Читать книгу Das Schatzschiff – Auf Kaperfahrt in der Karibischen See - Helmut Höfling - Страница 5

Der Einbeinige und das irische Mädchen

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Am nächsten Morgen überprüfte ich mit Peter Corlaer, welche Waren wir für unsere Handelsniederlassung brauchten. Das dauerte mehrere Stunden, so dass ich erst am späten Vormittag das Konto verlassen konnte, um an Bord von Kapitän Farradays Schiff zu gehen und die Löschung der Frachtstücke für unser Lagerhaus zu besprechen.

Als ich nach meinem Hut griff, schaute mich Darby McGraw so bittend an, dass ich ihn in die Küche schickte, um eine Tasche voll frisch geschlachteter Hühner und Wintergemüse zu holen. Matrosen, die eine lange Seereise hinter sich hatten, waren für solche Nahrungsmittel immer besonders dankbar.

„Darf ich sie selbst zum Schiff tragen, Master Robert?“, fragte mich der Junge.

„Von mir aus. Wir gehen gleich los.“

Er freute sich darüber, als hätte ich ihm ein Geschenk gemacht. Vergnügt trabte er immer ein paar Schritte voraus und trällerte ein Seemannslied.

Wir gingen die Pearl Street hinunter zur Broad Street, wo die Anlegestelle ins Land hineinspringt. Von dort aus schritt ich weiter, um mich am Ende der Whitehall Street mit einer Jolle zum Bristoler Postboot hinausrudern zu lassen, als Darby meine Aufmerksamkeit auf die hochragenden Masten und das verwickelte Tauwerk eines großen Schiffes lenkte, das am Landungsplatz des East River vor Anker lag.

„Das ist ’ne Fregatte, Master Robert!“, rief er.

Es war tatsächlich ein Kriegsschiff, wie die Reihen bemalter Kanonenluken und die festen Relings bewiesen.

Darby war Feuer und Flamme, und seine Augen blitzten abenteuerlich, als er flüsterte:

„Glauben Sie, dass es hinter den Piraten her ist?“

„Keine Spur“, antwortete ich lachend. „Das ist ein Spanier. Der lechzt nicht nach Piratenblut, Darby. Aber sieh doch! Da liegt noch ein anderes fremdes Fahrzeug: eine Brigg.“

Ich zeigte auf einen stark mitgenommenen kleinen Zweimaster mit geflickten und schmutzigen Segeln und einem Einschuss auf dem schwarz bemalten Rumpf.

„Die Brigg hat bestimmt was von den Seeräubern abbekommen“, fügte ich hinzu. „Sie kann ihnen gerade nur um Haaresbreite entwischt sein.“

Darbys Augen weiteten sich wie Katzenaugen im Dunkeln. “Donnerwetter noch mal, was die für ein Loch in der Flanke haben! Das ist bestimmt nicht von einer kleinen Kanonenkugel! Die da auf der Brigg werden ganz schön in die Hose gemacht haben, Junge, Junge! Lachen Sie mich jetzt immer noch aus, Master Robert, wenn ich sage, dass Seeräuber vor der Küste kreuzen?“

„Nein, Darby, bestimmt nicht. Diese Burschen waren dem Tod näher, als ihnen lieb war.“

„Da haben Sie vollkommen recht, junger Herr!“, erklärte eine angenehme Stimme hinter mir. „Ganz erstaunlich, dass eine Landratte wie Sie das sofort erkennt – wirklich!“

Mit einem Ruck drehte ich mich um und erkannte einen gut aussehenden, offen dreinblickenden Mann im besten Alter mit einem massigen, kräftigen Körperbau. Es fehlte ihm jedoch das linke Bein, das nahe der Hüfte amputiert war. Deshalb stützte er sich auf eine lange Krücke aus fein geschnitztem Hartholz. Es war Mahagoni, wie ich später feststellte. Diese Krücke benutzte er so geschickt wie ein lebendiges Glied. Eine Schnur, die unter der Armgabel durch ein Loch lief, hing mit einer Schlinge um seinen Hals, so dass die Krücke nie aus seinen Händen gleiten konnte, wenn er sich hinsetzte. In ihre Spitze war ein scharfer, stählerner Stachel eingesetzt, wahrscheinlich damit die Krücke auch auf einem schiefen und schlüpfrigen Deck nicht ausrutschen konnte.

Während ich ihn betrachtete und er noch sprach, humpelte er an meine Seite – mit einer vertraulichen, einschmeichelnden Miene, die Darby noch stärker beeindruckte als mich.

„Ja, wir waren schön in der Patsche“, fuhr er fort, „und ich bin einer von denen, die der Himmel so wunderbar errettet hat.“

„Sind Sie von der Brigg da drüben?“, fragte ich neugierig.

