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An Bord der Brigg

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Ich erwachte von einem Sonnenstrahl, der mir durch das dicke grünliche Glas eines Lukendeckels in die Augen schien. Corlaer schlief noch fest wie nach tiefer Erschöpfung, und ich bemühte mich, ihn nicht zu stören, als ich die Tür öffnete und die Hauptkajüte betrat. Hier war niemand außer dem kleinen Darby, der zusammengekrümmt auf der Bank unter den Heckfenstern saß und auf das schaumige Kielwasser der Brigg hinausspähte. Er hörte die Tür hinter mir ins Schloss fallen und sauste blitzschnell herum.

„Oh, Master Bob“, sagte er, „ich dachte, Sie würden nie wieder aufwachen. Endlich ist der große Tag da! Riechen Sie das Salz? Am liebsten möchte ich vor Freude tanzen und springen!“

Eigentlich konnte man dem Jungen nicht richtig böse sein und ihm seinen Verrat nachtragen. Er war nun einmal von Natur aus wild und ungebunden wie ein junger Wolf.

„Na, wie gefällt es dir als Seeräuber, Darby?“, fragte ich ihn.

„Einfach toll! Ich bin nun mal kein Laufbursche und Packesel, wie ich es bei Ihnen sein musste. Das hier – das ist das große Leben, Master Bob!“

„Meinst du vielleicht, die Seeräuber brauchten niemals zu arbeiten?“, fragte ich.

„Arbeit gibt’s schon – immer und überall. Verdammter Mist! Dauernd heißt es, `Darby, pack mit hier an!´ oder `Darby, fass dieses Tau!´ oder `Darby, hol mir ein Kännchen Rum!´ Darby dies und Darby das – die ganze Nacht lang!“

Er machte dabei ein mürrisches Gesicht, als er das sagte. Doch gleich darauf hellten sich seine Züge wieder auf, als er fortfuhr:

„Aber ich kriege ein eigenes Entermesser und zwei Pistolen für meinen neuen Piratengürtel! Und sie sagen, dass ich das Glück bin.“

„Glück…? Wieso…“

„Ja, ich glaube, es hat was mit meinem Haar zu tun. Flint, unter dem die Mannschaft gewöhnlich segelt, hat ’ne Vorliebe für rotköpfige Burschen. So einer wie ich bringt ihm Glück – schwören die Matrosen. Und der lange John…“

„Wer?“

„Der lange John – nun, Master Silver -, der mit dem einen Bein, der gestern am Hafen mit uns gesprochen hat. Er sagt, ich werde es bei Flint weit bringen.“

Ich musste lachen – weniger über Darbys Schwärmerei als vielmehr über meine eigene Dummheit, die mir durch den Namen Silver schlagartig bewusst wurde. Gestern Morgen um diese Zeit hatte ich noch fleißig im Kontor in der Pearl Street gearbeitet. Und wie viel war seit diesem so gewöhnlich aussehenden Tag geschehen!

Meine Gedanken schweiften zu jenem Augenblick zurück, als ich an Bord des Bristoler Postschiffes gelaufen war, zu der zufälligen Unterhaltung mit dem einbeinigen Seemann – wie schlau hatte er mich ausgehorcht und Darby mit in seine Verschwörung gezogen! -, zu der Begegnung mit dem irischen Mädchen und…

An diesem Punkt unterbrach ich meine Erinnerungen. Der Gedanke an Moira O’Donnell war unangenehm. Ich konnte den Verdacht nicht loswerden, dass sie irgendwie in die Pläne verwickelt sein musste, an denen ihr Vater mit meinem Großonkel arbeitete.

Aber war ich nicht auch an Bord der Brigg, völlig unschuldig an Murrays gesetzwidrigen Abenteuern? Konnte sie demnach nicht gleichfalls unschuldig sein? Was hatte das Mädchen gesagt, als wir uns verabschiedeten?

