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Am Ziel

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Angekommen.

Eigentlich könnte ich das Buch damit schon beenden. Mit dem Wort ist alles gesagt. Wer angekommen ist, ist dort, wo er hin wollte im Leben. Er hat seinen Platz gefunden. Er ist daheim. Er ist bei sich. Umgeben von Menschen, mit denen er alt werden möchte. Angekommen. Fertig.

Im Verlag hat man mir gesagt, dass das so nicht geht. Das genügt nicht für ein Buch, Herr Doktor, haben sie gesagt, Sie als Hautarzt wissen das vielleicht nicht, ist ja nicht direkt Ihr Metier. Aber Autoren arbeiten nicht so.

Das hat mich schon stutzig gemacht. Aber dann ist mir ein polnischer Autor eingefallen, Stanislaw Lec hat er geheißen. Und er hat gesagt: »Ich wollte der Welt nur ein einziges Wort sagen. Da ich es nicht konnte, wurde ich Schriftsteller.« Das hat mir eingeleuchtet, man soll von den Guten lernen.

Wobei es so gar nicht mein Ehrgeiz ist, mich als Schriftsteller hervorzutun. Ich möchte nur in Worte fassen, worauf es mir ankommt.

Und das ist: ankommen.

Ich persönlich bin optimistisch, dass es mir bald gelingen dürfte. Ich habe eine Idee, wie es auch anderen gelingen könnte. Ich habe eine Vision von dem Weg, den man gehen muss. Zu sich. Auf andere zu. Und mit ihnen in eine bessere Gesellschaft. Ich nannte ihn Johannesweg.

Wobei es so gar nicht meine Eitelkeit ist, mich als Person in den Vordergrund zu stellen. Ich wollte nur einen Namen haben, für das, womit ich auf die Leute zukommen möchte. In meinem Freundeskreis hat man mir gesagt, dass das schon in Ordnung ist. So heißt du halt einmal, Johannes, haben sie gesagt, mit dem Namen bist du auf die Welt gekommen. Damit hat dein Lebensweg begonnen.

Und damit beginnt der Weg eines jeden. Jeder kommt auf die Welt und damit zum ersten Mal an.

Gleich nach der Geburt ist man also dort, wo man sein Lebtag wieder hin will. Vielleicht nicht unbedingt schon am richtigen Platz, aber ganz bei sich. Nur weiß man das noch nicht. Und noch viel weniger kann man was dafür. Man hat nichts dazu getan, um auf die Welt zu kommen. Umso mehr kann man dafür tun, seinen Weg zu finden. Das Leben ist ungerecht, fad ist es nicht.

Deshalb strudelt man sich von dem Tag der Geburt an dafür ab, auf sein Ziel zuzusteuern. Auf einer Geraden ist man dabei nicht unterwegs, das brauche ich niemandem zu erzählen, der auf eigenen Beinen stehen kann. Bei manchen ist das früher, bei anderen später. Meistens ist man einigermaßen selbstständig, wenn man nicht mehr fragt, wo man herkommt, und nicht mehr sagt, wo man hingeht. An dieser Weggabelung geht es dann in alle Richtungen zum Erwachsensein.

Egal, welche man nimmt, man schleicht sich auf Umwegen ans Ziel an. Was vorwiegend daran liegt, dass man es noch gar nicht kennt, dieses Ziel. Das ist mitunter ärgerlich, aber nicht schlecht eingerichtet vom Leben. Man muss schon einmal falsch abbiegen, um den richtigen Weg zu finden. Man muss schon hie und da in die verkehrte Richtung rennen, um den rechten Weg zu erkennen. Man muss schon ab und zu Abkürzungen nehmen, um Zeit zu gewinnen. Man muss schon da und dort in Sackgassen landen, um sich neu zu orientieren. Man muss sich schon dann und wann auf dem Weg anderer verirren, um auf den eigenen einzuschwenken. Man muss schon immer wieder stehen bleiben, um weiterzukommen. Die Methode ist mühsam, unsinnig ist sie nicht.

Wenn man genug Erfahrung gesammelt hat, ist man alt genug, um sie auszunutzen. Das hab nicht ich mir ausgedacht, das ist von William Somerset Maugham. Ich hab’s nur weitergedacht und bin draufgekommen, dass man seine Erfahrungen in jedem Alter anders ausnutzt.

Bis zwanzig kommt es einem nicht so sehr drauf an, dass man ankommt, sondern wie man bei anderen ankommt.

Man ist Kind, in der Pubertät, ein Jugendlicher. Alles Lebensphasen, in denen man sich überhaupt nicht auskennt. Und je mehr man über sich erfährt, desto weniger weiß man etwas mit sich anzufangen. Was das eine Stadium vom anderen unterscheidet, sind Vorsilben. Man will geliebt, beliebt, verliebt sein. Ankommen, das hätte ich mir als Tattoo auf die Stirn ritzen lassen, ist in dem Alter noch kein Thema. Man wär schon froh, wenn man wüsste, wo man hin soll mit sich.

