Читать книгу Im Wellengang des Denkens und der Taten - Helmut Lauschke - Страница 5
Drosselungsschikanen und der Davidstern
ОглавлениеDie Schikanen mehrten sich. Juden hatten den gelben Davidstern auf der Straße zu tragen. Ihnen war der Besuch von Konzerten, Theatern und öffentlicher Versammlungen sowie der Zugang zu öffentlichen Toiletten untersagt. Arische Bürger hatten alles Jüdische zu meiden. Sie durften sich nicht auf offener Straße mit ihnen unterhalten, sie weder in ihre Häuser einladen noch von ihnen eingeladen werden. Den Juden wurden die privaten Fahrzeuge mit Wagenpapieren und Führerschein abgenommen. Sie wurden Fußgänger, die vom Bürgersteig wegtraten, wenn ein Deutscher in Uniform entgegenkam, egal ob es ein alter, gehbehinderter Mann am Krückstock oder eine Mutter mit ihren Kindern war, die an beiden Händen schwere Taschen trug. Es war ein trauriger Anblick, wenn Eckhard Hieronymus mit Frau und Kindern oder allein durch die Straßen ging und in die Augen der Angst und Verzweiflung jener Menschen mit den blassen Gesichtern und dem gelben Stern über ihrer Brust blickte. Er sah Kinderaugen von unbeschreiblicher Traurigkeit, die ihm das Herz zerrissen, weil er nicht aufschreien konnte, wie er es hätte tun sollen. Hinzu kamen die Fragen seiner Kinder, wenn sie aus der Stadt zurückgekehrt waren, die immer bohrender wurden. Sie waren so berechtigt, wie das Abschweifen im Antwortgeben oder das stumme Achselzucken unberechtigt waren. Es war eine Zeit der fürchterlichen Erkenntnis, dass es in Deutschland nach dem ersten Kriege, wo sich die Menschen nach dem inneren und äußeren Frieden sehnten, dass es Menschen gab, denen die fundamentalen Menschenrechte abgesprochen wurden, weil sie Juden waren, als ob das ein kriminelles Vergehen sei.
Der gestiefelte Deutsche in Uniform hatte sich zum gefürchteten Monster ausgewachsen. Dieses Monster hatte sich von den Maßstäben der deutschen Kultur unsäglich entfernt, was von den arischen Mitbürgern, die den Mut noch hatten und den Verstand gebrauchten, zutiefst abgelehnt wurde. Auch sie fürchteten sich vor der barbarischen Unmenschlichkeit, weil sie von Monat zu Monat unsicherer wurden, dass auch sie eines Tages von ihm ergriffen würden. Was sie auf den Straßen sahen und hinter verschlossenen Türen hörten, war entsetzlich. Gute Menschen und bewährte Freunde, die den Beweis erbracht haben, ein Freund in der Not zu sein, diese Menschen gingen nun mit dem Judenstern, wurden bespuckt und misshandelt, und man durfte ihnen nicht helfen. Das System der geistigen Enge und Intoleranz entschied über die Wertigkeit des Lebens. Menschen, vor allem Kinder, die wegen geistiger Behinderungen in Heimen zusammengefasst wurden, bekamen im Rahmen des Euthanasieprogramms die tödliche Injektion. Geisteskranke in Sanatorien und psychiatrischen Kliniken, denen die Unheilbarkeit testiert wurde, wurden auf die gleiche Weise umgebracht. Die euthanasische Tötungsmaschine kam erst unter dem Druck der immer stärker gewordenen Proteste vonseiten der Kirchen zum Stillstand.
