Читать книгу Perfekte Verbrechen ohne Verfolgung - Helmut H. Schulz - Страница 5
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An einem Vormittag beriet die Anstaltskonferenz verschiedene Vorgänge, den Strafvollzug betreffend, darunter auch Anträge Strafgefangener, zuletzt die Wünsche nach Freigang, Arbeit im offenen Vollzug bis zur Gewährung von Hafturlaub und so weiter; die Beamten gaben ihre Meinung zu den Einzelfällen ab, nach den Erfahrungen mit ihren Zöglingen und der verstrichenen Wochen und Monate anhand der bereits beschlossenen Vollzugspläne. Die Therapeutin war als Spezialistin des Hauses hinzugezogen, aber nicht gefragt. In ihre Zuständigkeit fielen die wenigen vom Maßregelvollzug betroffenen Männer, abgesehen von einigen Fällen, die ins Krankenrevier oder in eine Klinik zur Beobachtung überwiesen werden wollten, weil sie den Alltag der Haft nicht ertrugen, psychisch nachgaben oder suizidgefährdet schienen.
Die Haftpsychose trete im Allgemeinen kurz nach Strafantritt ein, stellte der Direktor fest; die Eingewöhnung in der Anstalt mit einem vergleichsweise modernen liberalen und milden Vollzug böte genügend Spielraum, dem Einzelfall entgegen zu kommen, auch ohne spezielle Behandlung der Psychose. Dann wendete sich die Konferenz dem Fall Martin zu. Anhand der Akten rekapitulierte der Direktor, der den Mann nur einige Male zu Gesicht bekommen hatte, dessen Straftaten und wendete sich dann dem Maßnahmeplan zu. Alle sahen die Therapeutin an… »Das letzte Wort liegt natürlich bei Ihnen, Frau Kollegin,« gab der Direktor freundlicherweise zu; er mahne jedoch an, daß man zumindest einen Zwischenbericht über das Erreichte an die Staatsanwaltschaft beziehungsweise an die Strafvollstreckungskammer weiterleiten müsse. Falls es also keine schwerwiegenden Bedenken gäbe, sollte man dem Häftling einen baldigen kurzen Freigang in Aussicht stellen, zumal er die Hälfte der Strafzeit hinter sich habe und bei seiner guten Führung mit einem Antrag auf Strafaussetzung vielleicht rechnen könne. Da sich niemand ein Bild von diesem Häftling machen konnte, schwiegen alle…
»Hat er eigentlich Familie, die sich um ihn kümmert«, fragte die alte Beamtin und Freundin der Therapeutin. Ja, die habe er zwar, Mutter und Geschwister, verweigere aber jeden Kontakt zu ihnen. Die Therapeutin war gut vorbereitet, sie sprach über die schwierigen häuslichen Verhältnisse des Klienten und erklärte, weiter ausholend, was sie in den Sitzungen aus ihm herausgeholt hatte, zog ähnliche Fälle heran, die gut dokumentiert vorlagen. Aber niemand, kein Therapeut könne vorhersagen, wie sich der Prozeß der Rehabilitierung in der Praxis weiter vollziehe, wie die Rückfälle auch bei positiver Bewertung zeigten. Ein Mitvierziger, die Hälfte des Lebens hinter sich, eines verpfuschten Lebens, unter der Glasglocke einer Anstalt gehalten, solle in eine freie Gemeinschaft mit ihren komplizierten Regeln und Versuchungen hineinversetzt werden… Hier warf die alte Beamtin ein, sie erinnere sich jetzt daran, daß vor einiger Zeit Arrest über ihn verhängt werden mußte, eine Kontaktsperre. Kurzfristig, ja, fiel ihr der Herr Direktor unwirsch ins Wort, das Gesetz vom September siebensiebzig der Kontaktsperre hätte hier keineswegs Anwendung finden dürfen, der Mann sei schließlich kein Terrorist, sondern einfach ein Kranker, nun ein hoffentlich gebesserter Kranker. Die Alte hielt ihm entgegen, daß seinerzeit ihres Wissens niemand den Ursachen seines Rückfalls nachgegangen sei, weshalb sich der brave Häftling von einem auf den anderen Tag in einen Tobsüchtigen verwandelt habe, der einen Kollegen mehrere Stunden lang in einer Art Geiselhaft gehalten habe, bis er endlich zur Aufgabe überredet werden konnte. Und Kontaktsperre, er habe ja, wie man höre, keinen Kontakt haben wollen. In diesem Falle böte sich doch erst einmal an, den Maßregelvollzug zu ergänzen und den Mann innerhalb der Anstalt zur Beobachtung etwa in eine Gemeinschaftszelle zu verlegen, mit einem ausgesuchten, psychisch stabilen Strafgefangenen natürlich. Ihr wurde heftig widersprochen, man wisse aus Erfahrungen, was passiere, wenn Triebtäter mit Normalen zusammengelegt würden, in mancher Anstalt als restriktives Mittel angewendet, um den Widerstand des Häftlings zu brechen, und daß diese auf ihre Normalität nicht wenig stolz, Kinderschändern, Sexualtätern die Hölle bereiten könnten. Selbst das Rotlicht habe seine Ethik.
