Читать книгу Was und wo ist Heimat - Helmut Lauschke - Страница 7

Vor dem Lagertor

Оглавление

Tarek. Bist du’s, Sirna, in der späten Dämmerung? Meine Augen tun sich schwer, dich zu erkennen. Doch wenn du es bist, fällt mir ein Stein vom Herzen, dass du lebend den weiten Weg geschafft hast.

Sirna. Ja, ich bin’s und habe dem jungen Mann zu danken, der den kleinen Hasan auf die Schulter nahm und hierher trug.

Tarek. Wo ist der Mann, führe mich zu ihm, dass auch ich ihm danke und meinen Obolus entrichte.

Sirna. Er gab mir Hasan an die Hand und eine Flasche Wasser, lehnte jegliche Bezahlung ab, grüßte freundlich und verschwand.

Tarek. Mein Kind, denkst du nicht, dass er im Lager ist, um die Nacht auch hier zu verbringen? Er kann unmöglich in die Nacht hinein verschwunden sein.

Sirna. Vater, ich weiß es nicht, doch was ich sah, war seine Eile, als ob er anderen Menschen folgte, die ihm auch am Herzen lagen.

Tarek. Ich begreife es als ein Wunder, dass du mit Hasan den weiten Weg geschafft hast, der hart und steinig über die langgezogene Hügelkette geht. Und dieses Wunder ist mir unbegreiflich, denn viele haben auf dem Weg ihr Leben verloren.

Sirna. Ohne Wunder können wir die Tage nicht überleben.

Tarek. Wie meinst du das? Ich verstehe, dass es neben den großen Wundern die vielen kleinen Wunder gibt, die alltäglich sind und uns das Tragen der schweren Bürde leichter und die Stunden der Entbehrung erträglicher machen.

Sirna. Ich gebe dir recht, dass bei dem Mangel an Wasser es an das große Wunder grenzt, dass bei der grimmigen Trockenheit in den Kehlen uns der Atem erhalten geblieben ist.

Tarek. Kann es nicht sein, dass es schon das große Wunder ist, wenn wir die vielen kleinen Wunder nicht mehr wahrnehmen? Denn würden wir jedes kleine Wunder aufmerksam registrieren, der Mensch würde bescheidener werden und durch die Bescheidenheit näher an die Wahrheit herankommen und ihn dadurch reifer machen, was ihn letztendlich an die Grenze zwischen Zeit und Zeitlosigkeit in seinem Leben führt. Das ist es, was ihn die Erfüllung erleben lässt und ihn am Ende glücklich macht.

Sirna. Doch wo sind die Menschen der Bescheidenheit mit den helfenden Händen, wenn man sie braucht? Auf dem steinigen Weg hierher waren es vielleicht zwei wie der eine, der Hasan auf die Schultern setzte.

Tarek. Bescheidenheit ist eine hohe Tugend, die zu erlangen nicht jedem gegeben ist. Denn um bescheiden zu sein, bedarf es der Bildung, die doch über das gewöhnliche Maß hinausgeht. Selbst Menschen meines Alters sind nur wenige, die mit dieser Tugend dem Wohle der Menschen dienen. Aber die Zeiten nehmen an Gewalt und Härte zu, dass sie die tugendhafte Milde nicht mehr wahrnehmen.

Sirna. So kommt selbst die Bescheidenheit dem Wunder näher.

Tarek. Du kannst auch sagen, sie kommt dem Wunder gleich.

Sirna. Und dieses Wunder ist kein kleines mehr.

Tarek. Dass zu erfahren schon ein großes Wunder ist. Darin, ich meine in dem Wunderbaren, haben sich die Zeiten zum Nachteil der Menschen verändert. Die Armut, die es auch früher gab, hat sich auf die Seelen ausgedehnt und sich ihrer bemächtigt, dass die Herzen hart, so steinhart geworden sind.

Sirna. So behüte mich Gott, er ist der Menschen Schöpfer, dass mein Herz die Milde weder verachtet noch verwirft und meine Hände helfende Hände für Menschen sind, die der Hilfe zum Leben dringend bedürfen.

Tarek. Mein Kind, du hattest schon immer ein gutes Herz, wofür dir die Menschen dankten und weiter danken werden.

Yasin. Welch ein Zufall, welch ein Tag, dass ich dich hier wiedertreffe, den guten Lehrer der großen Schule, aus der die guten Schüler kommen und als Ärzte und Anwälte den Menschen dienen.

Tarek. Ja, es ist der Zufall, denn lange habe ich dich nicht gesehen und habe mir Sorgen um dich gemacht.

Yasin. Sorgen solltest du dir meinetwegen nicht machen, das Leben hat mich weise bis hierher geführt.

Tarek. Du meinst, weise, weil du am Leben bist und dir kein Geschoss durch Arm oder Bein gejagt wurde. Auch sind dir die Wangen nicht eingefallen wie den vielen, die sich auf den Weg gemacht haben.