Eckhard Hieronymus Dorfbrunner war auf dem Wege zum Domkapitel, wo ihn Bischof Rothmann zu einem Gespräch gebeten hatte. Die Frühlingssonne strahlte über den Platz. Die erste Wärme nach einem strengen Winter tat ihre gute Wirkung. Die kleine Turmglocke hatte den Schlag getan, der das Ende der ersten Hälfte der elften Stunde anzeigte, als Eckhard Hieronymus über den Platz ging. Er sah einen älteren Herrn im schwarzen Mantel auf sich zukommen, der den Davidstern in Höhe des obersten Mantelknopfes trug. Der Gang war schwer, fast schlürfend, das Gesicht blass, von Falten durchzogen mit schlaffen Tänensäcken unter den Augen. Der Herr blickte zu Boden, bevor sie im Abstand von drei Metern aneinander vorübergingen. Eckhard Hieronymus, dem der Herr mit dem Tragenmüssen des Judensterns so leid tat, dass er Gott um Vergebung der deutschen Schande bat, war sich beim Blick in das vertrauerte Gesicht nicht klar, ob es Dr. Weynbrand, der Kinderarzt, war, der seine beiden Kinder, einmal beim Scharlach von Anna Friederike und das andere Mal bei der Gräserallergie mit asthmatischen Anfällen von Paul Gerhard erfolgreich behandelt hatte. Als sie fast auf gleicher Linie waren, der eine in die eine Richtung, der andere in die entgegengesetzte Richtung ging, grüßte Eckhard Hieronymus den älteren Herrn, der mit Blick zum Boden zurückgrüßte.
An der weichen Stimme, die aufgrund der diskriminierenden Ereignisse gebrochen war, erkannte er den Kinderarzt Dr. Weynbrand. Sie sahen einander ins Gesicht und gaben sich die Hand, wissend, dass sie verbotene Dinge taten. “Ïch freue mich, dass wir uns einmal sehen”, begann Eckhard Hieronymus, worauf Dr. Weynbrand erwiderte, dass es wohl das letzte Mal sein wird. “Wie meinen Sie das?”, fragte Eckhard Hieronymus. “Wir haben die Mitteilung bekommen, dass wir unsere Sachen packen sollen und uns in fünf Tagen auf dem Bahnhofsplatz einzufinden haben. Dann werden wir mit unseren Kindern und Kindeskindern abtransportiert. Wohin wir gebracht werden, das wissen wir nicht. Doch wir haben ein schlechtes Gefühl. Man wird uns wohl mit Stumpf und Stiel ausrotten.” Eckhard Hieronymus war fassungslos. Er versuchte ein passendes Wort zu finden und fand es nicht. Verquert und unpassend, er wusste es, das Gefühl der Übelkeit stieg in ihm auf, als er dem Kinderarzt in das altgewordene, sorgenzerrissene Gesicht mit den trüben dunklen Augen sah: “Soll das heißen, dass Sie und die andern jüdischen Mitbürger Breslau verlassen?” “Ja, das heißt es; wir können uns hier nur noch verabschieden, mehr können wir füreinander nicht mehr tun.”
Dr. Weynbrand wunderte sich über das erstaunte Verhalten von Superintendent Dorfbrunner. Da gab er ein wenig Nachhilfe zur letzten Orientierung, wie weit es mit den Juden gekommen ist: “Bekommen Sie denn nicht mit, dass seit Wochen die Juden aus allen Ecken Schlesiens und wahrscheinlich aus dem ganzen Reich zusammengetrieben und in verschlossenen Güterwaggons nach Osten transportiert werden. Es wird das besetzte Polen sein, wo wir hingebracht und den Gerüchten zufolge in irgendwelche Lager gestopft und zu Tode behandelt werden.” Eckhard Hieronymus befiel die Scham. Er schaute herunter auf die abgelaufenen Schuhe mit den ungleichfarbigen Schnürsenkeln des früher stets makellos gekleideten Kinderarztes, den die Kinder liebten, weil er immer lustig war, einen Scherz für sie auf Lager hatte und ihnen Süßigkeiten gab, als diese in den Geschäften nicht mehr zu kaufen waren. “Das tut mir sehr leid, Dr. Weynbrand, was Sie da sagen. Es ist für mich unfassbar.” “Für mich ist es auch schwer vorstellbar, dass Menschen mit Kultur so etwas fertigbringen. Was für mich dabei besonders schmerzhaft ist, ist die Tatsache, dass die Menschen, die davon wissen, sich in Schweigen hüllen und es geschehen lassen, als wäre das in Ordnung. Ich darf ihnen sagen, dass Sie der erste sind, der mich als Jude mit dem gelben Stern grüßt. Dafür danke ich ihnen. Die vielen Männer und Frauen, die über viele Jahre mit ihren Kindern in die Praxis kamen, gehen an mir vorüber, als würden sie mich nicht kennen. Dabei gab es schwerkranke Kinder unter ihnen, denen ich mit viel Mühe das Leben rettete.”