Schließlich rang sich die Therapeutin zu einem Vorschlag durch, der schon aus dem Grunde Zustimmung fand, als er die festgefahrene Debatte zu beenden half. Als die alte Beamtin im Umkleideraum ihre Sachen ins Spind hängte und Zivilkleidung anzog, suchte die Therapeutin sie noch einmal auf, um unter vier Augen mit ihr zu sprechen. »Nein, mein Kind«, sagte die Alte bedrückt, »tun Sie, was Sie nicht lassen können,« aber sie habe kein gutes Gefühl bei der Geschichte und traue diesem aalglatten Kandidaten nicht über den Weg. Sie sagte: »Ich bin so lange dabei und habe so viele Neuerungen miterlebt, die alle gescheitert sind, daß ich lieber beim alten Stil bleibe, Strafe ist Strafe. Wenn Sie Ihrer Sache nicht ganz sicher sind, noch ist Zeit, den Freigang abzublasen. Lassen Sie den Alten meckern; er gehört einer anderen Fraktion an als wir, als Sie und ich. Politik hört an Gefängnismauern nicht etwa auf. Er wartet auf seine Berufung in die höheren Etagen der Justiz. Glauben Sie mir, der Gefangene kennt nur das eine, Flucht, er will raus hier, in die Freiheit. Jede Anstalt, und ich kenne einige, ist eine Hierarchie, zu der wir als Beamte keinen Zutritt haben, und jedes Gefängnis funktioniert doch wieder nur auf der Basis unserer Kooperation mit den führenden Häftlingen, den Kalfaktern. Sie sind es, die den Bau kontrollieren, alles, Arbeit, Freizeit, den Verkehr untereinander und nach draußen. Wie sonst würden wir bei den Kontrollen in vielen Zellen Heroin, Handys und sonstwas finden und wie anders kommt es herein, wenn nicht durch dunkle Kanäle, die wir nicht kennen. Wenn ich diese Menge Häftlinge auf den Etagen im offenen Vollzug umherschlendern, handeln und wandeln sehe, dann frage ich mich, was tun und treiben sie, was baldowern sie gerade aus, altes Wort, ich weiß, und was sich nach Einschluß abspielt, nachts, wenn der Bau zu leben beginnt, das sehen wir in der Zentrale natürlich nicht auf den Bildschirmen, die zeigen uns nur leere Korridore in voller Ruhe. Wie lange sind Sie jetzt bei uns? Zwei Jahre? Also noch in der Lehre. Geben sie auf sich Acht! Wie gesagt, ich traue Ihrem Klienten nicht über den Weg, der Bursche gehört weggeschlossen, was der Direktor auch faselt.« – »Weggeschlossen? Wer? Der Herr Direktor?« fragte die Therapeutin; es war ein Versuch, sich gelassen zu zeigen, aber die Alte schloß trocken: »Der auch, zeitweilig wenigstens. Dann hätten wir hier mehr Ruhe.«
Am Abend nach der Konferenz bereitete die Therapeutin ihre kleine Wohnung in Nähe der Haftanstalt für den Besuch eines Normalen vor, eine Kaffeestunde mit leichtem Gebäck. Trotz ihrer Zuversicht in den Erfolg der Maßnahme holte sie aus einem verschlossenen Fach des Schreibtisches eine Pistole, die ihr verstorbener Vater hinterlassen hatte. Sie nahm das Magazin heraus; es enthielt drei Patronen, eine steckte im Lauf. Sie träufelte etwas Öl auf die sich reibenden Teile und baute alles wieder zusammen, aber sie entschloß sich den Ratschlag der Alten zu beherzigen, keine Waffe bei sich oder auch nur in der Nähe zu haben im Verkehr mit einem Gefangenen. Sie wickelte die Pistole in ein Handtuch, schnürte ein Päckchen und trug alles hinunter in ein Gartenhaus, das von den Mietern des Hauses, außer ihr nur von einem alten freundlichen aber schwerhörigen Ehepaar in der Etagenwohnung über ihr, gemeinschaftlich zur Aufbewahrung von Gartengeräten genutzt wurde. Sie besaß zwar einen Waffenschein, hatte auch an einer Schießausbildung teilgenommen, aber nie daran gedacht eine Waffe zu kaufen.