„Klar, junger Herr, so wahr ich vor Ihnen stehe!“

„Woher kommen Sie denn?“

„Von Barbados auf der Brigg `Konstanze´. Ich heiße Silver, Sir. John haben mich meine Paten getauft. Aber meine Kameraden nennen mich meistens `Bratrost`, weil ich als Koch erster Klasse gelte.“

„Sind Sie früher schon mal mit Seeräubern zusammengestoßen?“

„Und ob!“, entgegnete er und senkte die Stimme, als er auf sich selbst deutete. „Sehn Sie sich nur mal diesen schiefen, wackligen Leichnam an! Unverkennbar ein Einbeiniger, stimmt’s?“

Ich nickte.

„Und wie, glauben Sie, habe ich meine linke Flosse verloren, he?“, fuhr er fort.

„Ich weiß nicht…“

„Nun, dann will ich’s Ihnen erzählen, Sir“, sagte John Silver. „Sie haben ein junges Gesicht – und ein freundliches dazu. So ein Mensch wie Sie nimmt Anteil an Not und Sorgen eines unglücklichen Seemanns… Ja“, bestätigte er noch einmal mit einem Blick auf Darby, „und dieser gute Junge da auch.“

„Stimmt, Sir“, erwiderte Darby. „Ich möchte selbst gern Seemann werden.“

„Irländer, nicht wahr, mein Bürschchen?“

„Erraten!“

„Ja, das hab ich doch gleich gewusst. Auf den ersten Blick!“

Darby strahlte vor Stolz.

„Was wollte ich noch sagen…?“, fragte Silver, indem er sich an die Stirn griff.

„Wie Sie Ihr Bein verloren haben“, half ich.

„Ach ja, ich bin froh, dass es nicht meine Pfote war, die da zum Teufel ging.“

„Warum, Sir?“, wollte ich gern wissen.

„Weil der Mensch ein verlorenes Bein wieder ersetzen kann, das zu nichts weiter nütze ist außer zum Gehen. Aber ’ne Hand…? Denken Sie bloß mal darüber nach, mein Herr! Ohne Hand können Sie nicht arbeiten, nicht fechten, sogar kaum essen. Deshalb sag ich ja, dass ich Glück hatte.“

Der Mann fesselte mich. Gern hätte ich ihn zu weiteren Erzählungen ermuntert – ganz gleich, ob Darby bei mir gewesen wäre oder nicht. Aber es war Darby, der ihn aufs Hauptthema zurückbrachte.

„Haben Sie die Seeräuber gesehn?“, rief der Junge in atemloser Erregung.

John Silver richtete sich an seiner Krücke auf und warf einen finsteren Blick auf die Stelle, wo die Kanonenkugel die Brigg aufgerissen hatte.

„Gesehn…?“, wiederholte er. „Nun, mein Junge, das kommt drauf an, was man darunter versteht.“

„Ich meine, in der letzten Zeit?“

„Nein, das kann ich nicht mit gutem Gewissen sagen. In der letzten Zeit – nein… Mit meinem Bein früher war’s was anderes. Und auch damals, als Flint mich auf den Strand gesetzt hat.“

„Dann kennen Sie also Flint?“, unterbrach ich ihn.

Er schüttelte den Kopf. „Kennen…? Nein, nein, mein junger Herr, so blutige Schurken kenne ich nicht! Ich hab die Halunken gesehen, ja, das stimmt – sogar mehr von ihnen, als mir recht ist. Und was sie mir angetan haben, war schrecklich genug. Aber unser Herrgott hat zweifellos beschlossen, dass ich meinen Teil hinter mir habe. Denn beim letzten Mal ist es mir gelungen, mich mit heiler Haut aus den Händen dieser Mörder zu befreien.“

„Haben sie Ihr Schiff vor Handy Hook angegriffen?“, erkundigte ich mich.

„Vor Handy Hook?“, wiederholte er. „Schon möglich, junger Herr, dass es dort war. Wir haben uns wenig darum gekümmert, wo wir uns befanden. Unser einziger Gedanke war, ungeschoren in den sicheren Hafen zu laufen.“

„Aber wie ich sehe, haben sie euch beschossen. Und eine Kugel hat getroffen.“

„Das da?“, fragte er und deutete auf die aufgerissene Stelle im Schiffsrumpf. „Ach ja, eine Kugel, das stimmt. Aber, Sir, darf ich mir auch eine Frage erlauben?“

„Bitte!“

„Wissen Sie vielleicht, ob noch andere Fahrzeuge draußen vor dem New Yorker Hafen gejagt worden sind?“

Ich zeigte nach jener Stelle hinüber, wo Kapitän Farradays Segler eine knappe Seemeile oberhalb der Brigg vor Anker lag und leicht auf den Wellen schaukelte.

