Читать книгу Der Isländische Freistaat in Sagas - Helmut H. Schulz - Страница 3
I. Landnahme
ОглавлениеDie Saga von den Leuten im Laxartal ist einer der anschaulichsten Berichte einer Landnahme in der altnordischen Saga-Literatur und dem Landnáamabók; die Erzählung bietet einen kleinen überschaubaren Ausschnitt der Besiedlungsgeschichte Islands; der Landschaft am Breidafjord im Norden der Landzunge Snaefjellnes um die Zeit der ersten Norwegerkönige. Die Insel am Rande Westeuropas im Nordmeer entdeckt zu haben, teilen sich mehrere der alten Seefahrer; einer davon ist der Wikinger Gadar; ein anderer, Floki Vilgerdasson, bediente sich einer einfachen navigatorischen Hilfe, um den Weg zu finden, wie sie schon Noah gebraucht hat. Als der Norweger von den Färöern aus westwärts segelte, hatte er drei Raben an Bord und ließ sie nacheinander einzeln frei; zwei davon kamen zu seinem Schiff zurück, der dritte wies Floki den Weg. Alle Seefahrer, die im Südwesten Islands anlandeten, sahen ein nebelverhangenes Land mit flachen Erhebungen; sie nannten den Ort: Reykjavik, die rauchende Bucht. Die genauer hinsahen, fanden, dass hier von jedem Grashalm Butter tropfe, was nicht alle bestätigen wollten, aber es stimmte. Das Südland war reich an fruchtbarem Boden; die Fjorde wimmelten von Fischen, von Lachs, Kabeljau und Robben, von Seevögeln, die zu Tausenden, wenn nicht zu Millionen auf den Klippen oder auch am Boden nisteten. Ihre Eier bildeten eine sichere Nahrungsquelle, ihre weichen Federn Material zum stopfen der Kissen. Hin und wieder trieben die Meeresströme verendete Wale in die Fjorde; sie lieferten Speck und Tran. Raubwild gab es nicht. Zwar war die von Wikingern entdeckte Insel bis zum Ende des ersten Jahrtausend bereits vereinzelt durch Einsiedlermönche als Wohnsitz auserkoren, aber nie bearbeitet oder überhaupt nutzbar gemacht worden. Da es in dieser Einöde keine Menschen gab, konnte auch keiner christlich belehrt werden. Schottische, irische Klöster sendeten dennoch Mönche aus und versorgten die Einsiedeleien mit allem Nötigen. Zu beiden Seiten im Norden wie im Süden des Breidafjord, genauer eines Ablegers, Hvammr, fand eine ganze Reihe von miteinander verwandten Ansiedlern freies Land. Wie sich eine bäuerliche Gesellschaft zu einem Freistaat entwickelt und wie bald ein Freistaat an sein Ende kommt und aus welcher Ursache, ist hier im Laufe eines Jahrhunderts zu verfolgen. Alle historischen Darstellungen beginnen mit einem Geschlechtsregister. Die Nachgeborenen wollten wissen, woher sie kamen; sie führen ihre Abstammung auf einen göttlichen Ursprung zurück, begründen als Erklärung für das Unerklärliche ihrer Herkunft mit den Leistungen mythischer Vorfahren und formen sich ein in sich geschlossenes Geschichtsbild. Selbst Kaiser Karl der Große zählte die Göttin Berta, ein Gleichwort für die germanische Frigga, zu seiner Ahnfrau. Vom gesalbten, von Gott berufenem christlichen Königtum führt nur ein kurzer Weg zum Sendungsauftrag, der Berufung eines Selbstherrschers und seiner Nachkommen durch Gott zum Weltbesitzer und zum Lenker allen Lebens. Noch in der Neuzeit verkündeten alle europäischen Monarchen voller Überzeugung, dass ihnen Gott mit priesterlicher Zustimmung die absolute Gewalt verliehen habe, dass ihre Person unantastbar sei, immerhin noch im Jahrhundert der Aufklärung. Nicht wenige amerikanische Präsidenten geben an, und glauben es mehr oder minder selbst, mit ihrem Volk, von Gott auserkoren zu sein, die übrige Welt republikanisch zu verbessern.
