Читать книгу Das Schatzschiff – Auf Kaperfahrt in der Karibischen See - Helmut Höfling - Страница 7
Wetterleuchten
ОглавлениеDas Gesicht meines Vaters mit tränenfeuchten Augen – das war das Letzte, was ich in dem trüben Kerzenlicht erblickte. Im nächsten Augenblick schleppten mich meine Häscher in den dunklen Garten hinaus und hoben mich auf einen jener Handkarren, mit denen man gewöhnlich zerbrechliche Waren vom Hafen holt. Peters massige Gestalt füllte bereits zum größten Teil die beschränkte Ladefläche des Karrens, während ich äußerst unbequem zwischen ihm und der Seitenwand eingeklemmt lag. Als Silver das sah, zerrte er Peter auf ein schmäleres Plätzchen und breitete dann über uns beide ein geteertes Segel.
„So, meine Herren, jetzt sind Sie sicher verstaut wie ’ne Rinderkeule und ein Pökelschinken“, sagte er freundlich. Dann wandte er sich an meinen Großonkel: „Wir sind bereit, Kapitän, sobald es Ihnen passt.“
„Gut, nichts wie vorwärts, John“, antwortete mein Großonkel. „Sie kennen doch den Weg? Green Lane heißt das Gässchen. Vier Mann zu Ihrer Begleitung genügen.“
„Nur keine Sorge, Kapitän“, erwiderte Silver.
„Ich selbst schlage mit den übrigen einen anderen Weg ein.“
Der Kies knirschte unter den Schritten, die sich entfernten, und ich hörte die Krücke des Einbeinigen kratzend über den Boden schleifen, als er voranstelzte und der Karren holpernd losfuhr. Ich merkte, dass sie durch die hintere Einfahrt auf ein Gässchen hinauszogen, wo sie am wenigsten befürchten mussten, beobachtet zu werden. Dann hielten sie inne, während Silver wahrscheinlich unter dem Schutz der Mauern die Green Lane entlangspähte.
„Kein Segel in Sicht“, stellte er bald darauf fest. „Zum Henker, was für ’ne stockfinstere Nacht! Vorwärts, Schwarzer Hund! Ein bisschen mehr Druck dahinter! Wenn diese Brise anhält…“
Wir tauchten in die Green Lane hinaus und hielten auf den East River zu. Ein Schauer lief mir eiskalt den Rücken hinunter, als ich den Singsang unseres alten Nachtwächters Diggory Leigh hörte:
„Schlag zehn, klar und dunkel die Nacht und der Wind von Nordwesten. Und alles ruhig!“
„Still!“, flüsterte Silver seinen Kumpanen zu. „Schiebt an, ihr Kerle, schiebt an! Aber haltet den Schnabel. Ich rede schon mit ihm.“
Die Stahlspitze seiner Krücke klirrte auf den Pflastersteinen, während er vor dem Karren einherstelzte.
„Heda, Kamerad!“, rief er herzlich. „Machen Sie das eigentlich die liebe lange Nacht hindurch?“
Diggorys Laternenstange klirrte auf dem Boden auf.
„Jawohl“, erwiderte er in hochtrabendem Ton. „Was führt euch noch so spät auf die Straße? Ihr seid wohl Seeleute, wie?“
„Hut ab vor so viel Scharfsinn!“, beteuerte Silver mit unverhohlener Bewunderung. „Sie sind ein aufmerksamer Wächter, Kamerad! Hol mich der Teufel – in Ihrer Stadt möchte ich nicht gern ein Bösewicht sein, verdammt noch mal!“
Wie sehr sich Diggory durch dieses Lob geschmeichelt fühlte, hörte man am Klang seiner Stimme, als er antwortete:
„Tjaja, unsere Bürger müssen beschützt werden. Das ist hochwichtig! Und doch haben mich einige Leute beschuldigt, ich schliefe auf der Wache.“
„Duckmäuser sind das – verdammt schäbige Duckmäuser!“, versicherte Silver. „Ja, ich kann’s Ihnen schon nachfühlen. Da schuften wir schon seit Sonnenaufgang: die Ladung verfrachten und an Bord verstauen. Und wofür? Ich gehe jede Wette mit Ihnen ein, dass uns der Kapitän noch nicht mal ’ne Sonderzuteilung Rum zu saufen gibt.“
Diggorys Spieß klirrte wieder, als er ihn schulterte.
