Читать книгу Perfekte Verbrechen ohne Verfolgung - Helmut H. Schulz - Страница 4
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Sie sah seinem Gesicht die Unlust an, als er das Sprechzimmer gleich nach ihr betreten und ihr die Rechte zur Begrüßung hingehalten hatte, mit abgewendetem Gesicht, eine seiner typischen Gesten, wenn ihm etwas nicht paßte. Übrigens war es nicht leicht, seinem weichen und glatten Gesicht die Stimmung abzulesen, der er sich gerade überließ. Sie hielt ihn für feinfühlig und von vielen für Außenstehende belanglosen Zufällen abhängig, aber es mochte sein, daß er sich außerhalb des Vollzuges durchaus anders benahm; ein Gefängnis bleibt immer ein Sonderfall und ein Häftling mit einer langen Strafe ein Risiko für sich selbst und für seine Umgebung. Alles beruht auf Regelmäßigkeit und auf Zwang. Der Gefangene ist nicht nur seiner Bewegungen beraubt, sondern auch seiner inneren Freiheit, seiner Würde, auf die er einen gesetzlichen Anspruch hat. Seine Therapie ging nach zahlreichen Sitzungen aber doch dem Ende zu und sie überbrückte die Zeit, ehe sie mit ihren Fragen - zum hundertsten Male dieselben - anfing, indem sie scheinbar suchend in ihren Akten blätterte und darüber nachdachte, ob und was sie versäumt haben könnte. Seine Aufforderung, ihn mit einem Handschlag zu begrüßen, hatte sie wie immer übersehen und also abgelehnt. Übrigens geschah es nach all den Monaten zum ersten Mal wieder, daß er sie auf diese Weise hatte begrüßen und sich ihr nähern wollen. Er mußte wissen, daß sie die Annnäherung ablehnte. Ihr Klient oder Patient rückte demonstrativ und beleidigt seinen Stuhl vom Tisch weg, sodass sich der Abstand zwischen ihnen jetzt auch sichtbar vergrößerte. Beide schwiegen. Sie suchte nach einem Anfang, auf den er eingehen konnte, aber sie war nicht ganz bei der Sache. Die zu ihm aufgebaute Beziehung schien ihr plötzlich gestört. Etwas stimmte nicht; das Arbeitsklima zwischen Patient und Interviewer, unerläßlich nach den Regeln der Therapie, war verloren gegangen oder in eine Krise eingetreten. Warnend fielen ihr gerade jetzt die Ratschläge einer der ältesten und erfahrensten, ihr sympathischsten Beamtinnen der Haftanstalt ein: »Achten Sie auf den Stimmungswechsel bei Ihrem Häftling und reichen Sie niemals einem lange Einsitzenden die Hand, vermeiden Sie menschliche Kontakte, schmusen Sie sich niemals an; der Gefangene wird ihre Annährung als Schwäche deuten und ausnutzen, um Sie unter seine Kontrolle zu bringen. Sie sind sein Feind, vergessen Sie das nicht! Will er etwas von Ihnen, muß er kommen, umgekehrt sollten sie ihn nicht nach seinem Befinden fragen; damit behalten sie die Führung...« Sie hatte hinzugefügt: »Noch eins, unter keinen Umständen mit einer Waffe allein die Zelle eines Langzeitgefangenen betreten, auch nicht mit Handschellen oder einem anderen zum Angriff nutzbaren Gerät. Es geht neunundneunzig Mal gut, einem Lebenslänglichen bedeutet ein Mord mehr oder weniger, eine Geiselnahme gar nichts. Er weiß, daß er nicht lange draußen ist, und wieder hier landet, aber er hat Sie vorgeführt, er hat gehandelt und es uns gezeigt und vor allem hat er seinen Rang im Bau erhöht oder gefestigt, etwas für den Häftling lebenswichtiges...«