„Dieses Postboot aus Bristol ist erst gestern Morgen dem berüchtigten Kapitän Rappee entwischt“, erzählte ich ihm.

Er runzelte die Stirn und blickte finster drein. „Donnerwetter, junger Herr, das ist ja eine Hiobsbotschaft – Kapitän Rappee! Jetzt sind bestimmt schon die königlichen Kriegsschiffe hinter ihm her?“

„Leider nein“, erwiderte ich. „Das nächste liegt in Boston. Vor einer Woche können wir die Schurken nicht verfolgen.“

Bekümmert schüttelte er den Kopf. „Donnerwetter noch mal, das sind schlechte Neuigkeiten! Ein Glück, dass ich die Segel vollgenommen hab! Er war hinter mir her, bis es dunkel wurde. Erst dann gierte er ab – mehr aus Furcht vor Sandbänken als vor sonst was. Das kann ich beschwören!“

„Dann hat er also gestern Jagd auf Sie gemacht?“

„Stimmt genau, junger Herr! Hab ich das nicht vorhin schon gesagt?“

Ich zuckte die Schultern.

„Natürlich war’s gestern“, fuhr er fort. „Es war gestern um die Mittagszeit, als er am Horizont auftauchte und mit großer Fahrt auf uns zukam. Er wollte uns eine Spiere abschießen, um uns aufzuhalten. Aber statt der Holzstange traf er den Rumpf, wie Sie sehen. Wir sind ihm noch mal durch die Netze gegangen, obwohl er uns unbedingt fangen wollte.“

Einer von den Fährleuten kam längs des Ufers auf uns zu gerudert. Ich winkte ihm zu, er solle unter dem Pfahldamm anlegen, auf dem wir standen.

„Ich muss fort“, sagte ich deshalb zu Silver.

„Schade, junger Herr!“

Als er sah, wie ich mich bereitstellte, um die Fangleine aufzuschnappen, die der Fährmann an Land werfen wollte, drängte er sich dazwischen und bat:

„Lassen Sie mich das machen, Sir! Das ist Arbeit für einen Seemann.“

Geschickt fing er die Fangleine auf und hielt sie fest in seiner rechten Hand, während er mit der anderen den Korb hinstreckte, den Darby auf den Boden gestellt hatte.

“So, junger Herr, jetzt können Sie bequem einsteigen. Und den Korb hier – wollen Sie den mit auf die Ruderbank nehmen?“

„Ja, danke, Silver.“

Er deutete mit dem Kopf auf Darby. „Und dieser nette Junge hier – geht der auch mit?“

„Nein, Darby bleibt hier“, erwiderte ich, während ich ins Ruderboot stieg.

„Dann erlauben Sie ihm bitte, mich für eine halbe Stunde zu begleiten. Er könnte mich ein bisschen durch die Stadt lotsen, denn ich bin fremd in diesem Hafen, und für ’nen Krüppel ist jeder Umweg doppelt lästig.“

„Von mir aus kann er Sie begleiten, wenn er will.“

Darbys sommersprossiges Gesicht strahlte vor Freude, noch länger die Gesellschaft des einbeinigen Seemanns genießen zu können, der so spannend von Gefechten mit Seeräubern erzählte.

„Ja, Master Robert, das mach ich gern!“, versicherte er. „Ich zeig ihm schon den richtigen Weg überallhin.“

Mein Fährmann wollte sich gerade in die Ruder legen, als mich ein plötzlicher Gedanke veranlasste, ihn damit noch einen Augenblick warten zu lassen.

„Übrigens, Master Silver“, rief ich, „vielleicht kann Darby Ihnen nicht bei allem behilflich sein. Suchen Sie irgendjemand Besonderen?“

Nur wenige Sekunden zögerte er und antwortete dann: „Nun, nicht gerade jemand Besonderen, Sir. Ich möchte gern in die `Walfisch-Schenke´, wenn Sie vielleicht zufällig von so ’ner Kneipe gehört haben sollten.“

Ich nickte. „Sie liegt im Ostviertel, gleich hier anschließend. Darby kann Sie hinführen.“

Er rief noch einmal seinen Dank zum Boot hinüber und stapfte behände an seiner Krücke davon. Stolz trabte Darby neben ihm her.

An Bord der `Anna´ fand ich alles drunter und drüber. Wie ich erwartet hatte, war Kapitän Farraday noch nicht wieder zurückgekehrt, seit er am Nachmittag zuvor an Land gegangen war. Zweifellos verschlief er jetzt in der `Georgs-Taverne´ die Wirkung verschiedener Getränke.

Deshalb führte Master Jenkins die Aufsicht über das Schiff. Früher war er einmal mit knapper Not dem Schicksal entgangen, von dem blutrünstigen Flint und seinem Gefährten Rappee ertränkt zu werden.