Die ersten norwegischen Auswanderer kamen ohne einen göttlichen Auftrag nach Island, getrieben von ihrem Festhalten an der Überlieferung und von ihrem Freiheitswillen. Von keinem ihrer Götter beauftragt, vertrauten sie auf deren Hilfe bei der Suche nach einem Landeplatz für ihre Langschiffe, bauten dort, wo die ins Meer geworfenen Balken der aus ihrer Heimat mitgenommenen Hochsitze angeschwemmt wurden, mehr mit Selbstvertrauen als mit göttlichem Beistand, wohl auch häufig ohne ihn, die neuen Heimstätten. Als Bauern opferten sie den alten Naturgöttern zum Dank bei guter Ernte, feierten die Wintersonnenwende mit lodernden Feuern und in Baldur die Wiederkehr des Lichtes, deuteten unerklärbare Erscheinungen als Hinweise auf das heilsame Wirken der Götter oder auf das unheilsame von Tursen. Die Welt war ausgewogen; das Zeitalter der Naturreligion ist vielleicht das glücklichste in der Geschichte des Nordens gewesen; Tod und Leben blieben nahe beieinander ein stirb und werde; es gab kein Jenseits, keine jeden von ihnen angeborene persönliche Schuld gegenüber einem Gott, dessen Ansprüche niemand vorhersehen konnte. Gleichwohl war das irdische Leben kein Geschenk. Dennoch, hier, unterm Strohdach wie im Viehstall fühlen wir uns heimisch. In ihren Häusern fehlte in den langen düsteren Wintermonaten des Nordens das natürliche Licht; deshalb brannten sie im Mittelgang der Wohnhalle mit Schafmist unterhaltene Langfeuer. Das Helle steht der Dunkelheit entgegen; die Nachtschwärze ist dem Norden gleichbedeutend mit Gefahr, der panis nocturnis des Kindes und die Finsternis eine Bedrohung durch lichtscheue Mächte bis an die Markungen des geschützten Besitzes heran. Mehr: der Gegensatz von schwarz und weiß durchzieht die nordische Kosmologie; die Welt ist als ein fruchtbarer Baum gedacht und als Weltesche Yggdrasil von oben bis unten belaubt und besiedelt. In Asgard, der oberen Baumregion haben die Asen ihren Sitz; in der Mitte leben die Lichtalben, also die Menschen und weit unten im Inneren der Erde hausen die Schwarzalben, missgestaltete Zwitterwesen, Zwerge voller Bosheit, mit Zauberkräften ausgestattet, Menschenfeinde. Die Erde, in der dieser Baum fest verwurzelt ist, von einem belebenden Strom genährt, wird als eine Insel gedacht und endlich vom brausenden Weltmeer umflossen. Ringsum lauern Mischwesen, Tursen und Jöten, um den Weltenbrand auszulösen, den Ragnarök, der alles vernichtet. Das Weltenende kündigt sich mit dem Mordanschlag auf Baldur an, mit ihm schwinden Licht und Leben, die Dunkelheit bricht an, aber die Wiederkehr der Sonne bringt Erneuerung, in einem ewigen Kreislauf, in dem jeder und jedes seinen Platz hat. War der Lebensbaum ein Gleichnis, dem gegenüber alle Versuche der Geographen die nordische Welt in Kartenform wiederzugeben scheitern mussten, so gehört zum Lichterbe die Leibesschönheit, die sich im Blick, im Ausdruck der Augen und der Haltung des Körpers spiegelt. Junge Männer und junge Frauen strahlen Leben in voller Körperlichkeit aus, wie dem Sagaschreiber unzweifelhaft; keine ertüftelte Ästhetik ersetzt die Natur des angeborenen Schönen; den Lichten gehört die Welt, der Hässliche verdient kein Leben. Dieses frühgermanische Zeitalter endete mit einer Zäsur, dem Datum des ersten Jahrtausend, der Herrschaft Harald Schönhaars, Harfagr, der geschworen hatte, sein Haar erst zu schneiden, wenn er alle unterworfen hatte. Das geschah; die Ära der Königsreligion brach an. Den neuen und einzigen Christengott lernte der Norden spät kennen, denkt man an den zeitlichen und geografischen Ursprung der Lehre. Der Anspruch des christlichen Königtums auf Alleinherrschaft beseitigte nicht nur die alte Götterwelt; um die ging es zum wenigsten; sondern zerstörte die alten sozialen und kulturellen Strukturen. Die in Norwegen bis dahin führenden Geschlechter, die Hersen und Häuptlinge, hielten dem Druck der Königsreligion und der konzentrierten