Nun, sie war Therapeutin, die einzige im Bau und fühlte sich nicht für die allgemeine Ordnung zuständig. Außerdem glaubte sie an den humanen Vollzug. Ihr oblag es, sogenannte Triebtäter zu rehabilitieren, weil der Gesetzgeber davon ausging, daß diese Menschen einfach nur krank waren und nach der Regulierung ihres sozialen Fehlerverhaltens, mochte die Therapie länger oder kürzer dauern, der Gesellschaft wieder zuzuführen seien und sie selber auch noch glücklicher zu machen, sie wenigstens dazu zu bringen, sich in schwierigen Situationen zu beherrschen. Dies aber konnte eben nur durch die Annäherung, durch Vertrauen geschehen. Schließlich hatte sich die Therapeutin in diesem Gespräch mit der klugen Alten dahin ausgesprochen und von oben herab gesagt, als sei sie erst jetzt, just in diesem Augenblick erleuchtet worden: »Würde aber hat auch der Gefangene...« »Und das Gesetz auf seiner Seite«, bestätigte die Alte, »ich weiß, Paragraph drei, Strafvollzug, aber ich sage Ihnen, die Mehrzahl der Häftlinge hat nicht die geringste Ahnung von seiner Würde; es sollten auch nur die zusammengelegt werden, die ähnliche Delikte und also ähnliche Strafen verbüßen. Nun, es sind wunderbare Zeiten...«
Dies also fiel ihr ein, sie sagte leichthin: »Ja, Sie sind jetzt anderthalb Jahre bei mir in der Maßregel und wir beide arbeiten..., wie lange zusammen?« »Das wissen Sie doch«, sagte er phlegmatisch und ablehnend, ohne sie anzusehen. Kurz danach zeigte er sich wieder bereitwillig und erklärte lebhafter: »Ein dreiviertel Jahr, denke ich, müßte längst im Freigang sein, Hafturlaub kriegen, oder?« Sie wußte, was sie beide hinter sich hatten, wie oft sie zur Erkundung seines seelischen Grundzustandes in diesem Zimmer mit ihm zusammengetroffen war und ihn in endlose Fragen und Antworten verwickelt hatte, aber sie wußte nicht wirklich, zumindest im Augenblick nicht, wie weit sie nun eigentlich waren, sie mit ihm und er mit ihr. In der Tat stand ihm der Freigang nach angemessener Zeit zu und übrigens nach dem mit der Leitung besprochenen Maßregelplan und festen Terminen. Ihr Handwerk war ausgeschöpft. Und er spürte sicherlich etwas von ihrer Unsicherheit und stellte sich darauf ein. Manchmal hatte sie das Gefühl der Zufriedenheit gehabt, das sich einstellt, wenn das zu erreichende nahe scheint; dann wieder fand sie ihn versperrt, sie wäre demnach keinen Schritt weiter gekommen mit diesem Mann, einem gefährlichen Triebmörder, mit Jahren Haft und dem Ausnahmefall der Maßregel, ein Rückfalltäter, der sie allerdings von all ihren Klienten in der Haftanstalt seiner Intelligenz wie seines überlegenen Auftretens wegen am stärksten interessierte.
Martin, wie sie ihn bei sich mit Vornamen nannte, war ein Mann von Mitte vierzig, davon hatte er einen Teil hinter Gittern verbracht; er war groß, gut gebaut, kräftig und gesund, mit einem regelmäßigen nichtssagenden runden Gesicht, einer, der Bücher aller möglichen Richtungen bestellte, um mit ihr gelegentlich darüber zu diskutieren, etwa über Raskolnikow, den klassischen Kriminalroman, ein Buch, auf das sie übrigens erst durch ihn aufmerksam gemacht worden war; ein Mann, der sich in zwei Sprachkursen der Anstalt eingeschrieben hatte, der ein Tagebuch mit genauen Eintragungen seines Tageslaufes führte, vom täglichen Krafttraining über philosophische Betrachtungen bis zu den reuevollen Ergüssen, wenn von seinem verfehlten Leben die Rede war, der Bitte um Verzeihung und dergleichen; all das war im Tagebuch ziemlich druckreif festgehalten wie ein Psychogramm; er hatte sie bereitwillig darin lesen lassen, um mit ihr darüber zu sprechen.