Yasin. Es ist der Weg in die Ungewissheit, vor der sich nicht nur die Menschen fürchten, sondern auch die Tiere, die uns tragen und begleiten, denn auch sie dürsten nach dem klaren Wasser.

Tarek. Doch die Esel sind an größere Gewichte gewohnt als an die Säcke von Kleidern und den Mais, die sie nun auf dem Weg in die Ungewissheit tragen.

Yasin. Und wir uns dabei fragen, ob es Sinn hat mit den Kleidern, wenn wir doch nicht wissen, ob wir sie noch tragen werden.

Tarek. Wenn wir sie nicht tragen, dann werden es die andern tun und das mit nicht geringerem Stolz. Denn teure Kleidung steht auch armen Menschen gut, die sich solche Stücke bislang nicht leisten konnten.

Yasin. Was die Zeit uns bringt, es ist das Mehr an Gleichheit, wir haben Haus und Gut verloren, was unsere Väter und Vorväter erarbeitet und geschaffen haben. Wir sind besitzlose Bettler geworden und retten unsere Haut an Kopf und Händen.

Tarek. Das Mehr an Gleichheit bezieht sich auf den Stand der Bettler.

Yasin. Ja, auf jene mit dem letzten Hemd und den leeren Händen, denn in der Besitzlosigkeit gleichen sich die Menschen am meisten und das ganz ohne Neid.

Tarek. Doch der Schmerz in der Besitzlosigkeit ist verschieden, die einst Wohlhabenden empfinden die besitzlose Gleichheit schmerzhafter als die, die schon vorher nur wenig oder nichts hatten.

Yasin. Doch was denkst du von den Händen der Menschen?

Tarek. Da geb ich dir recht, wo sich die großen Hände von den kleinen unterscheiden, was der Gleichheit widerspricht.

Yasin. Und die Ungleichheit wird noch stärker, wenn die Hände sich zu Schalen formen und in Bettelmanier ausgestreckt entgegengehalten werden, um gefüllt zu werden mit Dingen die nötig sind, wenn es den Hunger und Durst betrifft.

Tarek. Da kleine Menschen auch große Hände und große Menschen kleine Hände haben können, treten Ungleichheiten bei der Verteilung auf, die als ungerecht empfunden werden.

Yasin. Hände lassen sich nicht kleiner und nicht größer machen, wenn vom Wachstum kindlicher Hände abgesehen wird. Du siehst, mein Freund, wie die Form mit dem Format die Gleichheit durcheinanderbringt, wenn es um die Hände geht.

Tarek. Und wie ist es mit den Köpfen, die sich in Form und Größe unterscheiden?

Yasin. Der Kopf ist ein besonderer Behälter, der das Gehirn als Inhalt trägt, während die Hand die Muskeln und Sehnen zu den Fingern führt. Was ich damit sagen will, ist, dass im Kopf die Gedanken und der Wille geformt werden, während Muskeln und Sehnen der Hand die Finger in Bewegung setzen, wie es das Hirn schaltet und befiehlt.

Tarek. Dann sind es die Bewegungsläufe, durch die und in denen sich die eine Hand von der andern unterscheidet.

Yasin. Und was für die Hände gilt, gilt nicht weniger für die Füße. Im Gang unterscheiden sich die Menschen, das im Tempo wie in der Art des Gehens im Zusammenspiel der Muskeln.

Tarek. Auf großem Fuße leben, bleibt hier eine Illusion, was die Tage betrachtet den größeren Eindruck hinterlässt.

Yasin. Es zählt nicht mehr das zu tragende Gewicht, es sei denn das Kind und die alte Mutter, die den Weg auf eigenen Füßen nicht schaffen. Da wird die Ungleichheit zur Menschlichkeit, wird Ausdruck der tätigen Liebe am Nächsten. Auf diese Tätigkeit kommt es an, die im tiefsten Sinne auf dem Glauben gründet, dass das Leben, ohne dem anderen zu helfen, wertlos und ein vertanes Leben ist.

Tarek. So sprach auch Sirna, die das Wunder erlebte, dass auf dem langen und steinigen Weg ein freundlicher Mann den kleinen erschöpften Hasan auf seine Schultern nahm und ihn bis zum Lager trug, wo er ihm noch die Flasche Wasser gab.

Yasin. Das ist, was ich sage, edel sei der Mensch, hilfreich und gut, wenn das Leben einen Sinn und Wert bekommen soll. Denn ohne die Güte sitzt der Teufel uns im Nacken, den loszuwerden viele meist junge Leben fordert und das Leben der Unschuldigen kostet und verschlingt. Darum halt ich es den Lehrern vor, nicht nur das Wissen, sondern auch die Güte der Herzensbildung zu vermitteln, denn das Wissen von den Dingen reicht nicht, um einen guten Menschen heranzubilden, der seinem Nächsten eine Hilfe ist, wenn er sie braucht.

Tarek. Es leuchtet ein und gibt ein helles Licht, was du über die Bildung sagst. Doch wo sind die Schulen und die Lehrer, die solch eine Bildung vermitteln?