„Tja, mein Freund, die Männer, die das Kommando führen, sind nicht immer die Klügsten“, sagte er. „Nach dem Geschwätz, das ein paar von den Stadträten verzapfen, könnte man glauben, sie würden die Nachtdiebe und Gauner von den Straßen fernhalten! Pah!“
Er brummelte noch immer vor sich hin, während sich seine klagende Stimme in der Pearl Street verlor.
„Was grinst ihr da, ihr Nachtdiebe und Gauner!“, sagte Silver zu seinem Gefolge. „Los, Kerls, spuckt in die Hände und schiebt diesen gesegneten Karren vorwärts!“
Ein paar hundert Schritt weiter ratterten wir vom Pflaster auf die mit Planken ausgelegte Plattform eines Piers.
„Seid ihr das, John?“, brummte eine Stimme.
„Ja, ja, Bill. Wo ist der Kapitän?“
„An Bord, in der Jolle. Dieser spanische Irländer wartet auf ihn.“
Ich hörte Silver mit leiser Stimme fluchen. „Das hab ich mir doch gleich gedacht, dass ’n verdammtes Geheimnis hinter diesen Geschäften steckt! Aber hol’s der Teufel! Warum soll ich mich darum scheren, wo ich doch nichts weiter bin als Quartiermeister auf der alten `Walross´? Du dagegen, Bill, bist Flints Maat.“
„Ja, und…?“, unterbrach ihn Bill und stieß eine Flut von Flüchen aus. Es war derselbe braungesichtige Bursche, der mit Darby im `Walfisch´ gesessen hatte. “Der ganze Kram ist zum Kotzen! Flint weiß selbst nicht viel mehr als du und ich.“
„Anderen Leuten schlitzt er gern den Bauch auf, aber von Murray lässt er sich ’ne ganze Menge gefallen“, entgegnete Silver. Er zog das Segeltuch von unseren Köpfen weg und brummte dabei: „Die Sache gefällt mir nicht.“
„Mir auch nicht, John“, erwiderte Bones.
„Aber das alles bringt uns nicht zur `Walross´ zurück, Bill“, schloss Silver die Betrachtung und rief dann einem anderen zu: „He, George Merry, kannst du mit deinen Kameraden den dicken Kerl bewältigen? Zwei packen ihn an den Armen und zwei an den Füßen. Und passt auf, wenn ihr ihn hinlegt, damit er nicht den Boden aus dem Boot schlägt.“
Die Männer lachten.
„Nun, junger Herr“, sagte Silver und wandte sich an mich, „jetzt hieven wir auch Sie hinunter. Der Kapitän muss einen besonderen Narren an Ihnen gefressen haben, sonst wäre er nicht so besorgt, Sie mit heiler Haut auf See zu bringen. Sie können es zu Rang und Namen bringen, Kamerad, oder auch den Haien als Leckerbissen dienen.“
Dabei grinste er, als sähe er, wie sich ein Haifischrudel auf mich stürzte.
„He, Bill, wo ist der rotköpfige Ire?“, erkundigte er sich dann.
„Ich hab ihn mit dem Kapitän fortgeschickt“, erwiderte Bones. „Los, runter mit dir, John! Wir stoßen gleich ab.“
Da lag ich nun, in den Bug gezwängt, den Kopf auf Peters ungeheurem Bauch. In einer Höhe von wenigen Fuß erblickte ich den Pier und die verschwommenen Gestalten der Seeräuber sowie hinter ihnen die dunklen Umrisse der Lagerhäuser und hier und dort einen trüben Lichtschimmer. An seiner Größe und der gekrümmten Schulter, die auf der Krücke ruhte, erkannte ich Silver. Er hockte in lauernder Stellung auf den Randbalken des Piers und stemmte den Kolben seiner Krücke gegen die vordere Bootsbucht. Dann tastete er mit seinem einen Bein umher und landete dicht vor Peter und mir im Bug. Die Krücke ließ er auf den Boden des Kahns rutschen und griff nach einem Ruder.