Er war auch heute wie immer sauber und gepflegt, und sie mußte sich erneut vor Augen halten, daß dieser äußerlich völlig normale Zeitgenosse seine dritte Haftstrafe verbüßte, zwei davon vorzeitig beendet, mit Glück durch Straferlaß wegen tadelloser Führung, ehe er endlich im dritten Anlauf in den Vollzug kam, das heißt, seine Richter hatten die Strafe vorsorglich heruntergesetzt, beeindruckt von dieser Persönlichkeit, um ihm den Weg nach draußen über die Maßregel offen zu halten. Ein Lebenslänglicher kommt nicht in den Maßregelvollzug, so will es das Gesetz. Aber er war arrogant, ein Zyniker; ein Menschenfeind wie er selbst eingeräumt, aber beteuert hatte, sich verändert, geläutert zu haben. Was sie von dieser ursprünglichen Haltung gemeinsam wirklich abgebaut hatten, dies war nicht vorherzusagen, die Probe stand aus. Tatsächlich hatte sie einige Male den Eindruck gehabt, es mit einem Halbstarken, mit einem ethisch und geistig in der Entwicklung zurückgebliebenen zu tun zu haben. Er fing sich wieder, nach einem Tumult, dem schweren Angriff auf einen Beamten und einigen Tagen Arrest. Da er sich dann wieder gut verhielt, sehr korrekt, höflich auftrat, wurde die Forderung der Anstaltsleitung und der Druck von oben, dem Aufsicht führenden Organ des Landes, in der die kleine moderne gut eingerichtete Anstalt mit Regelvollzug lag, dringlicher. Zumindest sollte der Maßnahmeplan endlich wieder in Gang gesetzt werden, stufenweise mit dem Freigang dieses braven Häftlings zu beginnen, eine Brücke zu schlagen, bis zum Hafturlaub und der Entlassung der ihm sicherlich nachgelassenen Strafe. Er hätte eigentlich arbeiten sollen oder müssen, tat es aber nur sporadisch nach Gutdünken, fand immer einen Grund, sich den Aufgaben zu entziehen.
Sie kannte aus Schilderungen ihrer anderen Klienten und den Fallstudien, wie sie ihr gelehrt worden waren, die stereotypen Muster der Beichten, dieses sich fallweise Rückerinnern an sexuellen Mißbrauch in der fernen Kindheit durch einen Verwandten, häufig durch den leiblichen Vater oder Stiefvater, womit die Beichtiger ihr eigenes brutales Triebleben rechtfertigten. Übrigens deckten sich diese Protokolle mit den Vorgaben der Sozialforschung, ungeachtet der Frage, wer hier nun wen kopierte, der Täter den untersuchenden Psychologen oder dieser den Täter, der ihm das Material in die Recherche diktierte und überlegen war, weil er das Spiel immer in der Hand behielt, stets wußte, was er wollte. So wurden die Einlassungen bewertet, als Tatsachen, obschon sie oft nur Phantasie gewesen sein dürften. Wer in der Kindheit Gewalt erlebt hat, wer mißbraucht worden war, gibt das Erlebte weiter, übt als Erwachsener Gewalt, wie er sie selber erfahren hat, lautete die Weisheit. Eine Kette, die mit besonderen Methoden zu durchbrechen oder umzukehren sei; dafür bekam sie hier ihr Geld und sie tat redlich und gläubig ihre Arbeit nach der Regel, nicht ohne gelegentliche Bedenken. Martin aber hatte nie versucht, seine Karriere auf diese Topoi, die in den meisten Fällen nicht nachprüfbar waren, zu erklären. Im Gegenteil machte er sich über diese Schauermärchen anderer lustig, auf welche die Psychologie ihre realen Schlüsse aufbaute. Mißbrauch in Jugend und Kindheit als zum sozialen Erbe des Triebtäters gehörend, hatte er für seine eigene Biographie, intelligent und weiträumig angelegt, nie genutzt, sich aber sehr wohl über die ihm zugängliche Literatur Kenntnisse der Methoden in der Fallanalyse verschafft und manches nachgestellt oder gespielt. Er sprach davon, wieder in Freiheit, seine Erlebnisse und Ansichten als Schriftsteller zu verwerten, wie heute üblich und vom Leser nachgefragt, von den Gazetten gut honoriert, abgeschmackt und verkommen zwar, aber die Erzeuger dieses Schund lebten ganz gut vom Honorar der Magazine, wie von den Interviews der Fernsehanstalten. Triebtäter waren ein nachgefragter Typus. Die allgemeine Lust am Grauen lieferte Stoff genug und ernährte einen Gestrauchelten redlich, erweckte sogar Mitleid mit seinem Schicksal. Wie auch immer, jedenfalls war er leicht über die Missbrauchsbilder hinweggegangen und hatte sich eine eigene Biographie erfunden...