Mit ihm die Ladungsverzeichnisse zu überprüfen war ein langweiliges Geschäft. Erst am späten Nachmittag waren wir mit unserer Arbeit fertig und kehrten auf Deck zurück. Meine Jolle hatte man schon längst zurückgeschickt. Deshalb befahl Jenkins dem Bootsmann, ein paar Matrosen auszumustern und mich an Land zu rudern.

Als ich neben dem Fallreep stand, sprach ich so beiläufig über die beiden Schiffe, die seit heute Morgen in den Hafen eingelaufen waren.

„Übrigens, die Brigg ist mir Ihrem Freund Rappee aneinander geraten“, bemerkte ich.

„Ja“, erwiderte Jenkins mürrisch. „Es ist erstaunlich, dass ein Barbados-Segler Zucker und Rum nach New York bringt. Das überlassen die Burschen meistens den Yankees.“

„Richtig“, gab ich zu. „Aber keine Regel ohne Ausnahme.“

In diesem Augenblick ertönte ein schriller Signalpfiff stromaufwärts an Bord der spanischen Fregatte.

„Jammerschade, dass das nicht eines unserer Kriegsschiffe ist“, entfuhr es mir. „Sonst würde Rappee eine Dosis von seiner eigenen Medizin zu schlucken kriegen.“

Master Jenkins‘ Gesicht verriet äußerste Missbilligung.

„Diese Spanier!“, schnaubte er. „Ich möchte gern wissen, was sie überhaupt hier zu suchen haben. Die führen nichts Gutes im Schilde.“

„Was sollten die denn schon anstellen?“, fragte ich.

Er zuckte die Achseln. „Das weiß ich auch nicht. Aber von den Spaniern ist nie was Gutes gekommen, Master Ormerod, das können Sie mir glauben.“

Bevor ich antworten konnte, meldete der Bootsmann, dass die kleine Jolle klar sei und am Fuß der Leiter liege. Ich wünschte Master Jenkins rasch einen guten Abend und stieg ein.

Als sich mein Boot von der Flanke des Bristoler Postseglers löste, schoss hinter dem Rumpf des Spaniers eine Schute hervor und folgte in unserem Kielwasser. Ein Dutzend stämmiger Burschen legte sich in die Riemen. Auf den Achtersitzen neben dem kommandierenden Offizier saß eine einzelne dicht verhüllte Gestalt.

Fast gleichzeitig liefen die beiden Boote die Helling der Broad Street an. Ich sprang ans Ufer, warf den Matrosen, die mich gerudert hatten, ein paar Münzen zu und machte mich auf den Heimweg.

Aber ich war noch nicht weit gekommen, als ein Mann vom Kai hinter mir herrief:

„Señor! He, Bursche!“

Ich drehte mich um und erblickte den Bootsführer der Fregattenschute. Er überschüttete mich mit einem Schwall spanischen Kauderwelschs, von dem ich kein Wort verstand. Als ich ihm das sagte, trat eine zweite Person in den gelben Schimmer einer Petroleumlampe, die dicht daneben an der Mauer eines Lagerhauses von einem Steinvorsprung baumelte. Es war die vermummte Gestalt aus der Schute. Doch statt eines Seekadetten oder Unteroffiziers enthüllte der dürftige Lichtschimmer ein junges Mädchen, dessen zierliche Gestalt ich trotz der Falten ihres schweren Mantels erkannte.

Ein einziger scharfer Ausruf in Spanisch – und der Bootsführer verstummte.

„Sir“, sagte sie dann in einem Englisch, wie ich es nicht besser sprach, „können Sie mir den Weg zur `Walfisch-Schenke´ zeigen?“

Ich brachte keine andere Antwort hervor als ein undeutliches Gestammel. Sie war heute bereits der zweite Fremde, der nach dem `Walfisch´ fragte – nach dieser Spelunke, die als berüchtigter Schlupfwinkel lichtscheuen Gesindels bekannt war. Aber sie gehörte bestimmt nicht zu den Frauen, die irgendetwas mit jenen Lumpen zu tun hatten, die im `Walfisch´ verkehrten. Ich fragte mich auch, wie ein so schönes Mädchen an Bord einer spanischen Fregatte kam. Im milden Laternenschein sah sie alles andere als spanisch aus. Sie war zwar dunkelhäutig, und ihre Haare glänzten in tiefstem Schwarz, doch ihre Augen waren so blau wie die Augen von Darby McGraw. Sie schien kaum dem Kindesalter entwachsen und noch voller Unschuld. Umso seltsamer klang ihre Frage, die sie an mich gerichtet hatte. Ungeduldig stampfte ihr schlanker Fuß auf die Kiesel, während ich dastand und sie anstarrte.