Bevor Bill Bones einen Sitz auf der Achterbank fand, gab er dem Handkarren einen Stoß, dass er vom Rand des Piers platschend ins Wasser stürzte.
„Alles klar“, murmelte er dann. „Los!“
Wir ruderten vom Pier weg. Langsam bewegte sich das Boot in die Strömung hinaus, wo es die volle Stärke der Flut zu spüren bekam, die soeben umschlug. Der Bug bäumte sich, als die erste Welle ihn traf, und Peter, der geknebelt unter mir lag, stöhnte.
Silver, der sich emsig über sein Ruder beugte, warf einen Blick zurück.
„Sie wollten ja unbedingt mit der Nase dabei sein, Kamerad“, sagte er. „Wenn’s Ihnen jetzt dreckig geht, dann sind Sie selbst schuld.“
Krampfhaft zuckend warf sich Peter hin und her und stieß mich fast aus dem Boot.
„He, he“, mahnte Silver. „Das gehört sich nicht. Wollen Sie uns alle ersäufen?“
Peter stöhnte erneut – dann lag er still.
„Passt auf, Jungs!“, rief Bones. „Die Brigg vor uns.“
Hoch über uns in der samtenen Dunkelheit schimmerte ein Topplicht. Ich hörte das leise Schlapp-Schlapp, mit dem das Wasser gegen den verankerten Schiffsrumpf klatschte. Andere Lichter tauchten auf, das viereckige Muster der Achterfenster, eine große Laterne, die mittschiffs baumelte, und ein barscher Anruf drang an unsere Ohren.
„Boot ahoi!“
„Bones kommt an Bord.“
„Ay, ay, Bill.“
Als wir unter der Gilling, dem gewölbten Teil des Hinterschiffs, ruderten, rasselten ein paar Taue zu uns herunter, und ich hörte das Knarren von Flaschenzug und Winde. Knirschend stießen wir gegen den tropfnassen schwarzen Rumpf, und einer der Ruderer griff nach den Sprossen einer Leiter, die in den Wellen schlenkerte.
„Mach erst den Jungen fest“, krächzte Bones, während er wie ein Affe die hölzernen Sprossen emporkletterte.
„Ay, ay, Bill“, antwortete Silver und knüpfte zusammen mit einem anderen Matrosen ein loses Tau unter meine Achselhöhlen.
„He, ihr da oben, alles fertig!“, rief Silver.
Und als dann die Rolle zu quietschen und zu knarren begann, wandte er sich an mich. „Geben Sie auf Ihren Kopf acht, junger Herr, es geht nach oben! Genau dasselbe Gefühl überkommt einen armen, ehrlichen Seeräuber, der auf dem Hinrichtungsblock in Ketten hängt.“
Das Seil straffte sich. Die unsichtbare Winde ächzte lauter, und ich richtete mich aus meiner Ruhelage auf Peters Bauch auf. Meine Füße wurden von einer Ruderbank emporgeruckt, und schon baumelte ich in der Luft. Das Stöhnen der Männer, die die Winde drehten, drang vom Deck der Brigg herunter.
Als mein Flug schneller wurde, begann ich wie ein Pendel zu schwingen. Erst jetzt verstand ich Silvers Warnung, denn ich prallte heftig gegen den Schiffsrumpf, und nur durch Zufall kam ich mit einer schmerzenden Schulter davon, statt mir ein Loch in den Schädel zu schlagen. Am liebsten hätte ich laut aufgeschrien, aber der Knebel hinderte mich daran. Eine Minute später baumelte ich über der Reling, und meine Füße suchten strampelnd nach einem festen Halt. Ein Mann fasste mich am Arm und zog mich zu sich aufs Deck, während er gleichzeitig rief:
„Schlaff das Tau!“
Wie ein Frachtstück auf das gepichte Deck abgeladen wird – so landete ich mit einem Plumpser, der mir beinahe die Kniescheiben zerschmettert hätte, auf den Brettern.