“Das tut mir alles so leid”, wiederholte sich Eckhard Hieronymus, weil er das Ausmaß der Tragödie ahnte und sich scheute, es in Worte zu fassen, was sich düster in seinem Kopf zusammenballte. “Herr Dorfbrunner”, fügte Dr. Weynbrand hinzu, “was für mich unbegreiflich ist, ist die Konsequenz, dass sich die Deutschen mit einer Schuld beladen, an der Generationen zu tragen haben werden. Denn, wenn die Achtung vor dem Leben verloren geht, geht auch die Selbstachtung verloren, die nur solange da ist, wie der Mensch die Schöpfung mit der gehörigen Portion Gottesfurcht achtet. Da spielt es keine Rolle, ob jemand ein Christ ist oder nicht. Da tun Sie mir leid, wenn Sie den Menschen die Nächstenliebe predigen und zugleich wissen, dass die Menschen wegblicken und schweigen, was mit uns Juden passiert. Und das wissen Sie, wie ich es weiß , dass wir Juden für Deutschland gearbeitet, gekämpft, gelitten und geopfert haben, so wie es alle Deutschen taten. Wir haben die deutsche Sprache und Kultur geliebt, haben unseren Beitrag zur deutschen Kultur geleistet, die in der Welt mit an der Spitze steht. Warum das nun mit uns passieren muss, bleibt eine unermessliche Tragik, die erst in ferner Zukunft, wenn überhaupt, begriffen werden wird. Denn das Opfer, das wir Juden für Deutschland zu bringen haben und bringen werden, das auch unser Deutschland war, ist so beispiellos, wie die Forderung nach einem solchen Opfer und das im höchsten Maße grausame System, wie wir umzubringen sind, beispiellos in der Geschichte der Menschheit ist.”
Eckhard Hieronymus schwieg, spürte, wie die Worte hammerschlagartig auf das Hirn einschlugen. Er hob seinen Blick von den abgelaufenen Schuhen mit den ungleichfarbigen Schnürsenkeln langsam nach oben, wobei er die Mantelknöpfe von unten nach oben mit innerster Zerrissenheit abfuhr, sah auf den gelben Judenstern und schließlich in das blasse, sorgenzerknitterte Gesicht mit den schlaff herabhängenden Tränensäcken und den von unendlicher Trauer getrübten Augen. Er wiederholte sich – und sollte er unendliche Male weiter tun –, als er mit stockender Stimme leise sagte: “Das tut mir alles so leid.” Ihm zitterte die Hand, die er dem Kinderarzt zum Abschied reichte, der in fünf Tagen mit vielen anderen Juden in den Osten zur “Judenlösung” abtransportiert würde. “Möge Sie Gott segnen und ihnen und den vielen, die mit ihnen gehen, in der größten Not beistehen. Ich werde für Sie beten”, nach einer Pause, das Unbegreifliche zu begreifen, was er nicht begreifen konnte, sagte er weiter: “Beten werde ich für Sie mein ganzes Leben lang.” Dr. Weynbrand bedankte sich für diese Worte, und während sie sich die Hände hielten, wobei Eckhard Hieronymus die Magerkeit der anderen Hand in seiner spürte und auf sich als unbeschreibliches Mahnmal einwirken ließ, schloss der Kinderarzt die letzte Begegnung mit den Davidversen aus dem 56. Psalm: “Ich will Gottes Wort rühmen, rühmen will ich des Herren Wort. Auf Gott hoffe ich und fürchte mich vor den Menschen nicht, denn sie können meiner Seele nichts antun.” Dafür bedankte sich Eckhard Hieronymus und verneigte sich vor dem Kinderarzt, der ihm, weil er etwas kürzer war, schräg nach oben und scharf ins Gesicht sah. Sie lösten die Hände voneinander und gingen auseinander, der eine in eine ungewisse Zukunft voller Schrecken, der andere in die Gewissheit des Todes.