„Nun, Sir“, sagte sie kalt, „verstehen Sie vielleicht genauso wenig Englisch wie Spanisch?“

„N-nein“, brachte ich mühsam hervor. „Aber – der `Walfisch´ ist nicht der richtige Platz für Sie, Miss.“

„Ich verstehe nicht ganz, was Sie damit meinen“, antwortete sie. „Ich will dort nur meinen Vater treffen.“

„Aber er wäre bestimmt nie damit einverstanden, dass Sie ausgerechnet zu dieser Stunde hingehen“, wandte ich ein.

Sie kicherte vergnügt.

„Sie reden so, als kennten Sie ihn gut“, gab sie zu. „Ich habe mich nämlich nur an Land rudern lassen, weil ich heute Abend endlich einmal etwas Abenteuerliches erleben wollte, nachdem man mich wochenlang in diesem scheußlich schmutzigen, alten Schiff dort drüben eingesperrt hat. Verstehen Sie mich jetzt?“

„Wenn Sie heute Abend unbedingt etwas Abenteuerliches erleben wollen, brauchen Sie deshalb noch lange nicht in den `Walfisch´ zu gehen“, antwortete ich.

„Lassen Sie das nur meine Sorge sein. Wenn mein Vater dort ist, kann mir nichts geschehen.“

„Wenn er dort ist“, betonte ich. „Ich glaube eher, dass Sie den Namen der Schenke verwechselt haben.“

„Nein, nein“, rief sie entschieden. „Ich habe gehört, wie er mit den anderen davon sprach. Aber ich will Ihren Rat beachten. Sobald wir hinkommen, kann Juan in die Schenke hineingehen, während ich draußen warte.“

„Das hört sich schon besser an.“

„Ich möchte endlich wieder einmal nach all den Wochen auf dem schwankenden Schiff festen Boden unter den Füßen fühlen. Morgen bei Flut fahren wir schon wieder ab. Dann werde ich erneut wochenlang auf hoher See sein.“

„Wenn Sie gestatten, begleite ich Sie ein Stück zum `Walfisch´“, bot ich mich an. „Ich habe sowieso dieselbe Richtung.“

„Sehr freundlich von Ihnen“, entgegnete sie. „Vielen Dank!“

In spanischer Sprache erteilte sie einen Befehl, der den Unteroffizier, den sie Juan nannte, und einen seiner Leute aus den dunklen Schatten hervorrief. Die beiden schlossen sich uns an, während wir an der langen Reihe der Lagerhäuser entlangschritten.

„Sie machen zurzeit eine lange Seereise?“, fragte ich.

„Das kann man wohl sagen!“, rief sie. „Von hier nach Florida – und dann weiter nach Havanna und in die Städte Mittelamerikas.“

„Dann werden Sie bald Abenteuer genug erleben“, sagte ich. „Nur wenige Männer kommen so weit herum – junge Mädchen überhaupt nicht.“

„Ja, Sir, das denke ich auch immer! Ich war fast verrückt vor Freude, als mein Vater ins Kloster kam und mich von den Schwestern fortholte.“

„Aber Sie sind bestimmt keine Spanierin!“, wandte ich ein.

Sie lachte hell auf. „Die Leute sagen, ich sei so irisch wie die Schweine auf den Hügeln von Wicklow, wo ich geboren worden bin.“

Und ganz plötzlich wurde sie wieder ernst.

„Ich kenne zwar Ihre politischen Anschauungen nicht, Sir, aber trotzdem möchte ich Ihnen sagen, dass mein Vater zu jener Partei gehörte, die gegen den Hannoveraner eingestellt war und für König Jakob und den fröhlichen Charlie kämpfte. Und da ihn jetzt sein eigener König nicht beschäftigen kann, dient er Spanien.“

„Hoffentlich werden Sie sich in Westindien glücklich fühlen, Miss!“

„So lange bleiben wir nicht dort. Mein Vater ist technischer Offizier. Er muss die Befestigungen am Golf besichtigen. Noch vor Jahresende kehren wir nach Spanien zurück.“

Gerade als ich ihr eine weitere Frage stellen wollte, deutete sie nach vorn.

„Sehen Sie da vorn, Sir! Soll das Schild dort nicht einen Walfisch darstellen?“

„Ja“, bestätigte ich, „das ist die Schenke.“

Ein einziger Blick auf die funkelnden Fenster und auf die Halsabschneider, die durch die niedrige Tür hineindrängten oder hinauswankten, überzeugte meine Begleiterin, dass ich den Charakter des Wirtshauses durchaus nicht falsch dargestellt hatte. Sie wich bis an den Prellstein zurück, und ihre Mundwinkel senkten sich betrübt.