Ich stand betäubt da, während die Taue unter meinen Achselhöhlen losgeknüpft wurden. Dann fielen meine Fesseln ab, und ein Matrose zog mir den Knebel aus dem Mund.
Ich begann gerade erst meine Umgebung zu erkennen, als Peter Corlaers tonnenförmiger Leib über die Reling emporschwebte. Einen Augenblick lang baumelte er in der Luft, als gäbe es nichts Gemütlicheres, dann wurde er mit einem Ruck herangerissen und krachte aufs Deck. Das Gesicht des Holländers war puterrot. Er schnappte nach Atem wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ungestüm hob und senkte sich sein Bauch, als der Knebel aus seinem Mund entfernt wurde.
„Was fehlt Ihnen, Peter?“, rief ich.
„Dat Wasser…“, stöhnte er. „Es macht mich krank.“
Er war tatsächlich seekrank – schwer seekrank sogar! Ich führte ihn zur Reling, als eine Pfeife trällerte.
„Ans Gangspill, Leute!“, rief eine Stimme.
„Was sagst du?“, brüllte Bill Bones. „Wer befiehlt, den Anker zu lichten? Die Pinasse liegt noch längsschiffs.“
„Befehl des Kapitäns!“, grölte es aus dem Finstern. „Sagt, Anker katten, Bill, und Segel setzen! Wir fahren los, sobald der Spanier fort ist. Sein Boot liegt am Steuerbord-Reep.“
„Das hätte man mir auch früher sagen können“, schimpfte Bones und wandte sich an die Besatzung. „Heda, ein paar von euch, lasst die Pinasse achtern treiben. Ist die Jolle aufgehisst? In die Wanten, Toppgasten! Macht die Brassen klar! John, du nimmst besser das Ruder. Seine Lordschaft wird sicher raufkommen, sobald er fix und fertig ist, um uns rauszulotsen. Er ist der Einzige von uns, der sich in diesem verdammten Hafen auskennt.“
„Ay, ay, Bill!“
Silver stelzte aus dem dunklen Schatten hervor in den Schimmer der großen Laterne, die über dem Mitteldeck von einer niedrigen Rahe des Großmastes baumelte.
„Aber was geschieht mit unseren Gefangenen?“, erkundigte sich Silver.
„Lass sie in Ruhe, John! Sie können doch nichts anstellen. Wer heute Abend ins Wasser geht, der erfriert, bevor er die Küste erreicht.“
Lachend verschwand Silver nach achtern und Bones mit ihm. Bones hörte ich noch weiter seine Befehle brüllen. Unablässig rannten Matrosen hin und zurück über die Decks, Taue klatschten, und Falle und Blöcke kreischten. Auf dem Vorderschiff hörte man ein regelmäßiges Trappeln von Füßen, und ein Chor rauer Stimmen grölte das wilde Seemannslied, das ich in der `Walfisch-Schenke´ gehört hatte:
„Fünfzehn Mann auf dem Totenschragen –
Jo-ho-ho und ’ne Buddel voll Rum!
Satan und Suff hat sie alle erschlagen –
Jo-ho-hol und ’ne Buddel voll Rum!“
Schwach wie ein verhungerter Bettler sank Corlaer in einem dunklen Winkel neben der Reling zusammen.
„Nee, nee“, wehrte er ab, als ich ihm helfen wollte. „Nicht nötig, Bob. Mit der Zeit geht’s mir schon besser. Dat Salzwasser, weißt du… Dat is immer so mit mir.“
„Ich hole Ihnen etwas Rum“, sagte ich entschlossen.
Ich sprang auf, um den nächsten Matrosen zu fragen, wo ein Schluck Branntwein oder Rum zu erhalten wäre, als hinter mir auf dem Deck Schritte knackten.
„Eine gefährliche Gesellschaft!“, sagte eine Stimme mit unverkennbar irischem Akzent.