„Hier trennen sich unsere Wege…“

Das würde sie nicht gesagt haben, wenn sie alles gewusst hätte. Denn warum sollte sie mich belügen? Kein Zweifel, sie ahnte nicht das Geringste von dem Unheil, das ihr Vater und Murray planten!

Mein Gesicht musste wohl meine Freude darüber verraten, denn Darby rief aus:

„Jetzt scheint’s bei Ihnen zu dämmern, Master Bob! Bestimmt ist Ihnen gerade was Gutes eingefallen. Wollen Sie nicht mit uns halbe-halbe machen und Piratenhäuptling werden? Ein ganz großer! Das wäre einfach toll – ehrlich!“

„Nein, Darby, aber ich möchte gern etwas zu essen haben, wenn es so was überhaupt auf diesem wüsten Piratenschiff gibt.“

„Massenhaft von allem, was Sie wollen“, erwiderte Darby munter. „Setzen Sie sich dort an den Tisch. Ich hol Ihnen was aus der Kombüse.“

Der Tisch war fertig gedeckt – nicht etwa mit grobem Tongeschirr und Gabeln, Messern und Löffeln aus Stahl, sondern mit zierlichem Porzellan, schwerem Silberbesteck und einem feinen Leinentuch. Ich machte meine Bemerkungen darüber, als Darby mit dampfenden Schüsseln und einer Kanne heißer Schokolade auf einem Servierbrett zurückkehrte.

„Das kommt daher, weil er selbst so lebt“, erklärte Darby und deutete mit dem Daumen nach der Tür der Steuerbordkajüte. „Er will von allem das Beste, und auf seinem eigenen Schiff lässt er sich von Negersklaven bedienen und noch dazu in Livree, wie große Herren sie haben.“

Er beugte sich zu mir herab und fuhr flüsternd fort:

„Er ist ein unheimlicher Kerl – er dort, Master Bob. Seine Augen – und die sanfte Stimme und die Katzenpfötchen…! Dabei schneidet er Ihnen genauso schnell die Kehle durch wie Flint oder schickt Sie über die Planken. Ich krieg ’ne Gänsehaut auf dem Rücken, sooft ich ihn anschaue. Flint dagegen, der ist ganz anders, sagt der lange John. Er säuft Rum mit jedem Matrosen. Und wenn er’s auf Ihr Leben abgesehen hat, dann lässt er Sie keinen Augenblick im Zweifel darüber. Und er flucht noch besser als sein Maat Bill Bones.“

„Du hast dich aber mit deinen neuen Kameraden anscheinend rasch angefreundet, Darby“, bemerkte ich.

„Das machen meine Haare“, entgegnete Darby unverfroren. „Ich habe Ihnen ja schon gesagt, sie bringen Glück.“

„Mir nicht“, erwiderte ich lächelnd.

„Seien Sie bloß nicht so sicher“, rief er verschmitzt. „Wir segeln wahrscheinlich ’ne ziemlich lange Strecke miteinander, und ich bin Ihr Freund, Master Bob.“

„Hm“, sagte ich, „wir werden es ja sehen. Wo ist `er´ selbst, wie du ihn nennst?“

„Er schläft in seiner Koje. Bis zur Dämmerung ist er aufgeblieben und hat die Brigg durch die gefährliche Hafenbucht gelotst.“

„Sind wir denn bereits draußen?“

„Sogar schon an der Landspitze von Sandy Hook vorbei! Vor uns liegt nichts als der weite Ozean.“

„Dann will ich auf Deck gehn“, erklärte ich. „Spitz die Ohren und pass auf Master Corlaer auf, Darby. Wenn er essen möchte, dann bringe ihm etwas von dieser Schokolade.“

„Ich behandle ihn schon richtig“, sagte Darby zuversichtlich. „Ich kann ihn nämlich auch prima leiden. Er hat mir doch damals den Indianerskalp gebracht und das Messer mit den Blutstropfen drauf. Ihr beide müsstet Piraten werden! Wir wären bestimmt ’ne tolle Mannschaft – bloß wir drei zusammen!“

Der Kajütengang war leer, und ich begegnete keiner Menschenseele, bis ich auf Deck geklettert war. Achtern befanden sich lediglich Silver und ein zweiter Mann am Steuerruder. Der Einbeinige saß auf dem Kajütenoberlicht und winkte mir mit seiner Krücke.