Diese war banal aber gut durchdacht; nach Abitur und der Ausbildung als Chemielaborant mit dem Ziel, ein Studium der Medizin aufzunehmen und nach einer Ehephase von nur wenigen Monaten, die mit der Entdeckung endete, er könne die Beziehung zu einer Frau weder emotional, noch sexuell dauerhaft aufrechterhalten. Es trat ein Bruch in seiner Persönlichkeit ein, wie er meinte. Die Ablehnungen der Universitäten stürzten ihn noch tiefer in eine Krise, da er sich allen überlegen geglaubt hatte; aus dem geplanten Studium der Medizin wurde nichts, der Wissensstand des Bewerbers reiche bei Weitem nicht aus, wurde ihm mitgeteilt. Tatsächlich war es ihm nicht gelungen, seinen wahren Bildungsstand per Test und Fragebogen wie bei Eignungsprüfungen die Regel, nachzuweisen und dieses anonyme Punktsystem, unheimlich, entfremdet, weckte seinen Hass auf eine unmenschliche Institution. Es war sein erster Zusammenstoß mit dem Gesellschaftssystem, er hielt ihn nicht aus und reagierte mit Rückzug.
Der Trennung von seiner Frau war keine Gewalttat vorangegangen; sie gingen nach der Scheidung auseinander. Aber er stand vor einem Ausbruch und suchte danach, seine Niederlagen durch einen Sieg zu kompensieren. Er war nicht homosexuell gewesen oder es durch die Umstände geworden, hatte also nicht resignierend reagiert; er verabscheue Homosexuelle, behauptete er; seine Entwicklung hatte einen anderen Weg eingeschlagen. Das geschah, als er bereits Mitte zwanzig war, sein Coming-out, wie er den Vorgang lächelnd bezeichnete, was das Gericht allerdings als schwere Straftat, als einen brutalen Mord ahndete. Es passiert in einem Nebenraum des Labors, in dem er als medizinisch-technischer Assistent hängen geblieben war, in dem ihn alle hänselten, allein und einsam lebend, ohne Freunde. Eine der Laborantinnen habe ihm dermaßen zugesetzt und seine Männlichkeit herausgefordert, ohne den Versuch einer Annäherung zu honorieren, daß er zuschlug. Ja, er wisse natürlich, wie man sich bei einem Flirt der Norm nach zu verhalten habe und dennoch. Die Ablehnung war an sich lächerlich, der Flirt ein Spiel, das man mitmachte oder nicht, kaum geeignet einen Mann aus der Bahn zu werfen oder ihn als Mann anzuzweifeln. An diesem Punkt der Erzählung hatte die Therapeutin häufig eingegriffen und ihn aufgefordert, zu beschreiben, was sich jeweils vor einer Gewalttat in seinem Inneren abspiele und wie ihm zumute war. Nach anfänglicher Weigerung hatte er sich nicht länger bitten lassen und sich in verschiedenen, also mehreren Sitzungen hintereinander geöffnet und ihr den Hergang intensiv dargelegt. Nur, wirklich klar war ihr nicht, welche Voraussetzungen ihn zu diesen Mordtaten geführt hatten, am Ende waren es drei vollendete Morde...