Eckhard Hieronymus hatte sich um Minuten verspätet. Bischof Rothmann wartete auf ihn. Er saß hinter seinem Schreibtisch, als Eckhard Hieronymus an die Tür klopfte und nach dem “Herein!” den großen Raum betrat. Der Bischof war alt und sein Gesicht war schmal geworden, das die Sorgenfalten durchzogen. Er stand nicht mehr weit vor der Pensionierung. Er erhob sich und begrüßte Eckhard Hieronymus in herzlicher Weise, wie er es immer tat, wenn sie zusammen kamen. “Setzen wir uns wieder in die Ecke!”, sagte er mit leicht erregter Stimme und wies auf den niedrigen Klubtisch mit den vier Polsterstühlen hin, die auf der anderen Seite des Raumes dem Schreibtisch gegenüber standen. Der Bischof sah Eckhard Hieronymus länger als sonst an, weil ihm die innere Unruhe auffiel, in der sich Dorfbrunner befand beziehungsweise bewegte. “Geht es ihnen nicht gut, lieber Kollege Dorfbrunner?”, fragte er nach einer Weile des anschauenden Schweigens. Eckhard Hieronymus sah auf seine Hände, die auf den Schenkeln ruhten, und bemerkte das feine Zittern der Finger, das er nicht unter Kontrolle brachte. “Herr Bischof”, antwortete er auf die Frage, “ich muss mich entschuldigen”, der Bischof unterbrach ihn, “Sie brauchen sich nicht entschuldigen, lieber Kollege!” “Doch für meine Aufregung muss ich mich entschuldigen, weil sie hier fehl am Platze ist, wenn Sie mit mir sprechen wollen.” Der Bischof sah ihn fragend mit einem milden Lächeln an, um Eckhard Hieronymus zu beruhigen, ihn innerlich zu stärken, ihm wieder auf die Beine seiner Persönlichkeit zu helfen. “Was ist denn passiert, lieber Dorfbrunner?” Eckhard Hieronymus erzählte von der Begegnung mit dem Kinderarzt Dr. Weynbrand auf dem Domplatz, der von den Judentransporten in den Osten und davon sprach, dass er sich mit den Kindern und Kindeskindern und den noch verbliebenen Breslauer Juden in fünf Tagen auf dem Bahnhofsplatz einzufinden habe, wo sie mit dem Handgepäck der letzten Habe in Güterwagen verladen und in den Osten gebracht werden. Der Bischof machte ein ernstes Gesicht, weil auch er gegen die Unmenschlichkeit der Nazis war, aber dagegen nichts tun konnte und auch nichts tat. “Es ist eine fürchterliche und zutiefst bedauerliche Geschichte”, setzte der Bischof dazwischen, “ich begreife nicht, dass Menschen dazu fähig sind, anderen Menschen so ein Leid zuzufügen. Wo ist die deutsche Kultur hingeraten, dass so etwas möglich ist?”
Dieser Frage setzte Eckhard Hieronymus die zweite Frage hinterher: “Wo ist das Christentum, wo sind die Christen, wo ist die Hilfe, das Helfenwollen, wenn Menschen in größter Not sind? Es sind doch unsere Nachbarn, unsere Nächsten, Menschen, mit denen wir über Generationen friedlich zusammenlebten, die ihren Beitrag zum Zusammenleben und zur deutschen Kultur gebracht haben, die nun auf die grausamste Weise gedemütigt und in Lager irgendwo im Osten, Dr. Weynbrand sprach von Lagern im besetzten Polen, gebracht und mit größter Wahrscheinlichkeit umgebracht werden. Warum schweigen die Christen, warum schweigen wir, anstatt unseren Nächsten zu helfen, gegen die Unmenschlichkeit zu protestieren, das System des Bösen vor uns und der Welt an den Pranger zu stellen? Müssen wir uns nicht schämen, wenn wir da schweigend zusehen oder einfach wegsehen?” Nun war die Blässe auch auf dem Gesicht des Bischofs, der in ein längeres Schweigen verfiel, als gäbe es auf die Fragen keine Antwort, zumindest solange keine, wie er der Bischof von Breslau war. Dann setzte er vorsichtig, ja mit größter Zurückhaltung an: “Lieber Dorfbrunner, ich verstehe ihre Gewissensnot gut, denn auch ich leide seit Monaten unter dieser Not. Aber sagen Sie, was können wir als Kirchenmänner gegen diese Barbarei und für die armen Menschen tun, die nun in den Osten geschafft und, wie Sie andeuteten, mit großer Wahrscheinlichkeit umgebracht werden und dabei einen qualvollen Tod erleiden. Auch ich habe die armen Kinder vor Augen und ihre Schreie im Ohr, wenn sie von ihren Müttern getrennt und vor deren Augen getötet werden. Sagen Sie, was können wir dagegen tun, diese Barbarei zu stoppen? Fällt Ihnen dazu etwas ein?”