„Kommen Sie, Master Ormerod, und schnacken Sie ein bisschen mit dem langen John!“, rief er.

„Gern“, antwortete ich – in der Hoffnung, etwas aus dem Halunken herauszuholen. „Wo sind Ihre übrigen Kameraden?“

Er lachte und zwinkerte zu dem Mann am Steuer hinüber, einem abscheulich aussehenden Menschen. Der Kerl hatte so massige Schultern, dass er verwachsen wirkte. Ein grüner Schirm schützte seine tief eingesunkenen Glotzaugen, deren Höhlen rundum voller feinstichiger blauer Narben waren.

„Haha!“, lachte Silver. „Unser junger Herr sagt sich bestimmt: `Nur zwei Mann an Deck´, sagt er sich, `einer davon mit nur einem Beim und der andere fast blind. Und hier steh ich, jung und stark. Ich brauche nur loszuschlagen – und schon hab ich freie Bahn!´ Stimmt’s, Master Ormerod? Aber Sie vergessen meine Krücke, junger Herr, die im Notfall eine verdammt eklige Waffe sein kann! Und wenn Pews Augen auch nicht weit sehen, so schießt er doch ebenso gut wie die meisten von uns – nach dem Gehör.“

Ich schüttelte den Kopf.

„So durchtriebene Halunken wie Sie, Silver, würden mir nie eine so günstige Gelegenheit zur Flucht geben. Allerdings bin ich noch nicht zur See gefahren, aber ich habe an der Nordgrenze mit den Wilden gekämpft. Ich werde erst dann etwas unternehmen, wenn ich wirklich freie Bahn vor mir sehe.“

Über diese Worte lachte er schallend.

„Sehr witzig, wirklich! Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass Sie nicht so treuherzig sind wie Ihr Gesicht. Das bringt Ihnen bald noch etwas ein, Master Ormerod, bestimmt!“

Mit einem raschen Seitenblick prüfte er die Fahrtrichtung und rief dann Pew zu:

„Fall ab einen knappen Strich, Ezra… Ja, gut so, Kamerad!“

„Steht das Vormarssegel voll, John?“, fragte Pew mit einer merkwürdig sanften Stimme.

Silver blinzelte hinauf. „Ja, es ist gut so“

„Sagen Sie, wie kann ein Blinder überhaupt steuern?“, erkundigte ich mich.

„Bilden Sie sich ja nicht ein, dass Pew nicht alles sieht“, sagte Silver und schob seine Krücke zurecht. „Ich möchte um die Welt nicht, dass er mal auf mich schießt! Und ein Schiff steuern…? Was braucht man schon dazu? Einen starken Arm, natürlich, und gute Ohren für die Leinwand – und schließlich ein ruhiges Auge für den Kurs. Jeder kann einen Kompass lesen, junger Herr. Aber nicht jeder Seemann kann fühlen, wie sein Schiff den Wind fasst, und sein Ruder flink herumwerfen, wenn’s die Segel verlangen. Pew kann es! Geben Sie ihm ’nen Kameraden wie mich, der für ihn sieht – und er wird einen so schnurgeraden Kurs steuern, wie Sie es nicht besser können.“

„Gibt es viele Krüppel in Ihrer Besatzung?“, fragte ich neugierig.

