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Das Mädchen Kristofina, das vom Blitzschlag getroffen wurde

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In der Nacht vom Samstag auf Sonntag der zweiten Februarwoche gab es einen Wolkenbruch, dessen Schwere in der Erinnerung haftengeblieben ist. Die Gewitter schlugen mit unerhörten Stakkatos von felsiger Härte herab und rasten in schneller Folge, durchsetzt von bebenden Tremolos mächtigster Paukenschläge hintereinander her, und ließen Mark und Bein erzittern. Sturzgüsse bildeten im Nu Fluten, die das Gefurchte und Zerlöcherte mit Schlamm füllten. Die Blitze zuckten winklig über den Bodenschwamm, trennten mit heftigen Schlägen dicke Äste von den Stämmen, durchrasten die Krale, schockten und töteten Herden von Rindern und Ziegen. Die Donnerschläge fuhren wie mächtige Hämmer auf den Amboss nieder, dass der Boden bebte und so lange zitterte, bis sich die Schläge auf dem schwammnassen Teppich der Nacht verrollten. Die Donnerschläge hatten den Himmel aufgerissen. Blitzende Wetter spannten sich hinter den Wolkenbänken und durchhellten die Schwere im Zickzack der weitesten Streckung. Ob das Leuchten eine Botschaft des Friedens war, die sich in rosa-hellgelben Farben ankündigte, oder durch die blutrote Vermischung das infernale Feuerzeichen war, diese Frage drückte sich beim Blick aus dem Fenster mit unbändiger Kraft auf. Dann war es still geworden, als die Antwort auf die Daseinsfrage an Gewicht gewann, dass die Lichtspektakel weder nach der einen noch nach der anderen Seite hin zu erklären waren.

Es war drei Uhr morgens, als das Telefon klingelte. Die Nachtschwester sagte, dass ein Mädchen gebracht worden sei, das vom Blitzschlag getroffen wurde. Ich zog Hemd und kurze Hose an und machte mich mit den Sandalen in der Hand auf den siebenhundert Meter langen Weg. Das Hospitalfahrzeug stand den Diensttuenden nicht zur Verfügung. Es war stockdunkel. Die Füße stapften im Matsch und durch große knöcheltiefe Pfützen. Dabei versuchte ich, mich auf der Straßenmitte zu halten. Der Kontrollpunkt am Dorfausgang war mit einer schwachen Birne beleuchtet. Ich zeigte das “Permit” und passierte. Ein Fahrzeug kam nicht entgegen, um mir den Weg in der Pfützenlandschaft auszuleuchten. Verdreckt passierte ich die Hospitaleinfahrt. Den rechten Einfahrtsflügel mit dem verbogenen Rahmen ließ ich offen und stapfte durch die Seen auf dem aufgeweichten Vorplatz. Unter dem Wasserhahn neben dem Eingang zum ‘‘Outpatient department’’ spülte ich den Matsch von den Füßen, Beinen und Armen. Ich zog die Sandalen an und trat tropfend in den Wartesaal.

Die Nachtschwestern machten große Augen, als sie den Doktor mit nassen Beinen auf nassen Sandalen mit Matschspritzern an Hemd und Hose kommen sahen. Doch verloren sie kein Wort über die Unzumutbarkeit, den Weg in der Stockfinsternis zu Fuß zurückzulegen. Ein junges Mädchen, sie war etwa 14 Jahre alt, lag mit einem Laken überzogen auf der Trage und stöhnte vor Schmerzen. Ich schaute dem Mädchen ins blasse Gesicht, das die Schwere, vom Blitz geschlagen worden zu sein, erschreckend und stärker, als es Worte können, ausdrückte. Vorsichtig zog ich das Laken von oben nach unten und zuckte zusammen, als ich das angekohlte rechte Schienbein sah, über dem auf die halbe Länge der vordere und äußere Weichteilmantel weggeschmort war. Weitere Verbrennungen fanden sich im Gesicht, am andern Bein und dem linken Ober- und Unterarm. Das Mädchen lag bereits am schnelllaufenden Tropf zur Schockbekämpfung. Auf dem Gesicht lagen schon die Signale des Todes, der sie zwei Stunden später einholte, als sie fast schmerzlos auf der Intensivstation lag. Gut war, dass dem Mädchen die Amputation und ein Leben mit nur einem Bein erspart geblieben war. Für mich war es eine ganz neue Erfahrung, dass ein Mensch den Blitzschlag überlebte. Bisher waren es die toten Körper auf den Sektionstischen, die als Menschen vom Blitz getroffen wurden.

Auf dem Rückweg durch Matsch und Pfützen in der Stockfinsternis krümmte sich in mir der Gedanke von Schmerz und Todesqual, und dass das Mädchen das letzte Stück aus dem Leben über die Brücke allein zu gehen hatte, ohne von der Mutter den Abschiedskuss bekommen zu haben. Noch auf dem Weg fielen mir die Zeilen aus dem 5. Psalm in der Verdeutschung von Martin Buber ein:

“Meinen Sprüchen lausche, DU, / achte auf mein Seufzen, / merk auf die Stimme meines Stöhnens, / o mein König und mein Gott, / denn zu dir bete ich. / DU, / morgens hörst du meine Stimme, / morgens rüste ich dir zu, / und ich spähe. // Denn nicht bist du eine Gottheit, / die Lust hat am Frevel, / ein Böser darf nicht bei dir gasten, / Prahler sich dir vor die Augen nicht stellen, / die Argwirkenden hassest du alle, / die Täuschungsredner lässest du schwinden. – / Ein Gräuel ist DIR der Mann von Bluttat und Trug.”

Kristofina und ihr Kinderschicksal wurden fest in die Erinnerung ‘eingemeißelt’.


Operative Medizin und Verantwortung

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