“Zumindest sollten wir als Kirchenmänner nicht wegsehen, was vor unseren Augen geschieht, und auch nicht schweigen zu dem, was wir da sehen und hören. Darum sind wir doch Kirchenmänner geworden”, fuhr Eckhard Hieronymus fort, “um aus dem Glauben an unseren Herrn heraus das Böse anzuprangern. Denn nur mit der Glaubenskraft können wir vor der Gemeinde stehen und das Wort Gottes verkünden. Wir selbst müssen glaubwürdig vor dem Herrn, vor uns und vor der Gemeinde sein. Wir dürfen da keine Angst haben, müssen vielmehr die Furcht vor der Welt überwinden. Wie sagt es Paulus im Römerbrief (14. Kapitel): “Darum schaffet, dass nicht verlästert werde, was ihr Gutes habt. Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist. Wer darin Christus dient, der ist Gott gefällig und den Menschen wert. Darum lasset uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Auferbauung untereinander.” Nehmen wir uns diesen Apostel als Vorbild, sprechen wir vor der Gemeinde die Wahrheit, beten wir für die Menschen in Not aufrichtig und mit ganzem Herzen. Tun wir das, was wir tun können und als Kirchenmänner tun sollen.” Darauf sagte der Bischof: “Dann sitzen auch wir in den Kellern der Gestapo, werden von den Nazis auf deren Weise verhört und mundtot gemacht. Wer dann uns in unsere Stellungen folgen wird, werden Leute sein, die vom Reichsbischof vorgeschlagen werden. Dann haben sie Prediger mit dem Parteiabzeichen gleich auf den Kanzeln. Damit wäre der Gemeinde kein guter Dienst erwiesen. Dazu kommt, dass ich mich nicht mehr stark genug fühle, um den Kampf mit den Nazis durchzustehen. Ich bin erschöpft und stehe kurz vor dem Ruhestand.”
Es gab Gespräche mit dem Bischof, in denen die Frage erörtert wurde, wie sich der Pfarrer unter dem schwindelerregenden Druck der Nazis auf die Geistlichkeit und das kirchliche Leben verhalten soll, ob es ratsam sei, sich so vorsichtig zu verhalten, als stülpe man sich den Maulkorb über, mache die Predigt zur wiederholten, zweiten Lesung des bereits gelesenen Bibeltextes und mehr nicht, um dem Risiko des Verhörs in den Gestapokellern zu entgehen. “Die Wahrheit steht auf der Kippe”, sagte der Superintendent Dorfbrunner zum Bischof, “wir müssen uns entscheiden, welchen Hang wir beschreiten wollen. Wollen wir wie Paulus den mühsamen Steilhang nach oben nehmen oder uns auf dem Abhang des Bösen nach unten drücken, nach unten terrorisieren lassen? Wir müssen uns entscheiden, bevor es zu spät ist, ich meine, solange wir uns noch entscheiden können.” Der Bischof schaute ernst. In seinen Augen lag der trübe Glanz der Verzweiflung, der Unsicherheit, der Angst vor der Entscheidung, die eben nur die zwei Alternativen kannte.