„Krüppel?“, wiederholte Silver. „Das hängt ganz davon ab, was Sie darunter verstehen. Ich und Pew – wir haben unseren Teil von derselben Breitseite abgekriegt. Es war ein Indienfahrer mit ’nem Geschützmeister. Er steuerte uns an, Bord an Bord.“ Er klatschte auf seinen Beinstumpf. „Das hat ein Achtzehnpfünder geschafft. Wuff! Weg war es.“

„Und Pew?“

„Der rammte gerade ‘ne Ladung ins Rohr. Dabei lehnte er sich zur Geschützpforte hinaus und erwischte den Pulverdampf einer Haubitze. So was soll nicht gut sein für die Augen, wirklich nicht! Aber wie gesagt: Lassen Sie sich bloß nie zu dem Glauben verleiten, Pew könnte nicht sehen. Er ist ein erstaunlicher Bursche!“

„Übrigens, habt ihr dieses Schiff nur gekapert, damit es euch nach New York bringt?“, fragte ich, um das Thema zu wechseln.

„Es war todsicher unter mehreren Fahrzeugen das passendste für diesen Zweck“, versicherte er.

„Und die Besatzung… Was ist aus der geworden?“

Silver zog die Augenbrauen hoch und blinzelte mir bedächtig zu. „Arme Unglücksvögel! Aber bei der Sache konnten wir nun mal nichts riskieren.“

Pews Kichern gluckste eisig unter dem Augenschirm hervor, der über die ganze untere Gesichtshälfte einen grünen Schatten warf.

„Hoffentlich gibt es für euresgleichen eine Hölle!“, rief ich.

„Die einen sagen, es gibt eine – und die anderen sagen wieder, es gibt keine“, antwortete Silver gleichmütig. „Ich behaupte immer, es hat keinen Zweck, sich darüber aufzuregen.“

Ich war so stark erregt, dass es noch bestimmt zu einer Schlägerei zwischen uns gekommen wäre, wenn uns nicht ein glücklicher Zufall abgelenkt hätte. Bones und mehrere andere Matrosen tauchten aus der Backluke empor, gähnend und die Arme räkelnd, als seien sie eben erst aufgewacht. Im gleichen Augenblick kletterte Peter Corlaer aus dem Kampanjegang herauf, taumelte einen Augenblick hin und her und stolperte dann schwankend auf die Reling zu. Ich lief hin, um ihm zu helfen, als Bones mit lautem Geheul nach achtern gerannt kam.

„Versau mir nicht mein Deck, du Mastochse!“, schrie er.

Ohne auf uns beide zu achten, erwischte der arme Peter gerade noch einen Halt und klammerte sich daran fest – elend und völlig hilflos. Bones erreichte ihn zuerst und versetzte ihm einen Stoß, der ihn kopfüber in die Speigatten schleuderte.

„Aufstehn!“, knurrte Bones und trat ihn mit seinem schweren Seemannsstiefel.

Peter stöhnte, und ich packte Bones am Arm.

„Der Teufel soll Sie holen, Sie Feigling!“, schimpfte ich. „Kapitän Murray hat Ihnen befohlen, uns höflich zu behandeln. Nennen Sie das gehorchen?“

Er riss sich von mir los und zog ein Messer hervor.

„Gehorchen, du Rotznase?“, tobte er. „Ich bin Flints Maat, und ich will dir zeigen, wer mir sagen kann `gehorche´. Zurück da, oder ich schneide dir das Herz aus dem Leib!“

Ich sah mich nach einer Waffe um. Aber da nichts Handliches zu erspähen war, zog ich mich vorsichtig vor seinem drohenden Messer zurück. Er hatte die ganze Nacht hindurch getrunken - unmittelbar nach einer ausgiebigen Zecherei am gestrigen Tag – und war jetzt durch keine Vorschrift mehr zu zügeln. Silver rief ihm zu, uns in Ruhe zu lassen, und auch ein paar andere ermahnten ihn. Aber seine einzige Antwort war eine Kette von Flüchen. Dabei bewegte er sich weiter lauernd auf mich zu.

Um mein eigenes Leben machte ich mir keine Sorgen, denn gerade im Messerkampf war ich einigermaßen geübt. Indianische Freunde meines Vaters hatten mich darin unterrichtet. Aber ich befürchtete, der Schurke könnte über Peter herfallen und den hilflos daliegenden Holländer ermorden. Wie erstaunt war ich deshalb, als Peter plötzlich auf die Beine taumelte und sich an der Reling festhielt, um in die Höhe zu kommen! Sein Gesicht war kreidebleich, aber ohne Zögern gab er seinen Stützpunkt preis und schritt krummbeinig übers Deck auf uns zu.