überlegenen Macht unter dem Zeichen des Kreuzes nicht stand; sie wichen aus, wenn sie nicht im Kampf untergingen. Von einem mythischen Siedlungsauftrag, einem Landgeschenk eines einzigen Gottes, wie im Falle der jüdischen Auswanderung aus Ägypten, ist keine Rede. Aus mehreren Gründen hat sich in Island, der abgelegenen Insel am westlichen Rand Europas das mythische Erbe neben das von den Isländern endlich übernommene Königschristentum wie in keinem kontinentalen Land erhalten können. Im Allgemeinen war Europa um 1000 n. Chr. christianisiert oder wurde wenigstens dafür angesehen. Nach einigen gescheiterten Missionierungsversuchen, dem letzten durch Thangbrand, dem obersten Priester des Königs Olaf Graumantels, Trygvasson, nahmen die Isländer durch Volksentscheid das Christentum mit einer bemerkenswerten Klausel an: Durch die Taufe, durch die Annahme des Königsglauben, sollten die alten Götter und Bräuche nicht abgeschafft werden, sondern weiter in Kraft bleiben, entgegen der Forderung des Christengottes, einmalig zu sein und Vielgötterei mit Höllenqualen zu strafen, ein Gebot, das anderswo konsequent durchgesetzt wurde. Fünfhundert Jahre früher hatte der Kirchenheilige Augustino von Hippo den Missionaren geraten, die Taufunwilligen der Folter zu unterziehen. Dem plündernden Krieger war immer und überall der christliche Prediger gefolgt, um das Wort Gottes auch denen zu predigen, die es nicht hören wollten, und die auch keine Veranlassung hatten, mit dem Erlösungsglauben ihre Volksrechte aufzugeben. Das dem Norden vom Prediger verheißene ewige Leben nach dem Tod hatte keine Wirkung auf die nordischen Völker gehabt; dieses Leben besaßen sie schon als Abschluss einer würdevollen erfüllten Existenz.
Weil die Auswanderer in Island unbewohntes Land vorfanden, konnte eine ungestörte Entwicklung bäuerlicher Wirtschaften einsetzen; die Landnehmer kamen in den Besitz großer Höfe und sie kamen erstaunlich schnell zu Wohlstand. Allerdings sind diese ersten Siedler auch nicht arm nach Island eingewandert, sie hatten alles bewegliche Gut aus der Heimat mitgenommen. Der wirtschaftliche Aufstieg zeitigte Folgen, führte zur Bildung des Freistaates in Fortsetzung der alten norwegischen Rechtsordnung in den Bezirksgerichten; das Althing ist das erste Parlament im Norden Europas. Zwar gilt die Volksversammlung überall als Basis der Demokratien, nur unterscheiden sich die frühen gesellschaftlichen Einrichtungen der Insel von denen der südeuropäischen antiken Welt, der Stadtdemos Griechenlands, durch die geringe Bevölkerungsdichte und durch das Klima des kalten unwirtlichen Nordens. Urbane Konzentrationen waren in Island unmöglich; es kam weder zu Machtzentren noch zu Verdrängungen; es gab keine Städte. Anders im Süden; Athen konnte expandieren, zur Auswanderung bereite Bürger finanzieren und auf unbewohnte Inseln ansiedeln, um letzten Endes von ihren Kolonien Steuern einzuziehen; die Bauten des Perikles in Athen wurden mit den Einnahmen aus den Kolonien finanziert Die Landnahme auf Island ist mit keiner anderen Besiedlung zu vergleichen; sie kam schnell zum Abschluss, als der Fond zu kultivierendes Landes aufgebraucht war. Island, das heißt, Eisland, war ein Land mit nur wenig bäuerlicher Nutzfläche. Das Hochland ließ sich nicht urbar machen, diente aber als Sommeralm. Heiße Quellen sprangen aus den Erdspalten, Vulkane öffneten ihre Krater und warfen glühende Lavaströme aus; Island entstand noch immer neu wie in den Schöpfungstagen aus wenigen widerstreitenden Elementen, aus Stein, aus Feuer und Wasser. Die Christen waren davon überzeugt, dass in einem dieser Schlünde der Eingang zum Höllenfeuer lag. Wer wollte dort freiwillig siedeln? Freiwillig kamen sie auch nicht; sie kamen weil sie vertrieben wurden. Ob sich die isländischen Bauern behaupten konnten, das hing neben ihrem Fleiß von den Bindungen der Sippen zu ihren Angehörigen in der alten Heimat ab.