“Das Wort Gottes gehört in die Kirche”, sagte der Bischof, “es ist der uns gegebene Auftrag, dieses Wort zu verkünden. Sein Wort ist die Wahrheit, die über allem steht. Da mögen die Braunhemden sagen, was sie wollen. Wir als Pastöre bleiben beim Wort seiner Wahrheit.” Eckhard Hieronymus war mit dieser Aussage zufrieden, wollte aber vom Bischof wissen, wie sich der Pfarrer in der Praxis der Auslegung des Bibeltextes unter dem braunen Druck verhalten solle. Da sagte der Bischof, dass er keinem Pfarrer vorschreiben könne und wolle, wie er den Text auslegen möchte. Das bleibt jedem Einzelnen überlassen, weil das Gotteswort in das Herz geht, aus dem dann die Antwort des Menschen kommt. “Verstehen Sie mich recht”, wandte Eckhard Hieronymus ein, “der Punkt, auf den ich hinaus will, ist die Frage, ob wir die Kollegen zur mutigen Exegese anhalten sollen, indem wir sie ermuntern, die Wahrheit zu sagen, auch was das Zeitgeschehen betrifft.” “Ich habe ihren Punkt verstanden”, sagte der Bischof, “doch da möchte ich den Kollegen den Rat geben, mit der Wahrheit nicht zu weit auszuholen, sondern eng am gelesenen Text zu bleiben, um Missverständnissen gewollter und ungewollter Art vorzubeugen. Denn wir stehen vor der Zwickmühle, dass die Zahl unbesetzter Pfarrstellen zunimmt, weil es an Nachwuchs fehlt und wir Kollegen verlieren, die aufgrund ihres Mutes zur Wahrheit von der Gestapo verhaftet werden. Es wird hoffentlich eine Frage der Zeit sein, denn das Kriegsgeschehen hat die Münze gedreht, dass wir uns beim Aussprechen der Wahrheit doch eine Zurückhaltung auferlegen müssen, damit wir nicht alle bei der Gestapo landen. Denn eine Kirche ohne Pastor ist wie ein Krankenhaus ohne Arzt. Die Menschen in ihrer Not und Verzweiflung brauchen zwei Dinge dringender denn je: zum einen die Verkündigung des Wortes Gottes und zum andern die tätige Seelsorge in der Gemeinde.” So bat Eckhard Hieronymus den Bischof, seinen Rat in Form eines Rundbriefes an die Pastöre der ev.-lutherischen Kirche Schlesiens zu erstellen, damit sie sich bei der Textauslegung auf diesen Brief (vor Gott und den Menschen) berufen können und eine Einheitlichkeit in die Exegese kommt.
Der Bischof sah den Superintendenten an und dachte nach. “Ich wäre ihnen dankbar, wenn Sie das für mich tun würden”, sagte er nach Minuten des Nachdenkens, wobei er offensichtlich an den bevorstehenden Ruhestand dachte, den er ohne vorherige Belästigung vonseiten der Gestapo erreichen möchte. “Ich hatte ihnen beim letzten Gespräch schon gesagt, dass ich in absehbarer Zeit in den Ruhestand treten werde. Da ist es mein Wunsch, Sie werden es verstehen, dass ich den Stand der beruflichen Ruhe auch in seelischer Ruhe betreten möchte.” Eckhard Hieronymus sah den Bischof erstaunt an. Der wiederum bemerkte, dass der Superintendent mit dieser Argumentation nicht übereinstimmte. So fuhr er fort: “Es muss mit einem neuen Bischof gerechnet werden, der für die Richtlinien im pastoralen Bereich verantwortlich ist. Ich weiß nicht, wer mein Nachfolger werden wird; noch wurde kein Name genannt. Es ist aber wahrscheinlich, dass bei der Besetzung des Postens Menschen mit Einfluss das Wort reden werden, die dem System weniger kritisch, vielleicht sogar wohlwollend gegenüberstehen. Ich kann meinem Nachfolger keine Vorschriften machen, so wie mein Vorgänger, Dr. theol. Kirchberger, der ein gebildeter Mann und ein großer Bischof war, mir keine Vorschriften gemacht hat.” Eckhard Hieronymus verstand mit diesen Zusätzen das Argument des Bischofs noch weniger, sich vor der Erstellung des Rundbriefes zu drücken. Denn damit hatte es nun nichts zu tun, dass ein Bischof dem anderen keine Vorschriften macht, weil ein Rundbrief in die Hoheit des Bischofs fällt, der zum Zeitpunkt der Erstellung, Niederschrift und Verteilung im Amt ist. Eckhard Hieronymus sah die Sackgasse vor sich, in die das Gespäch über den Rundbrief mündete, fragte nicht weiter, sondern sagte, dass er der Bitte des Bischofs nachkommen werde. Damit war Bischof Rothmann einverstanden und zufrieden. Die Erleichterung, an der Formulierung mit einer fragwürdigen und zweifelhaften Argumentation vorbeigekommen zu sein, war seinem Gesicht anzusehen.