„Ich nehme ihn auf mich, Bob“, sagte er. „Jo.“

Rechtzeitig sprang ich zwischen ihn und Bones, um den Ansturm des Piraten zu bremsen.

„Bleiben Sie weg, Peter!“, keuchte ich.

„Ich nehm ihn auf mich“, wiederholte Corlaer.

Er streckte seine Hand aus, packte mich an der Schulter und wirbelte mich so mühelos aus der Bahn wie ein Kind. Jetzt wusste ich, dass ich nicht an seiner Kampfbereitschaft und seiner Fähigkeit zweifeln durfte, sich gegen jeden zu verteidigen.

Einen Augenblick lang starrte Bones ihn an. Wut und Überraschung mischten sich in seinen Zügen.

„Soll ich Ihnen Ihre verfluchte Kehle abschneiden?“, höhnte er. „Heda, drehn Sie lieber den Kopf ein bisschen zur Seite! Ich will mich für heute mit einem Ohr begnügen. Es macht mir keinen Spaß, einen Ochsen wie Sie umzubringen.“

Peter sagte kein Wort. Er stand bloß vor ihm, waffenlos, die Arme leicht gebogen und die Beine in den Knien gekrümmt. Die Augen des Holländers, fast unsichtbar in seinem Gesicht vergraben, glitzerten stahlhart und drohend.

„Lass ihn in Ruhe, Bill!“, rief Silver von neuem.

„Gott verdamm mich, wenn ich ihn so laufen lasse!“, krächzte Bones „Wenn er das Messer haben will, dann soll er’s auch kriegen.“

Er sprang mit hochgeschwungenem Messer auf Peter los, um ihm die Kehle aufzuschlitzen. Blitzschnell fuhr Peter ihm in die Parade. Ein Riesenarm, dick wie ein Baumast, schoss vorwärts und umgriff den Rist der Hand, in der Bones das Messer hielt. Eine Drehung – und das Messer klirrte zu Boden. Der andere Arm packte eine Hüfte, und Bones schwebte hoch über Peters Kopf.

Peter schüttelte ihn, als wollte er ihm beweisen, wie völlig er ihn in seiner Gewalt hatte, und machte sich dann auf den Rückweg zur Reling auf der Leeseite. Bones kreischte wie am Spieß, denn er war überzeugt, dass Peter ihn ins Meer werfen wollte. Doch auf halbem Weg über das Deck stieß Peter auf ein loses Fall. Achtlos schubste er Bones herab, presste ihn unter einen Arm und begann einen binnenländischen Schleifknoten zu knüpfen. Wie gebannt beobachteten wir ihn. Es ist ein ungeschriebenes Seeräubergesetz, dass bei solchen Streitigkeiten kein Zuschauer dazwischentreten darf. Aber Peter kam nicht dazu, Master Bones aufzuhängen.

„Ihr Ziel ist zweifellos lobenswert, Peter“, bemerkte mein Großonkel hinter uns vom Kajütengang her. „Aber ich muss Sie leider auffordern, den Mann loszulassen. Einer meiner Freunde legt einigen Wert auf ihn.“

„Er hat nach Robert und mir gestochen“, antwortete der Holländer.

„Er wird es nicht wieder tun“, versicherte Murray und rief dann mit schneidender Stimme: „Master Bones!“

Mit Bedauern löste Peter die Schlinge von Bones’ Hals und stieß ihn so kräftig, dass der Maat taumelnd übers Deck flog und gegen den Besanmast krachte. Dann prallte er zurück und landete zerschunden und zerschlagen vor Murrays Füßen, wo er Blut und einen abgebrochenen Zahn ausspuckte. Mein Großonkel musterte den Kerl mit unverkennbarem Missfallen.

„Stehen Sie auf, Master Bones!“, sagte er.