„Mein Gott, was für eine elende Spelunke!“, murmelte sie. „Warum geht mein Vater nur hierher? Geschäfte, hat er gesagt. Geschäfte.“

Sie schüttelte den Kopf, nachdenklich und voller Zweifel.

„Ich möchte mich Ihnen keineswegs aufdrängen, Miss“, sagte ich, „aber ich fürchte, Ihre Spanier können sich nicht verständlich machen. Ist es Ihnen recht, wenn ich mich drinnen nach Ihrem Vater erkundige?“

Sie überlegte, während sie leicht an der Unterlippe nagte.

„Es ist bestimmt das Beste“, erwiderte sie. „Wenn ich nur wüsste, wie ich Ihnen dafür danken könnte.“

„Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Miss! Wenn Sie mir im Augenblick nur Ihren Namen nennen würden, damit ich weiß, nach wem ich mich erkundigen muss.“

„Ach ja!“, rief sie mit einem glucksenden Lachen. „Wie dumm von mir, dass ich das vergessen habe! Bitte, Sir, fragen Sie nach Oberst O’Donnell und sagen Sie ihm, dass seine Tochter Moira draußen wartet.“

Ihre Stimme klang mir immer noch in den Ohren, als ich auf die Tür zuging und mit der Schulter einen betrunkenen Matrosen zur Seite schob. Ich beugte mich, um nicht mit dem Kopf gegen den oberen Türrahmen des Kneipeneingangs anzustoßen, und trat in den nebligen, blaugrauen Dunst des Ausschanks. Dicht gedrängt standen die Tische, Tabakrauch und abgestandene Bierreste verpesteten die Luft, und mit rauen Kehlen wurden Flüche und Seemannslieder gegrölt.

Was meine Gedanken von dem irischen Mädchen vor der Tür zunächst ablenkte, war der Kehrreim eines dieser Lieder – eine wilde, gejohlte Weise von Blut und wüstem Gelage:

„Fünfzehn Mann auf dem Totenschragen -

Jo-ho-ho und ’ne Buddel voll Rum!

Satan und Suff hat sie alle erschlagen –

Jo-ho-ho und ’ne Buddel voll Rum!”

Ich blickte nach der Ecke, aus der die Töne hervordrangen, und entdeckte den einbeinigen Seemann John Silver. Mit einem Zinnkrug hämmerte er den Takt auf die Tischplatte und dirigierte damit die Gruppe, die sich um ihn geschart hatte. Einer der lautesten Schreihälse nach ihm war Darby McGraw, dessen flammendroter Haarschopf wie die Flagge eines Seeräubers leuchtete. Mit seiner schrillen Stimme überschrie er selbst die donnernden Bässe seiner Genossen.

Nie zuvor hatte ich eine schändlichere Matrosenbande zusammen gesehen! Zwei Kerle fielen mir besonders auf: ein schwammiger Mann mit talgiger Gesichtshaut, dessen schlaue Augen durch eine fettige schwarze Haarsträhne verdeckt wurden – und ein großer, rüstiger mahagonibrauner Bursche mit geteertem Zopf, dem das Singen offenbar ebenso viel Spaß machte wie dem armen betrunkenen Darby.

Silver sah mich fast im gleichen Augenblick, in dem ich ihn erspähte. Mit einer kurzen Bemerkung zu den anderen sprang er auf und stelzte quer durch die Stube, wobei er Darby am Ärmel hinter sich herzerrte. Seine großen, gutmütigen Augen zeigten ein Lächeln, das einen leichten Anflug von Ärger verriet.

„Sie kommen ihn also holen, nicht wahr, Master Ormerod?“, stieß er mit Trompetenstimme hervor, um das wüste Gejohle zu übertönen. „Sie denken sicher, ich sollte mich schämen, stimmt’s? Aber Sie tun mir unrecht, Sir. Ich bin nicht der Mann, der ’nen vielversprechenden Jungen auf Abwege führt. Alles, was Darby gekriegt hat, war gutes, ausgelagertes Bier – und die Ohren voller Seemannsgarn, damit er in den kommenden Nächten was zu träumen hat. Deshalb sind Sie ihm doch hoffentlich nicht böse, Master Ormerod – oder…?“

„Ich bin nicht seinetwegen gekommen“, antwortete ich. „Aber da ich schon einmal hier bin, ist es am besten, wenn er mit mir nach Hause geht. Doch sagen Sie, Silver, woher kennen Sie meinen Namen?“

Verschmitzt zerrte er an seinem Stirnhaar.

„Nun, natürlich von Darby, Sir. Aber das hätte mir auch jeder andere hier an der Wasserkante sagen können. So ’nen gutherzigen, freundlichen jungen Herrn kennen eben alle. Aber entschuldigen Sie bitte, wenn ich so frei bin, Sir. Kann ich Ihnen mit irgendetwas dienen?“

„Ich glaube nicht“, erwiderte ich. „Ich suche einen Oberst O’Donnell.“

Ein leichtes, überraschtes Flackern verwischte die Freundlichkeit in seinen Gesichtszügen. Er starrte durch den Schankraum.