Eckhard Hieronymus setzte sich noch am selben Tag an den Schreibtisch und entwarf den Brief, dem er folgenden Wortlaut gab:
Liebe Brüder im Glauben !
Wir leben in einer Zeit der großen Bedrängnis. Viele Menschen fallen dem Schwert des Krieges und dem Unverstand zum Opfer. Unter den Opfern sind auch unsere Brüder im Glauben, die das Wort Gottes verkündet haben. Wir alle wissen, dass die Verkündigung der Botschaft unseres Herrn Jesus Christus dem Heil der Menschen, dem Frieden und der Verständigung unter den Menschen dient. Hass und Zwietracht sind die Ursachen, dass sich die Menschen nicht verstehen. Doch die Waffen der Gewalt führen nicht zum Frieden und nicht zur Verständigung. Das ist eine Weisheit, die so alt ist wie der christliche Glaube an die Macht Gottes, die für die Wahrheit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe steht. Gott will gnädig sein und die Sünden vergeben, wenn die Menschen ihre Sünden vor ihm bekennen. Dazu bedarf es der Öffnung der Herzen, des Mutes und der Demut, die begangenen Verfehlungen im Denken wie in den Taten zu bereuen.
Der Geist der Zeit ist gegen die Wahrheit, die wir zu verkünden haben. Mächtig schlägt das Böse zu, wenn die eine Macht größer sein will als die Macht Gottes. Aus diesem Machtkonflikt entstehen jene Unbilden, die durch Verdrehung der Wahrheit jene Monster hervorbringen, die durch Hass und Zwietracht weiter wuchern und den Menschen den Weg zur Verständigung und zum Frieden versperren. Diese Monster provozieren Missverständnisse, um die Wahrheit zu verzerren, unkenntlich zu machen, die sich doch nicht unkenntlich machen lässt, solange wir fest im Glauben zum Herrn Jesus Christus stehen.
Wenn wir auch fest im Glauben stehen und aus diesem Glauben unsere Kraft zur Verkündigung des Gotteswortes schöpfen, sind doch Vorsichtsmaßnahmen vor den monströsen Kraken angezeigt. Denn viele Gemeinden haben ihre Pastöre deshalb verloren, weil sie die Wahrheit verkündet und sie mit ihren Worten ausgelegt und schließlich mit ihrer Person und ihrem Leben für diese Wahrheit eingestanden sind. Die Gemeinden brauchen ihren Pastor, wie der Pastor seine Gemeinde braucht. Der Rat zur Vorsicht wird dahingehend präzisiert, dass sich die Auslegung des Wortes möglichst nah an den Bibeltext hält und von Ausschweifungen in die gegenwärtigen Zeitgeschehnisse absieht. Die Kirche muss in einer schweren Zeit ihren Auftrag erfüllen. Sie ist sich der Verantwortung vor Gott und den Menschen bewusst. Sie braucht jeden Pastor in seiner Gemeinde als Künder der Heils- und Friedensbotschaft. Um von kirchlicher Seite die Kontinuität der Verkündigung aufrecht zu erhalten, so gut es unter den gegebenen Umständen noch möglich ist, sollte den Missverständnissen vorgebeugt werden, sofern es in unserer Macht liegt.
