende des 19. Jahrhunderts (1881) inaugurierte Jean-Martin Charcot (1825–1893) am Hôpital de la Salpêtrière an der Universität Paris als erster Mediziner die »geriatrische« Disziplin und Ignatz Leo Nascher (1863–1944) forderte als »Vater der modernen Geriatrie« – ähnlich der Pädiatrie –, die Geriatrie als eigenständige Disziplin zu etablieren.
Eine weitere herausragende Rolle spielte die britische Ärztin Dr. Marjory Warren. Sie etablierte als Erste die multiprofessionelle teambasierte Betreuung multimorbider älterer Menschen. Sie forcierte den Teamgedanken mit Einbinden von Physio- und Ergotherapie, mit der Einrichtung von Tagesräumen, einer speziellen Ernährung für Patienten mit Kauproblemen und einem angepassten Pflegeschlüssel.
Ein wichtiges Anliegen der Medizin des alten Menschen ist es zudem, durch die Anwendung spezifischer Testverfahren für die weitere Behandlung wichtige Informationen zu gewinnen.
Grundsätzlich werden verschiedene Testverfahren so kombiniert, dass unterschiedliche Problembereiche fokussiert werden können. Die Testverfahren werden verwendet zum
• Screening,
• zur umfassenden Diagnostik,
• zur Schweregradeurteilung und
• zur Verlaufsbeurteilung.
Das geriatrische Assessment besteht aus einer Kombination verschiedener Testverfahren, welche die für den jeweiligen Patienten relevanten Bereiche (Domänen) abdecken.
Bei der Verwendung von Assessmentinstrumenten müssen die Gütekriterien und die Validierung des Instruments bekannt sein.
Zudem muss bekannt sein, ob ein Instrument wiederholt verwendet werden darf, ob es also »retestfähig« ist. Dazu muss ein Instrument in verschiedenen Versionen vorliegen. Nur so kann sichergestellt werden, dass das Verlaufsergebnis nicht durch eine Voruntersuchung zu sehr beeinflusst wird.
1.3 Geriatrisches Assessment wirkt
Eine Metaanalyse randomisierter kontrollierter Studien aus dem Jahre 1993 zeigte eine Senkung der Mortalität um 35 % bei den Patienten, die ein geriatrisches Assessment erhielten. Daneben konnten positive Effekte hinsichtlich Diagnostik sowie funktionellem, kognitivem und emotionalem Zustand der Patienten nachgewiesen werden. Der Medikamentenverbrauch und die Krankenhausverweildauer lagen bei der Behandlungsgruppe niedriger, ebenso die Rate an Alten- und Pflegeheimeinweisungen (Stuck et al. 1993).
Aktuelle Übersichten zeigen auch, dass ältere Krankenhauspatienten eine bessere Prognose quo ad vitam und eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit für die Rückkehr in ihre häusliche Umgebung hatten, wenn ein geriatrisches Assessment durchgeführt wurde und dessen Ergebnisse für die weitere Behandlung berücksichtigt wurden (Harding 2020).
Der sich aus einem korrekt durchgeführten geriatrischen Assessment ergebende Nutzen für den Patienten konnte in zahlreichen Studien für Heimbewohner, Krankenhauspatienten und zu Hause lebende, ambulant betreute Menschen belegt werden (Faul et al. 2009). Weniger gut belegt ist bisher die Wirksamkeit des geriatrischen Assessments in der klinischen Notaufnahme (Harding 2020).
Für den hausärztlichen Bereich ließ sich zeigen, dass ein älterer Patient dann von einem geriatrischen Assessment profitiert, wenn der Hausarzt diesen Patienten noch nicht lange – etwa weniger als zwei Jahre – betreut hat (Faul et al. 2009).