Die norwegischen Könige haben Island immer als zum Reich gehörend und milde behandelt; sie störten den Handelsverkehr nicht, förderten ihn eher als umgekehrt, erlegten dem Islandfahrer keine Sondersteuern auf. Neben der Landwirtschaft trieben die Isländer erfolgreich Handel, sie führten in der Hauptsache einen groben Fries aus Schafwolle als Zahlungsmittel und Verrechnungseinheit aus. Aus der alten Heimat, aus allen Gegenden Europas holten sie Güter, die in Island selbst nicht erzeugt werden konnten; Bauholz vor allem, Eisen und Eisenwaren und, vom Gold beeindruckt, zunehmend dieses Edelmetall als Schmuck. Von der auf dem Kontinent einsetzenden frühen Akkumulation, der Umwandlung des Goldes in Geld war noch nicht die Rede; die Hergabe von Gold war Auszeichnung und Ehrengabe. Durch den Überseehandel floss Geld in verschiedenen Währungen ins Land; die Mark in Silber kam als Zahlungsmittel in den Geldverkehr; eine Mark entsprach dem Gewicht von zweihundert Gramm in Silber, ein recht hoher Wert. Während dreier Generationen, setzt man die hier in Rede stehenden Eiwanderung mit der Jahreszahl 890 n. Chr., an, als mit Unn der Weisen verbunden, und das Ende des Freistaates mit dem Jahr 1000 n. Chr., so hatte sich in etwa hundert Jahren die isländische Gesellschaft in Herren und Abhängigen, Knechten und Sklaven herausgebildet.
Die Bonden, freie Bauern, bildeten eine Zwischenschicht. Aber dieser freie Bauernadel stand vor großen Veränderungen; das scharlachrote oder königsblaue lange Gewand, der Schultermantel aus feinerem Tuch, Zeichen des Wohlstandes seiner Träger, machte es deutlich: Wer ein teures Gewand besaß und es mit Stolz trug, der arbeitete nicht mehr mit Händen auf den Feldern oder als Viehzüchter; er ließ arbeiten. In der Tat berichtet die Saga nun schon vom Geldverleih der Goden auf Zinsen. Als Alltagskleidung trugen die Bauern weiter ungefärbte Kleidung aus grobem braunem oder hellem Frieß, dank der Schafhaltung immer vorrätig, beinahe schon überzählig. Alle freie Zeit dürften die Frauen am Spinnrocken und vor dem Webstuhl verbracht haben. Einer der erfolgreichsten Schafzüchter wurde der Wikinger Skallagrimr der sich auf Borg niedergelassen hatte. Alles an Sondergerät, alle Schutz- und Trutzwaffen, hochgeschätzt und begehrt, kam durch den Seehandel nach Island. Erzfundstellen gab es auf der Insel nicht. In guten Jahren warfen die Ernten einigermaßen oder auch reichlich ab; dennoch musste ständig Mehl eingeführt werden. Nutzvieh gedieh bei gutem Jahreszeitenverlauf auf den Weiden. Insofern tropfte tatsächlich von jedem Grashalm Butter. Zwei Generationen lang waren den Gütern Gewinne, schwer erarbeitet, zugewachsen. Der Häuptling hatte auf den Feldern mit seinen Knechten und Sklaven geschuftet. Durch Heirat untereinander rückten die eingewanderten Sippen näher zusammen, bildeten Familienverbände, nahmen an Kopfzahl zu. Das bedeutete einen Machtzuwachs, aber auch Rechtsstreitigkeiten wurden häufiger. Oft ging es um Erbe, um Heiratsgut, immer um Land als das wichtigste Produktionsmittel. Die ersten Siedler am Breidafjord, die Tälerleute im Laxa- oder Laxwassertal, wie sie in den Sagas genannt werden und sich wohl auch selbst so bezeichneten, erscheinen in der Hochzeit des Freistaates als wohlhabend und als untereinander im weitesten Sinne verwandt. Laxwasser, das deutet auf den Fischreichtum des kleinen Flusses hin, der sich in den Fjord ergießt.