Und doch sind diese Jahre der Prägestempel auf dem Leben. Und wenn die Erfahrungen die Summe aller Irrtümer sind, dann werden sie während dieser Zeit vorwiegend von anderen begangen. Wo man hineingeboren wird, wie man erzogen ist, womit man aufwachsen musste, bestimmt, wem man vertraut, was man sich zutraut, ob man sich überhaupt was traut. Den Rucksack, den man später auf dem Buckel hat, schleppt man seit damals mit. Wie schwer man daran zu tragen hat, entscheidet man nicht selber. Wie lange man ihn trägt, schon.

Ich bin so einiges von dem, was mich bedrückt hat, erst sehr spät losgeworden. Wie ein Lastenesel konnte ich lange nicht unterscheiden, ob man mir Klumpert oder was von Wert aufgeladen hat. Bis ich endlich den Mut aufbrachte, den Rucksack aufzumachen, den Inhalt anzuschauen und das Schwerwiegendste auszumisten. Mir war erheblich leichter nachher. Und mit jedem Plunder, den ich abwerfe, haben es die anderen leichter mit mir.

Bis dreißig ist man dem Ankommen noch immer nicht viel näher. Man kommt ziemlich dran, auf vieles drauf und an manchem nicht vorbei.

Man ist ein Twen. Und damit in der Lebensphase der großen Entscheidungen. Was könnte ich werden? Mit wem möchte ich mich zusammentun? Wie oft will ich mich vermehren? Ich bin Hautarzt geworden. Ich habe meine erste Frau geheiratet. Ich habe zwei Kinder bekommen. Und eine Ahnung, wieso etliches schiefläuft im Leben.

Die ersten Erfahrungen, auf denen meine Idee zum Johannesweg fußt, machte ich in der Praxis. An der Haut sieht man, ob sich jemand wohl fühlt in ihr oder ob ihn was krank macht. Ich sammelte die Fakten, konnte sie aber noch nicht zusammensetzen. Die Botschaft, dass etwas nicht stimmt an, mit und um uns, war bei mir angekommen. Aber ich war selber einer, an dem etwas nicht stimmte. Zu beschäftigt, um mich mit dem Wesentlichen zu beschäftigen. Zu geschafft, um mehr zu tun, als mir die Reputation des Tüchtigen und meiner Familie die Existenz des guten Mittelstandes zu erschaffen. In der Sturm-und-Drang-Zeit besteht der Sinn des Lebens darin, voranzukommen.

Ab vierzig kommt man langsam dazu, sich Gedanken übers Ankommen zu machen, und darüber, was da auf einen zukommen könnte.

Man ist in den besten Jahren. Man hat sich im Leben eingelebt. Bei den einen wachsen die Sorgen mit den Kindern mit, die anderen haben ihre eigenen Probleme. Das, was man sich aufgebaut hat, ist fast fertig. Man feiert Dachgleiche. Und hegt doch schon die leise Befürchtung, die Decke könnte einem auf den Kopf fallen.

Mit zunehmender medizinischer Kompetenz gelang es mir nach und nach, die Mitteilungen der Haut immer schneller zu lesen und immer besser zu verstehen. Midlifecrisis stand auf meiner. Aber Ärzte sind miese Patienten, insbesondere in der eigenen Praxis. Bei den anderen wusste ich genau, was nicht in Ordnung war. Ich hatte gelernt, ihnen unter die Haut zu schauen. Bei mir schummelte ich mich um die Diagnose herum, dass es so nicht weitergehen konnte.

Schließlich sagte ich es mir. So kann es nicht weitergehen. Wenn es so weitergeht, bist du tot, lange bevor du stirbst. Die Therapie, die du brauchst, heißt Veränderung, verschreib sie dir endlich. Und ich verschrieb sie mir. Ich heiratete meine zweite Frau. Sie schenkte mir zwei Kinder. Und eine neue Lebensaufgabe. Wir bauten den Johanneshof um. Den Platz, an dem ich ankommen sollte.

Ab sechzig kommt man nicht drum herum, dass einen das überkommt, was man die Gunst des Alters nennt.

Man ist im Spätsommer des Lebens. Man ist ein bisschen bequemer, ein bisschen gesetzter, ein bisschen nachdenklicher geworden. Man ist noch gut zu Fuß, aber man überlegt sich seine Schritte genauer. Die Siebenmeilenstiefel, die man so lange getragen hat, zieht man nur noch in Gedanken an. Wenn jemand die Beine in die Hand nimmt, dann ist es die Fantasie, die den Wunschvorstellungen, den nicht erfüllten Träumen auf den Fersen bleiben will.

Bei mir begann sie zu galoppieren, als ich mir vorstellte, was ich mit dem Herbst meines Lebens anstellen sollte. Am Ball zu bleiben, indem ich ihn mit einem Schläger über neun Löcher treibe, erschien mir etwas wenig. Und die Lösung war kein Golfplatz mit achtzehn Löchern. Die Lösung war der Johannesweg.