Sie stellte die eigentlich unsinnige, aber zum Katalog gehörende Frage, ob er sich nie in die Lage seiner Opfer versetzt habe und er sagte spontan reumütig, wie jeder so befragte antworten mußte: Ja, natürlich. Die drei jungen Frauen, er nannte sie Mitbeteiligte, wie in Komplizenschaft zu ihm stehend, waren nach seiner Auffassung zunächst in ein bestimmtes Verhältnis zu ihm als Mann getreten; er sah sich zu sexuellen Handlungen angeregt, die immer mit einer Blockierung seiner Fähigkeiten und mit einer blinden brutalen Vergewaltigung endeten. Letzter Akt war die Tötung des Opfers, der Mitbeteiligten, aus Selbstschutz, um den Folgen einer Anzeige, der Anklage und Strafe zu entgehen. Sie verstand aber nicht wirklich, was er ihr erklärte; den Koitus habe er nie beenden können und seinen Orgasmus in der Phase der Tötung mit der Hand stimuliert. Danach sei es dann wie Nacht und Ohnmacht über ihn gekommen; mit letzter Kraft habe er die Leichen weggeschleppt, verscharrt, in ein Loch oder ins Wasser geworfen... Sie kannte das; es war gerichtsnotorisch; die meisten Täter wollten nie mit einer Tötungsabsicht vergewaltigt haben, sondern erst nach vollzogener Notzucht, aus Angst vor den Folgen, gemordet haben. Bei eingestandener, also vorsätzlicher Mordabsicht blühte ihnen lebenslänglich, wie sie wußten, es sei denn, die Gutachter bescheinigten ihnen zum Tatzeitpunkt eine mindere Zurechnungsfähigkeit, ein Privileg, das die Verteidigung häufig anstrebte, um darauf aufzubauen und eine minder schwere Strafe durchzusetzen. Denn: Kein Lebenslänglicher kam in die Maßregel, die ja immerhin mit der Amnestierung enden konnte, sondern in Sicherheitsverwahrung, weggeschlossen auf ewig. Das andere aber war ihr unverständlich, es schien ihr völlig absurd; sie reagierte als Frau, als sie sich den von ihm geschilderten Ablauf vor Augen hielt, das Erwürgen des Opfers, den Bruch des Kehlkopfes, um zugleich die Selbstbefriedigung einzuleiten, nicht einmal, sondern mehrmals als Tatmuster...
»Sie müssen mir glauben«, hatte er mehrfach beteuert, »ich besaß kurz danach nie eine reale Erinnerung an das Geschehnis, also was ich gemacht hatte, habe Tage lang unter einen wahnsinnigen Druck im Kopf gelitten, unter Übelkeit, und mich mit Alkohol und Tabletten allmählich wieder auf die Beine gebracht. Es war furchtbar, ich dachte an Selbstmord, aber jetzt, jetzt wünsche nichts anderes als hier rauszukommen, um neu zu beginnen, um ein anderer Mensch zu werden, auch um wieder gut zu machen, was passierte, natürlich...« Soweit, dachte die Therapeutin jetzt, mehr war und mehr ist nicht zu bekommen und trotz aller Widersprüche ist das Bild wohl auch in sich schlüssig genug. Ein Schwächling, der den starken Mann markierte, sein Selbstvertrauen verloren und nach neuen Möglichkeiten der Machtentfaltung gesucht hatte. Im Grunde gestand sie sich ein, fehlte ihr die Vorstellung der ganzen Realität des Geschehens; womöglich hatte er ihr diesen Zusammenhang oktroyiert. Angesichts der Logik, oder dem Gegenteil davon, wie blind er seine Taten in der Regel aufgebaut haben wollte, das Zufällige beim Ausspähen des Opfers, deren Aussehen offenbar gar keine Rolle bei der Tatplanung spielte, deren Verfolgung, Gewohnheiten, zuletzt die Tatortbestimmung, die nicht geplanten, nicht planbaren Umstände der Beseitigung der Leiche; all das sprach für eine irre aber intelligente Planung, und wurde ausgeführt wie eine Demonstration, wie ein Exerzitium, eine Bestrafung, aber wofür, für welches Vergehen? Und war so, wie sie es sich zurechtlegte, nicht alles Fiktion?
Würde sie ihn nicht für krank gehalten haben, hätte sie nicht mit ihm arbeiten können. Sie hielt sich an die Techniken der Psychoanalyse; die durch sie beförderte Selbsterkundung der gestörten Persönlichkeit durch zielgerichtete Befragung, das Aufarbeiten der schändlichen, manchmal furchtbaren Taten, die man zu hören bekam, durch ständige Wiederholung des Gehörten, das Zermürben des Patienten, das Niederlegen der Selbstschutzsperre im Kopf des Täters, bis zu seinem völligen nervlichen Zusammenbruch. Es war ein gefährliches Spiel, gefährlich für beide, kaum weniger brutal als die Triebhandlung des Mörders selbst, aber mit Blick auf das Resultat hin erlaubt, wollte man der Kathederlehre glauben. Anschließen sollte der Aufbau einer neuen gesünderen Persönlichkeit, das Einpflanzen der Selbstkontrolle. Wer dies überstand, der mußte denn wohl auch wahrlich gesund sein.