Bones rappelte sich auf die Füße. Er blutete aus mehreren Platzwunden und Kratzern. Offensichtlich fürchtete er sich gehörig vor dem, was jetzt folgen würde.

„Master Bones“, fuhr mein Großonkel fort. „Sie unterstehen gegenwärtig meinem Kommando, und über Manneszucht und Befehlsausführung habe ich zufällig etwas altmodische Anschauungen. Sie haben sich soeben geweigert, einem meiner Befehle zu gehorchen.“

„Allerdings, aber ich wusste nicht…“

„Master Bones“, fuhr mein Onkel fort, ohne die Stimme zu erheben, „haben Sie nicht mal einen Mann gekannt, der Fotherill hieß?“

Bones nickte, außerstande zu sprechen.

„Und was habe ich befohlen, dass mit ihm geschehen solle?“

Der Maat stülpte verbissen die Lippe vor und knirschte dann zwischen den Zähnen: „Er wurde gekielholt.“

„Richtig“, bekräftigte mein Großonkel, „gekielholt. Eine äußerst ausdrucksvolle Redensart, Robert“, fügte er für mich hinzu. “Fachmäßig bedeutet es, einen Mann unter dem Kiel eines Schiffes durchzuziehen. Und das hat – sozusagen – unangenehme Folgen.“

Bones zuckte zusammen, als mein Onkel sich ihm wieder zuwandte.

„Kein Mann verweigert einem meiner Befehle mehr als einmal den Gehorsam, Master Bones. Sie können nach vorn gehen.“

Mühsam schlurfte der Mann davon, während er mit dem Rockärmel das Blut von seiner Backe wischte.

Da trat Peter vor ihn hin. Der Holländer nahm einen eichenen Belegnagel vom Gestell um den Besanmast, hielt ihn Bones und den anderen entgegen, zerbrach ihn gelassen mit bloßen Händen in zwei Hälften und warf die Stücke über Bord.

„Alle Achtung!“, rief mein Großonkel aus. „Das sagt mehr als viele Worte. Hoffentlich erholen Sie sich bald von der Seekrankheit, Freund Peter!“

„Jo, es geht mir schon besser“, antwortete Peter.

„Dann wollen Sie vielleicht mit mir hinunterkommen und mir beim Frühstück Gesellschaft leisten?“

„Nee“, sagte er einfach. „Wenn ich esse, werd ich krank.“

„Ich bedaure Sie von Herzen“, versicherte mein Großonkel mit unverminderter Höflichkeit. „Für ein oder zwei Tage empfehle ich Ihnen eine mäßige Diät und gelegentlich einen Schluck Schnaps, um den Magen zu wärmen. Und dann – das prophezeie ich Ihnen -, dann werden Sie genauso ein tüchtiger Seemann wie jeder andere von uns.“

Der dicke Holländer blinzelte meinen Großonkel nur an, der sich jetzt mir zuwandte.

„Du, Robert, scheinst dich an die neue Umgebung schon gewöhnt zu haben. Fühlst du dich durch deine jüngsten Erlebnisse genug angeregt, um so früh am Tag an einer zweiten Mahlzeit teilzunehmen?“

„Ich habe eben erst erfahren, was mit der rechtmäßigen Mannschaft dieses Schiffes geschehen ist“, erklärte ich. „Das hat mir den Appetit genommen.“

„Sehr bedauerlich“, erwiderte er traurig. „Das Leben ist hart, Robert. Das musst du noch lernen.“

Er blickte nach links hinüber, wo sich der Einbeinige auf seine Krücke stützte, und erkundigte sich:

„Silver, hat der Ausguck irgendein Fahrzeug gesichtet?“

„Nicht ein Segel, seit wir von Sandy Hook klar sind, Sir.“

„Sehr gut! Haltet weiter diesen Kurs und ruft mich sofort, falls sich in irgendeiner Himmelsrichtung ein Segel zeigt.“

Das Schatzschiff – Auf Kaperfahrt in der Karibischen See

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