Yasin. Hier im Lager findest du die Menschen, die durch eine solche Schule gegangen sind. Sie sind zwar oft armselig gekleidet, doch wenn sie sprechen und handeln, dann strömt ein Reichtum aus ihren Herzen, was Menschen aus deren Not heraushilft und ihnen das Leben leichter macht und rettet und den Tag mit der schweren Bürde erträglicher macht.

Tarek. Diesen Menschen zu danken, das soll uns im Verständnis der Dinge dann auch selbstverständlich sein, denn die Werte ihrer Menschlichkeit sind doch unbezahlbar. Es ist ihre Selbstlosigkeit, die einem Wunder gleicht, dem sich Menschen unserer Zeit soweit entfernt haben.

Yasin. Ja, Menschen sind’s, die Not und Freude bringen, meist sind es Menschen in der Altersmitte, die beides tun, weil sie beides können.

Tarek. Ob sie beides wollen, das weiß ich nicht. Doch wie wir ihre Talente und Ziele erfahren, und das in dieser Zeit, neigen sie mehr, und viele ausschließlich dazu, andere Menschen, die schuldlos sind, in Not zu stürzen.

Yasin. Da geb ich dir recht, denn wie anders kann ich die Lage sehen, die uns Vertriebene hier im Lager trifft. Wir haben die Heimat verloren und wissen nicht, ob wir sie jemals wiedersehen werden.

Tarek. Und wenn wir sie wiedersehen, was, so glaube ich, die Ausnahme sein wird, dann werden wir sie nicht wiedererkennen.

Yasin. Die zerstörte Heimat ist wie der gefallene Krug, man kann die Trümmerstücke nicht zusammenbringen, um das gelebte Ganze wiederzubekommen. Es wäre naiv gedacht, denn die Dinge der Welt haben sich weiterentwickelt, um sie in den ursprünglichen Stand wieder herzustellen.

Tarek. Das gibt den Grund zur Trauer, dass die großen Werte, die von den Vätern in härtester Arbeit geschaffen wurden, wenn sie zerschlagen werden und zerbrochen sind, für uns und die folgenden Generationen verloren sind.

Yasin. Das ist, dass es Löcher in den Kulturen gibt, die nicht zu erklären sind. Es gibt Vermutungen, dass Barbaren die hohen Werte geschändet und zerstört haben. Denken wir an die altägyptischen und altgriechischen Skulpturen, denen die Nasen, Ohren, Köpfe und Arme abgeschlagen wurden. Diese Verluste sind nicht mehr zu ersetzen, dass die allgemeine kulturelle Verarmung nicht zu aufzuhalten ist.

Tarek. Was dem Zerschlagen völkischer Wurzeln gleichkommt, dass Folgegenerationen die Orientierung über Herkunft und Zukunft auf bedauerlichste Weise verloren haben.

Yasin. Und weiter verlieren. Denn woher sollen sie die Kenntnis nehmen, wenn die Bau- und anderen Denkmäler zerschlagen sind? Es ist der Teufel der Zeit, der dem Frieden abhold und jeder Friedfertigkeit von Anfang an feindlich gegenübersteht. Es ist der Zweifel mit dem Kampf zwischen Liebe und Hass, der die Völker in den Abgrund zieht und vernichtet.

Tarek. Das heißt, dass alles einen Anfang und eine Geschichte haben muss.

Yasin. Nur muss sie erzählt werden beziehungsweise fürs Auge erkennbar und für das Ohr hörbar sein. Wenn über die Geschichte nichts gesagt und fürs Auge nichts erkennbar ist, dann kann auch die Geschichte nicht verstanden und nicht weitergegeben werden. Und wenn das so ist, dann ist nicht vorstellbar, wo und wie weit zurück unser Anfang geht.

Tarek. Das ist, was mit unseren Städten und Dörfern passiert, die samt ihren Bewohnern dem Hass zum Opfer fallen. Wir, die wir unsere Heimat verlieren und bereits verloren haben, werden auch unsere Geschichte verlieren, weil der durchgehende Faden über Herkunft und Kultur zerrissen und verbrannt ist.

Yasin. Das macht die Sache überaus traurig, weil unsere Geschichte die von Vertriebenen beziehungsweise Verstoßenen beziehungsweise Ausgestoßenen ist, denen die Kraft der Überzeugung durch das Leben mit dem Hunger geschwächt ist und infrage gestellt wird, wenn die Worte mit der Wucht der Wahrheit doch überzeugen sollen.

Tarek. Es ist die Verworfenheit der Geschichte mit dem Verworfensein in die Geschichtslosigkeit, das ist der Untergang der Zivilisation.

Yasin. In der das Unwiederbringliche zerschlagen wird und verloren geht, während wir am Lagertor stehen und den Verlust in unserer Hilflosigkeit betrauern. Es ist das Ende einer Gesellschaft, die den Frieden wagte und nun Opfer ihrer selbst samt ihrer Kinder wird.


Was und wo ist Heimat

Подняться наверх