Übrigens hatten alle Untersuchungen herkömmlicher Art, der sich Martin bereitwillig, ja, neugierig, unterzog, seine volle Gesundheit ergeben. Nichts war versäumt worden, man war durch mit dem Programm. Die Probe stand aus. Schließlich: Unter Umständen gab auch der seelisch Gesunde seiner Triebeingebung nur deshalb nicht nach, weil er sozial angepaßter, weil er erzogener war, erfolgreicher und selbstkontrollierter oder weil ihm die Grenze nicht so bestimmt gezogen wurde zwischen Duldung der sexuellen Handlung und einer Vergewaltigung, sicherlich viel häufiger als gedacht, und als Gewalt in der Ehe neuerdings verfolgbar. Oder er war einfach zu phlegmatisch, um ein solches Ziel zu verfolgen. Es galt die fehlerhafte, die faule Stelle in der Biographie Martins zu erkunden, die gerissenen Drähte neu zu verknüpfen. Dies war ihr, soweit wie möglich gelungen, meinte sie. Zu ihrem Nachteil unterdrückte sie, welche Form der Tötung er bevorzugt angewendet haben wollte; den Bruch des Kehlkopfes, wozu eine erhebliche Kraftaufwendung nötig ist, wie sie ein Gerichtsmediziner beiläufig erkundet hatte, anläßlich eines Gutachtens in einer anderen Sache, das sie im gerichtsmedizinischen Institut abzuholen und bei der Staatsanwaltschaft abzuliefern gehabt hatte. Auf Suche nach dem Mediziner war sie in den Sektionssaal verwiesen worden und zufällig Zeuge einer Demonstration des Prosektors für Studenten der Anatomie des Wirbelapparates geworden. Sie war stehengeblieben, um zuzusehen. Die Leichen hier sahen alle schön genug aus, wie angegrautes Marzipan; der Dozent hatte die Kopfschwarte der Rückseite eines Schädels bloßgelegt, einen Teil der oberen Wirbel bis zur Rückenmitte dargestellt und abgefragt; wie heiße dieser oder jener Knochen? Condylus occupitalis, und so fort; es habe da einen Massenmörder gegeben, humorvoll eingeflochten, der sich einer speziellen Tötung bediente, er pflegte den Kopf des Opfers weit nach vorn zu beugen und, nun um was zu durchtrennen? Genau, die Nerven im Wirbelkanal zwischen Atlas und Dreher und womit, nun, mit der kleinen Klinge eines gewöhnlichen Taschenmessers, haha …
Später, auf ihre Frage unter vier Augen nach der Beschaffenheit des Kehlkopfes, hatte sie diesem lustigen Anthropologen geschildert, wie ihr Klient seine Opfer getötet haben wollte. Der Gerichtsmediziner hatte zweifelnd den Kopf geschüttelte; mit bloßen Händen den Bruch des Kehlkopfes herbeizuführen, scheine ihm schwerlich machbar; der Kehlkopf, ein kompliziertes komplexes Organ, bestehe aus drei sehr stabilen Knorpelplatten, der Epiglottis, dem Schild- und Ringknorpel, verbunden mit dem Zungenbein. Eher könne er sich vorstellen, daß ihr Mörder den Tod seiner Opfer durch Erdrosseln, durch das Zusammenpressen der Halsvenen herbeigeführt habe. Selbst ein starker Schlag reiche aus, um die Blutzufuhr zum Hirn zu unterbrechen und den Tod herbeizuführen. Das Eindrücken des gesamten Kehlkopfapparates würde allerdings einen Minuten dauernden Todeskampf zur Folge haben; durch schlucken werde die Luftröhre verschlossen und die Speiseröhre geöffnet, und so weiter; anders als der Drosselgriff, etwa wie ihn die Großkatzen anwendeten, als Schock, in Sekunden tödlich. Aber möglich sei natürlich vieles, die wahren Umstände ließen sich erst bei der Sektion klären. Er hatte ihr vorgeschlagen, den Vorgang am Objekt zu demonstrieren, aber sie hatte diesem, von seinem Metier besessenen Spaßvogel eilig gedankt, und sie wünschte später, sich sogar das Privatissimum über den Kehlkopf erspart zu haben.