„Was wollen Sie tun?“, erwiderte mein Großonkel. „Wir können nicht die Gefolgsleute Seiner Majestät zu einem solchen Unternehmen anstellen. Und außerdem werden meine Burschen die Sache weit besser und auch flinker durchführen.“
Sie durchschritten den Lichtstreifen der Laterne, die von der Großmast-Rahe baumelte. Ja, der erste Sprecher war Oberst O’Donnell – und das kleine irische Mädchen seine Tochter! Mein Vater hatte mit seinem Verdacht recht behalten. Aber welche Interessen konnten einen Oberst in der Armee des spanischen Königs mit einem gesetzlosen Banditen verknüpfen, der die Grundlagen der Zivilisation verhöhnte! Eine jakobitische Verschwörung? Es schien ganz widersinnig!
„Ich dachte nur an meine Tochter“, erklärte O’Donnell, als sie das Steuerbord-Reep erreichten, dicht neben der Stelle, wo ich mich über Peters Gestalt beugte.
„Ihre Besorgnis macht Ihnen Ehre, Chevalier“, sagte mein Großonkel. „Aber Sie brauchen nicht beunruhigt zu sein. Aus Gründen, auf die ich nicht weiter eingehen muss, bin ich hier von Leuten aus der Mannschaft meines Kompagnons umgeben. An Bord der `König Jakob´ verspreche ich Ihnen und Ihrer Tochter eine Rücksichtnahme wie auf einem königlichen Kriegsschiff. Außerdem habe ich Schritte zu Ihrem persönlichen Schutz unternommen. Mein Großneffe – und Erbe – segelt mit mir. Ein Prachtkerl, der einmal in der Welt eine Rolle spielen wird.“
„Aber so ein Mädchen auf einem Seeräuberschiff!“, protestierte O’Donnell erneut.
„Mein lieber Sir, Regel vier der Artikel, denen unsere Zunft untersteht…“
„Was, Sie haben Ihre eigenen Gesetze?“, unterbrach O’Donnell meinen Großonkel überrascht.
„Allerdings, Sir! Wie gesagt: Regel vier der Artikel verbietet, Frauen als Beute an Bord unserer Schiffe zu nehmen und dort zu behalten. In früheren Zeiten haben wir erlebt, dass es sogar zu Messerstechereien und Totschlag kommen kann, wenn sich die Kerle um Frauengunst streiten.“
„Handeln Sie nicht gegen Ihre eigenen Regeln, wenn meine Tochter an Bord kommt?“
„Sie kommt nicht als Gefangene, sondern als Gast“, erwiderte Murray freundlich. „Und nicht zuletzt, Oberst, ist die `König Jakob´ mein Schiff. Sie gehört nicht der ganzen Mannschaft gemeinsam wie die meisten anderen Seeräuberschiffe.“
„Es gefällt mir trotzdem nicht!“, beharrte O’Donnell. „Warum haben Sie mich aufgefordert, sie mitzubringen? Sobald Sie hörten, dass ich eine Tochter habe, waren Sie darauf völlig versessen.“
„Hätten Sie denn das Mädchen mutterseelenallein in einem fremden Land zurückgelassen?“, forschte mein Onkel ungeduldig. „Seien Sie vernünftig! Wer verdächtigt schon einen Menschen, der seine Tochter bei sich hat? Allerdings strotzt dieses Unternehmen von Gefahren. Aber auch ein Mädchen muss sich im Leben einmal raue Winde um die Nase wehen lassen. Mein Wort darauf: Wir werden sie so sorgfältig behüten wie den Schatz.“
„Ihren Kopf zum Pfand!“, sagte O’Donnell, während er über die Reling kletterte und mit dem Fuß nach der Leiter tastete. „Was für Zeiten! Aber gut, reden wir nicht mehr davon. Die Nacht verrinnt. Ich muss fort.“
„Ja“, bestätigte Murray. „Und treiben Sie den Kapitän Ihrer Fregatte zu schneller Fahrt an.“
Der Irländer nickte. „Wenn nötig, segeln wir an Havanna vorbei. Zum Glück ist Porto Bello das Hauptsorgenkind des Marinekommandanten. Sie kreuzen also vor der Straße von Mona?“
„Ja, von der Südspitze Hispaniolas bis zur Nordküste von Porto Rico – falls es nicht stürmt. In dem Fall laufen wir, um uns zu schützen, in die Bucht von Samana ein, wo früher immer die alten Piraten geankert haben. Diego findet uns schon. Er kennt den Platz von früher her. Geben Sie ihm nur reichlich Zeit.“
„Sobald die `Santissima Trinidad´ ihren Fahrbefehl hat, soll Diego alles erfahren.“
Er wandte sich ab, um ein paar Sprossen hinunterzusteigen, und kletterte dann wieder zurück.