Mit allen guten Wünschen und Gott befohlen!
Rothmann
Bischof
Am folgenden Tag legte Eckhard Hieronymus dem Bischof den Entwurf des Rundbriefes vor. Er las ihn sorgfältig ein-, zwei-, ja dreimal durch und verharrte am Ende mit bedenklicher Miene. Dann nahm er den Bleistift und setzte seine Korrekturen an. Den zweiten Satz mit dem “Schwert des Krieges” und dem “Unverstand” strich er mit der Bemerkung durch, dass das Wort “Unverstand” falsch interpretiert würde, wenn der Brief in falsche Hände gerät. Zum dritten Satz, dass unter den Opfern auch die Brüder des Glaubens seien, die das Wort Gottes verkündet haben, äußerte er seine Bedenken, ließ ihn aber stehen, da er wahr war, wenn auch unterschiedlich ausgelegt werden konnte. Den Satz, dass die Waffen der Gewalt nicht zum Frieden und nicht zur Verständigung führen, änderte er ab in: “Wir müssen das Wort zum Frieden und zur Verständigung finden”. Das erklärte er wieder mit dem Missverstehenwollen, wenn der Brief in die Hände der Gestapo fällt, denen für das Wort “Frieden” schon das Verständnis fehle, weil in deren Köpfen das Phantom des Stärkeren über den Schwächeren rumspukt. So änderte er auch den Satz von der Weisheit ab in: “Die Weisheit, die aus dem christlichen Glauben kommt, ist die Weisheit aus der Wahrheit, dass Gott die Menschen zur Gerechtigkeit und Nächstenliebe ermahnt.” Beim wiederholten Lesen des zweiten Abschnittes meinte der Bischof, dass es besser sei, diesen Abschnitt ganz wegzulassen. Eckhard Hieronymus widersprach dieser Meinung, weil der Text dieses Abschnittes die Erklärung gebe, warum Vorsicht bei der Predigt geboten sei. Der Bischof, der diesem Text die Wahrheit nicht absprach, gab mit dem Stirnrunzeln der größeren weltlichen Erfahrung nach und ließ den Abschnitt mit der Bemerkung stehen, dass er höchst problematisch sei. Im letzten Satz des dritten Abschnitts strich er den Zwischensatz “so gut es unter den gegebenen Umständen noch möglich ist” aus denselben Gefahrengründen ersatzlos durch. Ansonsten blieb der Text, wie er entworfen war. Mit dem Bischof als Unterzeichner des Briefes war der Bischof nicht einverstanden. Eckhard Hieronymus hatte es geahnt. Da kam er wieder mit dem fadenscheinigen Argument des baldigen Ruhestandes, den er heil antreten möchte, ohne in seinen letzten Berufstagen von der Gestapo in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Eckhard Hieronymus versuchte ihn von den Bedenken eines Verhörs aufgrund des Briefinhalts abzubringen und wies auf die Ordnungsmäßigkeit hin, dass ein pastoraler Rundbrief vom Bischof zu unterzeichnen ist. Der Versuch war umsonst. [Schon wenig später sollte Eckhard Hieronymus erkennen, dass der Bischof die List und Hintertriebenheit der Gestapo besser kannte und er seine Fehleinschätzung teuer bezahlen sollte.] Stattdessen schlug der Bischof vor, dass der Superintendent den Brief in seiner Vertretung unterschreiben solle. Eckhard Hieronymus hatte seine Bedenken der Ordnung wegen. Auch befürchtete er, dass die Kollegen mit diesem von ihm unterschriebenen Rundbrief ein sich Hervortun des Superintendenten Dorfbrunner sehen könnten, was ein Missverständnis gleich zu Beginn wäre, das Eckhard Hieronymus nicht wollte und in diesem Fall auch nicht zu verantworten hätte. Schließlich willigte er mit dem Unbehagen der verschobenen und falsch zu verstehenden Verantwortlichkeit ein. Die Sekretärin des Bischofs, eine Dame im mittleren Alter und langjährige Mitarbeiterin, tippte den Brief in die Maschine und legte ihn am nächsten Tag dem Superintendenten zur Unterschrift vor.