„Von dem Gentleman hab ich noch nie was gehört, Sir. Kein Wunder: Ich bin heut zum ersten Mal hier. Aber ich hab ’n paar gute Kumpel von früher getroffen. Vielleicht erfahr ich was von dem einen oder andern. Einen Augenblick bitte, Master Ormerod! Ich will sehen, was ich für Sie tun kann.“

Der Vorschlag gefiel mir. Denn in der Spelunke schien sonst niemand zu sein, der mir den Obersten O’Donnell vorstellen konnte. Deshalb nickte ich und sagte:

„Gut, ich warte hier.“

Während Silver davonstelzte und sich behänd zwischen den dicht besetzten Tischen hindurchwand, fragte ich Darby, was er die ganze Zeit über getrieben habe. Zu meinem Erstaunen zeigte sich der Junge mürrisch und schweigsam und gab nur einsilbige Antworten. Ein einziges Mal blitzten seine Augen begeistert, als ich bemerkte:

„Das war ja ein richtiges Teufelslied, das ihr da vorhin gesungen habt, Darby!“

„Ja, und was für eins!“, rief er aus. „Während man singt, sieht man das Blut vom Entermesser tropfen.“

„Und wer sind die anderen, die mit dir gesungen haben?“

Wie ein Vorhang überzog der mürrische Ausdruck sein Gesicht.

„Och, bloß Schiffskameraden.“

„Deine?“

„Nein, von Master Silver.“

„Wie heißen sie denn?“

„Weiß ich nicht.“

„Nur heraus damit, Darby!“

Er zögerte einen Augenblick und erklärte dann stockend:

„Den einen nennt er Bill Bones.“

„Und den anderen?“

„Schwarzer Hund… Aber dieser zweite Name ist natürlich nicht der richtige. Nur so, wissen Sie.“

Silver war in Gesellschaft eines Bierzapfers durch eine Tür im Hintergrund verschwunden. Jetzt kam er, auf seiner Krücke schaukelnd, wieder herein, gefolgt von einem hochgewachsenen, hohlwangigen Mann. Dessen prunkvolle schwarzsilberne Kleidung und der Goldknauf an seinem Degen wiesen ihn auf den ersten Blick als Gentleman aus. Diesen Mann führte Silver mit rauer und zugleich herzlicher Höflichkeit zu mir.

„Sie haben Glück, Master Ormerod!“, rief er, als er auf Hörweite herangekommen war. „Mein Freund hatte erfahren, dass der Oberst im oberen Stock sei.“

Dann deutete er auf mich und erklärte seinem Begleiter:

„Das hier ist der junge Herr, von dem ich sprach, Euer Gnaden.“

Er verbeugte sich und lächelte uns untertänig zu. „Meine Hochachtung, werte Herren, und stets zu Diensten!“

Damit schwang er sich an seiner Krücke in die Ecke zurück, wo ihn seine Busenfreunde mit freudigem Hallo empfingen.

Der hohlwangige Mann warf mir einen scharfen – eigentlich sogar einen fast argwöhnischen Blick zu. Er benahm sich nervös, und seine Augen flackerten ruhelos.

„Nun, Sir?“, sagte er. „Sie wünschen mich zu sprechen?“

„Wenn Sie Oberst O’Donnell sind, dann muss ich Ihnen sagen, dass Ihre Tochter Sie draußen erwartet.“

Er erschrak. „Meine Tochter? Wer sind Sie, Sir, und wie kommen Sie dazu, sich als Hüter meiner Tochter aufzuspielen?“

Ich war verdrossen, was ich den Obersten auch deutlich fühlen ließ.

„Sie hat mich nach dem Weg hierher gefragt, als sie an Land kam“, entgegnete ich. „Und da Sie Ihre Tochter bestimmt nicht gern in dieser Schenke treffen möchten, schlug ich ihr vor, Sie hinauszurufen, Sir.“

Die Winkel seines Mundes zuckten genauso abwärts wie bei ihr – eine Ähnlichkeit, die mir sofort auffiel.

„Dafür müsste ich mich ja eigentlich bei Ihnen bedanken, Sir“, antwortete er steif. „Sie ist noch ein Kind und noch ohne jede Lebenserfahrung. Ich muss ihr zugleich Vater und Mutter sein.“

Ich verbeugte mich und trat zur Seite, um ihm den Weg freizugeben.

„Master Ormerod hat Sie der Matrose genannt, nicht wahr?“, fuhr O’Donnell fort.