„Sie hat schweres Kaliber, Murray. Sind Sie auch stark genug?“
Mein Großonkel lachte. „Über diesen Punkt können Sie völlig beruhigt sein, Chevalier. Wir könnten zwei Spanier vom Kaliber der `Santissima Trinidad´ kapern. Aber ich muss Ihnen jetzt leider gute Nacht sagen. Hören Sie!“
Die Schiffsglocke der spanischen Fregatte läutete acht Glas.
„Mitternacht!“, rief O’Donnell. „Können Sie mit der Dämmerung auf und davon sein?“
„Mein lieber Sir“, erwiderte mein Großonkel leichthin, „diese Brigg wird man nie wieder sehen – nirgends – niemand.“
O’Donnell erschauerte.
„Gute Nacht“, wünschte er unvermittelt, und schon im nächsten Augenblick verschwand sein Kopf hinter der Reling.
Ich hörte das Klappern der Ruder, einen leisen Befehl in spanischer Sprache und dann das stetige Plantschen und Spritzen der Riemen, als das Boot abstieß. Mein Großonkel schaute ihm nach und wandte sich dann der Stelle zu, wo ich stand.
„Nun, mein Neffe, was denkst du über uns?“
Ich bemühte mich, ruhig und gleichgültig zu wirken, denn er sollte nicht die Genugtuung spüren, mich erschreckt zu haben.
„Was ich über Sie denke?“
„Ja.“
„Dass Sie noch viel tiefer in Schurkereien verstrickt sind, als mein Vater befürchtet hat.“
„Du hast eine engstirnige Lebensauffassung“, tadelte er mich. „Doch lass dich durch ein paar Worte, die du vorhin aufgeschnappt hast, nicht zu voreiligen Schlüssen hinreißen. Bald sollst du die ganze Geschichte erfahren.“
„Ich bin kein Seeräuber und werde auch nie einer sein.“
„Sag das nicht so voreilig, Robert.“
Vom Vorderschiff herüber rief Bones meinem Großonkel zu: „Anker gekattet, Kapitän!“
„Gut, Master Bones“, erwiderte mein Großonkel. „Sie können lichten. Wir setzen alle Leinwand.“
„Ay, ay, Kapitän.“
Schmerzerfüllt stöhnte Peter bei diesen verhängnisvollen Worten. Murray trat näher heran.
„Ist unserem guten Freund Peter etwas zugestoßen?“
„Das Schaukeln auf dem Wasser macht ihn seekrank.“
„Selbst die stärksten Männer bleiben davon nicht verschont. Wir lassen ihn am besten unter Deck tragen. Ich hätte dir schon früher sagen sollen, dass ich euch beide gern so bequem wie nur möglich unterbringen möchte. Ihr bekommt achtern bei mir eine Koje. Hier auf der Brigg kann ich euch nur eine sehr beschränkte Gastfreundschaft bieten, doch auf der `König Jakob´ werdet ihr es so luxuriös haben wie ein Admiral.“
„Ich brauche keinen Luxus“, antwortete ich kalt. „Jede Behaglichkeit, die Sie mir bieten, ist eine Beleidigung.“
Um seinen Mund zuckte es, und frostig drohte er:
„Pass auf, Bürschchen! Vergiss nicht, dass ich an Jahren älter bin und als dein Verwandter Anspruch auf Respekt habe.“
„Für mich sind Sie ein Pirat, der Blut an den Händen hat – weiter nichts!“, rief ich und hob die Hand zum Schlag.
Er rührte sich nicht.