Die Sagas anderer Siedlungsräume, etwa die aus den Ostfjorden, die sogenannten Ächtersagas, sind kürzer und gedrängter als die Erzählungen über die Tälerleute und dem Weisen Njal, neben dem Goden Mörd einer der Rechtslehrer des Freistaates, ein gesuchter juristischer Beistand auf dem sommerlichen Althing, ein nordischer Perikles, ein Fuchs, der nicht nur Freunde hatte, eher im Gegenteil, wie sein Ende durch den Mordbrand beweist, dem seine gesamte Sippe erlag. Njal siedelte allerdings nicht im Laxartal, sondern südlicher auf einer Insel Bergthorshval in Nähe des Hofes, auf dem Gunnar von Hlidarendi hauste, der auf Veranlassung Njals in die Streitigkeiten der Tälerleute eingriff. Mögen die Sagas anderer Gegenden dramatischer erzählt sein, behandeln sie blutigere Auseinandersetzungen, schildern sie kühne Männer und Frauen, so ist bei den Tälerleuten eher die Rede vom Alltag eines Bauernvolkes und vor allem vom Überseehandel; nicht von Totschlägen und Prozessen. Die Altisländer sind keine Krieger gewesen, wie die Wikinger, deren Handwerk der Krieg war, sondern auf Erwerb setzende Bauern; die Sichel war ihnen näher als das Schwert, die Axt zuerst Werkzeug, nicht Waffe, gleichwohl wussten sie Schwert und Axt zu gebrauchen. Die Rechtsordnung, die ganze Gesellschaft Islands stand und fiel mit der Tatkraft und den Lebenswillen des Einzelnen; jeder bekam so viel an Recht, wie er verteidigen konnte und wie er verteidigen wollte, was keineswegs dasselbe ist.
Schauplätze wichtiger Islandsagas nach Jon Helgason
Der Sagaschreiber besaß über das Laxwassertal und seine Bewohner reiche, bis ins Einzelne gehende Kenntnisse, um die Beziehungen und Verhältnisse am Breidafjord zu beschreiben, sie vielleicht auch frei auszulegen, begeistert von seiner Fabulierlust wie von den Menschen, von denen er erzählt; selbst Entfernungen und Wegeverhältnisse wusste er in die Handlung miteinzubeziehen. Man kann auch heute noch mit der Karte und der Beschreibung der Saga die alten Wege gehen, und die Orte finden, wo die Helden der Saga gelebt haben. Wie ein Blick auf die Karte Islands zeigt, war Thingvellir, ab Mitte des zehnten Jahrhunderts der sommerliche Tagungsort des Freistaates und für die Tälerleute leicht erreichbar, leichter als den Amtsträgern und Thinggemeinschaften von der Ostküste an der dem Atlantik zugewendeten Seite und dem Norden. Hätte sich aus dem florierenden bäuerlichen Freistaat ein moderner Staat, in diesem Falle der frühe Feudalstaat entwickeln können, wäre ihm Zeit gelassen worden? Der Isländische Freistaat ist einmalig und er blieb so, wie er sich gebildet und verschwand aus der Geschichte als er sich überlebt hatte. Es hätte eines starken bodenständigen Feudalfürsten bedurft, um die in etwa gleichstarken Bezirksgoden und Häuptlinge zu entmachten. Gode, das bedeutet eigentlich Priester und auf ihren Höfen besaßen viele auch Tempel und Kultstätten, Götterbilder und Opfersteine.