„Ja, Herr Oberst.“

„Vielleicht, Sir, erlauben Sie einem älteren Mann, Sie zu Ihrem ehrenhaften Betragen beglückwünschen zu dürfen.“ Ein leicht hochtrabender Ton färbte seine Rede. „Ich kenne die Ersten der vornehmen Gesellschaft in unserer Alten Welt, Master Ormerod, und ich habe die Ehre, das Amt eines königlichen Kämmerers zu bekleiden. Auf englischem Boden darf man den Namen dieses Monarchen allerdings nicht nennen. Aber eines Tages wird er seine Besitzungen bestimmt wiedererlangen, die ein Thronräuber widerrechtlich an sich gerissen hat. Ich brauche wohl nicht mehr zu sagen.“

„Ich verstehe, Sir“, erwiderte ich. „Darf ich Sie jedoch daran erinnern, dass Miss O’Donnell Sie erwartet?“

Auffahrend schoss er an mir vorbei – und Darby und ich folgten ihm auf die Straße. Der irische Bursche war immer noch hingerissen von der prunkvollen Kleidung des Mannes, von den kostbaren Krausen an seinen Handgelenken und von dem ziselierten Degenknauf.

Als wir alle drei zur Tür hinaustraten, lief Miss O’Donnell auf ihren Vater zu und fasste die Aufschläge seines Rocks.

„Ach, Vater!“, rief sie. „Bitte, sei mir nicht böse! Ich hatte das Schiff so satt! Ich musste endlich mal wieder festen Boden unter mir spüren. Ich war so allein ohne dich. Immer nur in der Kabine sitzen!“

Er wurde weich und schlang die Arme mit der Gebärde eines Schauspielers um ihre Schultern.

„Na, na, Moira!“, schalt er sie sanft. „Mach das nicht noch einmal! Juan wird künftig auf dich aufpassen. Doch nun zurück an Bord, mein Kind! Ich muss noch hierbleiben und einiges erledigen. Und bedanke dich besonders bei diesem Gentleman hier! Master Ormerod heißt er. Sein Vater ist ein großer Kaufmann in dieser Stadt.“

Miss O’Donnell dankte mir mit einem Knicks, während ich mich höflich verneigte. Dabei fragte ich mich, wo ihr Vater sich wohl so genau über mich erkundigt haben konnte. Denn als wir uns trafen, schien er noch nicht im Geringsten zu wissen, wer ich war.

„Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danke könnte“, sagte das Fräulein mit einem Augenzwinkern zu mir. „Ich finde einfach keine Worte.“

Verständnisvoll lächelte ich ihr zu.

„Nochmals besten Dank, Master Ormerod“, sagte der Oberst. „Bitte, empfehlen Sie mich Ihrem Vater. Gute Nacht!“

„Gute Nacht, Sir“, erwiderte ich. „Und gute Reise für Sie, Miss. Wenn ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann, dann sagen Sie es ruhig.“

„Nein, Master Ormerod, hier trennen sich unsere Wege“, erklärte sie freundlich.

Ich wandte mich ab, und wir gingen in der entgegengesetzten Richtung davon. Darby McGraw neben mir schnatterte in einem fort, denn die strahlende Schönheit der jungen Dame hatte seine schlechte Laune weggeblasen und seine Lebensgeister neu entfacht.

„Was für ein hübsches Mädchen, Master Ormerod!“, rief er. „Mit blauen Augen wie die Seen in Irland! Ja, sie hat mich sofort an meine Heimat erinnert. An meine Heimat, die ich nie wiedersehen werde.“

„Warum denn nicht?“

„Sie sagen, ich käme unter die Seeräuber.“

„Du schwätzt dir da ein dummes Zeug zusammen!“, erwiderte ich barsch.

„Unsinn?“, rief er. „Für mich wär’s das Schönste, Master Robert! Legen Sie bei Ihrem alten Herrn ein gutes Wort für mich ein, bitte!“

„Also gut“, versprach ich, damit er den Schnabel hielt.

Er sprang in die Luft wie ein Füllen, das soeben seinen ersten Hafer bekommen hat, und sprudelte hervor:

„Sie sind ja bis über beide Ohren in die Kleine verknallt! Ja, die hat’s in sich! Wegen der würde ich sogar darauf verzichten, ein Seeräuber zu werden.“

„Die sehen wir nie wieder, Darby“, meinte ich. „Morgen in ein paar Wochen segelt sie schon jenseits der Karibischen Inseln – und wir schuften uns hier mit unserem Kram ab.“

Er warf mir einen verschmitzten Blick zu. „Wer weiß, Master Robert, was morgen ist… Und erst danach! Lassen wir uns lieber überraschen!“

Das Schatzschiff – Auf Kaperfahrt in der Karibischen See

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