Hintergrund des Ganzen ist ein globales Gefühl der Unruhe und der Unsicherheit. In ökonomisch holprigen Zeiten sehnen sich die Menschen wieder nach Substanz, nach wahren Werten wie Freundschaft, Familie, Glaube, Zuversicht. Was man sucht, findet man in keinem Sparbuch, keiner Aktie und keinem Wertpapier. Man sucht das Vertrauen in sich und in die Zukunft, man sucht das Glück. Der Johannesweg soll den Menschen den Mut machen, den sie brauchen, um nach vorne zu schauen. Er soll ihnen dabei helfen, sich wieder auf sich selbst zu besinnen. Und er soll ihre geistige und körperliche Gesundheit fördern.

Um zu sehen, wie nötig wir das haben, braucht man kein Arzt zu sein. Aber es hilft. Man lügt sich leichter in die Tasche eines Nadelstreifsakkos als in die auf einem weißen Kittel. Der Anstieg der Burnout-Erkrankungen ist kein Geheimnis. Der Stress nimmt überhand. Gemeinsam mit dem Rest der unerträglichen Schwere des Seins fügt sich alles in eine gewisse Endzeitstimmung. Die latente Panik macht langsam, aber sicher krank. Das möchte ich ändern.

Und irgendwann, dort auf meinem Johanneshof, angekommen in der Gewissheit, dass ich mehr als Golfspielen will, hatte ich die Idee, wie das funktionieren könnte. Es sind bloß zwölf Stationen, über die man zum Ziel kommt. Und das ist für jeden Einzelnen: gesund und zufrieden bis ins hohe Alter im Einklang mit den Gesetzen der Natur und in Harmonie mit seinen Mitmenschen zu leben.

Diese zwölf Stationen sind Gegenstand meiner Vision und Inhalt dieses Buches. Sie sind einleuchtend, leicht zu praktizieren sind sie nicht. Sonst wären wir alle schon dort angekommen, wo wir hin wollen. Sonst wäre die Gesellschaft schon die, in der wir leben wollen.

Ich möchte jeden bewegen mit meiner Idee. Sie soll ans Herz gehen und einem in die Glieder fahren. Einen seelisch aufrichten und körperlich antreiben. Um die Stationen geistig durchzugehen, habe ich sie hier aufgeschrieben. Um sie physisch zu durchwandern, gibt es den Johannesweg auch in natura. In Oberösterreich, ausgehend von der Gemeinde Pierbach im Mühlviertel.

Der Johannesweg ist die österreichische Antwort auf den Jakobsweg. Es ist kein Ausstieg, es ist ein Einlenken. Zweiundsiebzig Kilometer lang schlängelt sich der Weg durch ein paar der sehenswertesten Gegenden des Landes und führt ans Licht. Das Symbol des Lichts in der Pflanzenwelt ist die weiße Lilie. Deshalb wurde die Strecke nach der Form ihrer Blüte abgesteckt. Würde jemand den Johannesweg vom Himmel aus betrachten, läge eine riesige Lilie unter ihm.

Der Tag, an dem der Johannesweg erstmals begangen wird, ist der Tag von Johannes dem Täufer. Er war der Cousin von Jesus und der erste Rufer in der Wüste. Seine Worte haben viel mit den Werten zu tun, die heute, zweitausend Jahre später, wieder von Bedeutung sind. Dass auch der Täufer ein Johannes war, fügt sich wie ein kostbarer, alter Stein ins Mosaik meiner Vision von einer neuen Zukunft.

Wobei es so gar nicht meine Intention ist, mich hier mit einer Art Religion hervorzutun. Die Werte, um die es mir geht, kommen in jeder Religion vor. Die zwölf Stationen des Johanneswegs sind weder Gebote noch Dogmen, weder Glaubenssätze noch Vorschriften, weder Befehle noch Aufträge. Sie haben nichts mit Müssen zu tun, sie mögen das Können fördern. Sie sind eine Einladung, sich der Pflichten aller zu besinnen, um die Rechte jedes Einzelnen zu stärken. Das ist der Sinn dieser Bewegung.

Um miteinander etwas zu bewirken, habe ich einen Verein zum Johannesweg gegründet. Wer ihm beitreten will, hilft nicht nur sich selbst auf seinem Weg in ein gesundes Morgen, sondern auch anderen. Mit dem Mitgliedsbeitrag werden bedürftige und behinderte Menschen unterstützt. Das ist der Zweck dieser Gemeinschaft.

Wer im Unterholz des Johanneswegs nach esoterischem Kleinod suchen will, wird mit Sicherheit enttäuscht sein. Mit Esoterik kann und will ich nicht aufwarten. Meine Absicht ist es nicht, andere von dem zu überzeugen, wovon ich überzeugt bin. Schlimmer, ich habe gar keine Absicht. Ich hatte nur eine Idee. Und leiste mir den Luxus einer Vision. Mit erhobenem Zeigefinger kann man mit niemandem Hand in Hand gehen. Schon gar nicht auf dem Johannesweg.

Ich lade jeden ein, mich zu begleiten. Ich freue mich über alle, die mitkommen. Ich wünsche jedem, dass er ankommt. Am Ziel seines Johanneswegs.

Reisen ist wie Verliebtsein

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