Allein ab Mitte des zehnten Jahrhundert kamen auch vereinzelt christliche Bauten auf. Große Umwälzungen gehen mit Gewalt von oben einher, viel seltener auf Revolutionen von unten zurück. Die Stärke des Freistaates, allen Thinggenossen eher mehr Freiheit einzuräumen als zu wenig, wurde seine Schwäche. Island konnte überdies aus Mangel an Menschen keinen mächtigen Feudalfürsten hervorbringen; auch die Sturlungen um 1220 n. Chr., besaßen keine reale Macht. Waren die Voraussetzungen für einen zeitgemäßen Staat nicht gegeben, so dachten gegen Ende des Freistaates die führenden Goden über eine Reform des Thingregimes nach, als die Prozesse überhand nahmen und der Rechtsnotstand drohte, nein, als er schon eingetreten war, als kein Urteil mehr durchgesetzt wurde, wie die späten Prozesse Gunnars zeigen. Ein sogenanntes Fünftes Gericht als Berufungsinstanz sollte den Viertelgerichten der Thingbezirke übergeordnet werden. Dazu kam es nicht mehr. Immerhin konnte der Weise Njal den sechsunddreißig Goden der Bezirke seine Vorstellungen von der Reform darlegen, und sie nahmen einen Beschluss dazu auch an. Das Ende des Isländischen Freistaates wurde durch keinen Krieg, durch keinen Eingriff von außen herbeigeführt. Keine Bewegung von unten endete den Freistaat. Da waren einmal die Alten, der Bauernadel, im Besitz großer Herrenhöfe und der politischen Macht in Gestalt der Godengewalt des Bezirkes. Deren Söhne und noch mehr die Enkel hatten auf ihren Handelsreisen und längeren Aufenthalten in der Königsstadt Nidaros, Trondheim die Vorzüge der Reichsreligion und die Macht des Zentralstaates kennen und schätzen gelernt. Dazu mussten sie nicht einmal mehr die Taufe nehmen.
Hatten sie sich auf Grund ihres Herkommens noch gesträubt, den Königsglauben anzunehmen, so traten sie nun dem weltlichen Königtum, der Handelsfreiheit und der gebotenen Friedenspflicht näher, ließen sich umwerben und beschenken und stellten Vergleiche zwischen der nordischen Weltstadt Nidaros und Trondheim mit den starren Sitten der heimatlichen Insel an. Norwegens Könige kauften einfach Island; sie bekamen alles billig genug, gaben großzügig wie nur Könige dieses Zeitalters geben konnten, steigerten ihr Ansehen und ihren Einfluss. Immer wieder ist die Rede von Gaben aus den Schatztruhen der Könige, die durch Eroberungen, durch Tributleistungen der Unterworfenen und durch Steuern, den oder die Zehnten, ständig neu gefüllt wurden. Während der isländische Handel blühte, tobten um England schwere blutige Kämpfe um die Vormacht im Norden. Aus dem Gegensatz zwischen dem Reich und der Inselkultur entstand ein Bruch, die Entfremdung der Enkel von der Rechtsordnung der Ahnen, ihrer Väter und Großväter. Gegen Ende des ersten Jahrtausend stießen in Island zwei Welten zusammen; das Volksrecht verlor an bindender Kraft und die Rechtsgestalt des Althing an Wert; die Königsreligion war offenkundig überlegen und weltoffener als das Volksrecht, den blutigen Fehden zwischen rechtlich untereinander Gleichen, in Wahrheit ein enges Geflecht sozialer Abhängigkeiten. Das straffe Regime des energischen norwegischen Königtums bot sichtlich neue Möglichkeiten des Aufstieges, des freien Handels und der sozialen Erhöhung durch Berufung in die Gefolgschaft des feudalen Herrschers. Nicht wenige junge Isländer strebten nach Nähe des Königshofes, nach Aufnahme in den Kreis der Erwählten. Der junge Kauffahrer reiste als Isländer ab und kam als getaufter Königsmann nach Island zurück, um seine Reichtümer vorzuweisen. Diese kluge Politik Olafs, hier Thryggvassons, das allmähliche Einsickern des Königsglaubens führte zum Zerfall der überkommenen Ordnung. Die Abstimmung über Annahme oder Ablehnung des neuen Glaubens, spaltete am Ende das Althing in zwei etwa gleich große Lager. Längst hatten nicht wenige Goden christliche Tempel auf ihren Höfen errichtet oder sie geduldet und die Königsreligion zugelassen, ohne ihr selbst anzuhängen, in der Indolenz dieser Auflösungszeit ausharrend. Da beide Religionen Vorteile boten, waren beide zu nutzen. In der Saga vom Goden Hrafnkel nimmt der Held den Christenglauben deshalb an, weil er dem neuen Gott mehr vertraut als seinem alten Lieblingsgott Freyr, der in seinem Falle als Beistand schmählich versagt hatte, als er gebraucht wurde.