„Dich zu bekehren, wird tatsächlich schwierig sein“, sagte er. „Nein, mein Lieber, es nützt dir nichts, wenn du mich schlägst. Im Gegenteil! Gehorche – und ich gewähre dir ein Höchstmaß an Freiheit!“
Er warf einen Blick über die Reling.
„Ich sehe, wir fahren bereits. Bitte, entschuldige mich für den Augenblick, Robert. Ich muss den Lotsen spielen.“
Er führte eine kleine Silberpfeife an die Lippen. Ihr schriller Ruf brachte einen Teil der Mannschaft im Laufschritt nach achtern.
„Ay, ay, Kapitän“, rief Bones. „Sie wünschen, Sir?“
Murray zeigte auf Corlaer, der dalag wie in den letzten Zügen, und befahl
„Tragt diesen armen Kerl in eine der Empfangskajüten. Behandelt ihn höflich. Und befehlen Sie dem irischen Jungen – wie heißt er noch?“
„Darby, Sir!“
„Ja, Darby soll ihn pflegen und ihm alles bringen, was er verlangt.“
„Ay, ay, Sir.“
„Dieser Gentleman da“, fuhr Murray fort und deutete auf mich, „ist mein Großneffe, Master Bones. Vielleicht wird er eines Tages an meiner Stelle das Kommando über die `König Jakob´ übernehmen. Er soll völlige Freiheit haben – außer er versucht, irgendetwas gegen uns zu unternehmen. Sagen Sie’s gefälligst den Leuten weiter!“
„Komische Sache“, grollte Bones, „ist er Freund oder Feind, Kapitän?“
„Eine geistreiche Frage“, erwiderte mein Großonkel. „Wir können ihn als Feind bezeichnen, der soweit wie möglich als Freund zu behandeln ist.“
„Hol mich der Teufel, wenn ich irgendeinen Sinn darin sehe“, beteuerte Bones. „Aber wie Sie befehlen.“
„Richtig“, bestätigte mein Großonkel und fügte, zu mir gewandt, hinzu: „Mach’s dir bequem, Robert. Eine Koje wartet auf dich. Aber du kannst auch auf Deck bleiben und eine Lektion in der Segelkunst nehmen.“
Ich richtete meinen Blick achteraus auf die Lichter von New York, die niedrig und zerstreut waren und schon in weiter Ferne entschwanden.
„Ich gehe hinunter und sorge für Peter, so gut ich kann“, entschied ich.
„Wie du willst“, erwiderte mein seltsamer Verwandter und schritt nach achtern.
„Macht euch auf die Beine, ihr lausigen Krüppel!“, brüllte Bones seine Leute an. „Packt diesen Landwal da an seinen Flossen. Gott verdamm mich, wenn ich jemals solch einen Riesenhaufen von Menschenfleisch gesehen habe! Wir sollten ihn zur Südsee mitnehmen und an die Kannibalen verkaufen. Das ist doch das Einzige, wozu er taugt. Vorwärts, junger Herr! Ob Sie nun der Neffe des Kapitäns oder sein Bankert oder weiß der Teufel sonst was – auf diesem Schiff muss jeder arbeiten. Los, mit angepackt!“
Ich gehorchte ihm schweigend, während er und die anderen mit unglaublicher Zungenfertigkeit fluchten und lästerten. Eine schöne Gesellschaft! Wenn Murray nicht zugegen war, hielten sie nicht die geringste Zucht und legten sich keinerlei Zurückhaltung auf. Sie hassten ihn ebenso sehr, wie sie ihn fürchteten, und ich wunderte mich, wie fest er ihr wildes Temperament im Zaum hielt. Sollten Sie jedoch eines Tages den Bann seiner persönlichen Anziehungskraft und überlegenen Verruchtheit abschütteln – ihre Gier und Zerstörungswut würden keine Grenzen mehr kennen.
Der Gedanke daran ließ mich erschauern.
Wenig später traten wir in die Kajüte, die für uns bestimmt war. Die Kerle verstauten Peters schlaffen Körper in der schmalen Koje. Dann trampelten sie endlich davon und ließen mich mit dem Holländer allein.
Durch eine Luke grüßten mich noch einmal die Lichter von New York.