Die Gleichgültigkeit des Nordens in Glaubensdingen arbeitet für den Königsglauben. Wie sich die unteren Schichten, die Knechte und die unfreien Sklaven gegenüber der neuen Verheißung verhielten, die allen Menschen Gleichheit im Himmel versprach, darüber wissen wir wenig. In Norwegen waren die alten Geschlechter der Hersen und Thinggenossenschaften seit dem neunten Jahrhundert Zug um Zug geschlagen, von der Königsmacht besiegt und von ihrem Besitz vertrieben worden. Mit Verwandten, Bonden und Halbfreien und mit Knechten begannen sie auf großen Lastschiffen Norwegen zu verlassen und fanden in dem neuen Land, der unbewohnten Insel im westlichen Nordmeer, von der sie durch die Züge der Wikinger, den Entdeckern Islands, Kenntnis besaßen, die Freiheit, die sie in Norwegen verloren hatten. Auch die Wikinger, einmal die wahren Herrscher Europas, waren geschlagen worden. Auf ihren Fahrten hatten sie die Küsten Europas erkundet und die Kenntnisse über den Kontinent erweitert, Flüsse befahren, Paris, wenn auch vergeblich belagert und Kämpfe um Königreiche geführt. Auf der menschenleeren Insel im Nordmeer siedelten sie vereinzelt, hüteten ihre geraubten Schätze, wie Egil Skallagrimr, der das Ende seiner Tage auf Borg am Borgfjord entgegensah. Aber Wikinger waren keine Bauern; als Krieger glaubten sie nicht an den Wert dauerhafter Arbeit, sie nahmen weg, was sie wollten und wo auch immer. In ihrer großen Zeit hatten sie vorübergehend in England, in Schottland wie Fürsten geherrscht; sie konnten keinen Staat bilden, wenn auch in großen Siedlungen und Stützpunkten handwerkliche Gewerbe blühten, Kunstgegenstände von hohem Rang hergestellt wurden. Wikinger hatten den Schiffbau auf eine unerhörte Höhe gebracht. In den Isländersagas kommen sesshaft gewordene Wikinger nur noch wegen ihrer Händelsucht vor; sie sind Störenfriede. In der Überlieferung hatte der kriegerische Wotan, das Vorbild des Wikingerführers, den bäuerlichen Gott Asa-Thor überflügelt; mit dem Lanzenwurf über die mit den Asen im Streit liegenden Wanen löste Wotan den ersten Weltenbrand aus.
Götter haben keine Moral; der Wikingerführer hatte auch keine; er sah sich als Erbe Wotans, beanspruchte alle Güter der Welt, opferte als Gegenleistung dem Kriegsgott die Gefangenen durch Erhängen. Allein in dem neuen christlichen Königtum, so gewalttätig es selbst auch gewesen ist, hatten sich Wotan und Wikinger nicht vereinen lassen. Um ihre gewohnten Rechte und Freiheiten zu wahren, errichteten die norwegischen Ankömmlinge in dem neuen Land ein bäuerliches Gemeinwesen, das etwa drei Generationen Bestand haben sollte, bis sich durch die Einführung des Christentums die Thingordnung zugunsten des Reichsrechtes auflöste. Das Volksparlament blieb in Norwegen wie in Island allerdings weiter bestehen, nur übernahm fortan der König oder einer seiner Vasallen, ein Beamter, wenn man will, die Rolle des Gesetzessprechers. Es war das römische Recht, das sich durchzusetzen begann. Der vom König berufene Funktionär ersetzte den gewählten Richter des Freistaates. Die Unterdrückten hatten Grund auszuwandern, aber wer waren diese ersten Auswanderer, die in Island ihre Wirtschaften und ihren Freistaat gründeten?