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Das Entstehen von willkürlicher Verbindung

E pluribus unum (Aus vielen wird eines)

Wappenspruch der Vereinigten Staaten von Amerika

Große Gebilde sind meist aus kleineren zusammengesetzt, mit einem Bauplan. So bestehen Häuser aus Bausteinen und Materie besteht aus Atomen, die wiederum aus einem Kern und diesen umkreisenden Elektronen. In diesen und einer Vielzahl ähnlicher Fälle gibt es klare Vorgaben, wie das Zusammenfügen zu geschehen hat. Hier wollen wir aber eine grundsätzlich andere Form von Verknüpfung betrachten: Wie können aus vielen gleichen Einzelteilen zusammenhängende Gebilde entstehen, wenn diese Einzelteile vollkommen willkürlich verteilt werden, zusammengewürfelt ohne irgendeinen Plan? Gibt es da doch noch zuständige Gesetze?

Bereits 2500 Jahre vor Christi entstand in China ein Spiel, das heute als das älteste aller Brettspiele gilt: das meist mit seinem japanischen Namen bezeichnete Spiel Go. Auf einem Brett von 19 × 19 Quadraten (es gibt auch kleinere) werden auf die Schnittpunkte Steine gesetzt; ein Spieler hat weiße, der andere hat schwarze. Einmal gesetzte Steine dürfen nicht mehr bewegt werden; nur wenn eine Gruppe von Steinen der einen Seite vollständig von denen der anderen umzingelt ist, werden die betroffenen Steine entfernt. Der Sieger dieses Spiels ist derjenige, der am Ende über die größten von ihm beherrschten Bereiche verfügt. Natürlich darf der Sieger seine Steine nicht willkürlich setzen, die Gewinnstrategie ist noch viel komplexer als die bei Schach, und erst vor drei Jahren (bei Schach schon vor 20 Jahren) hat ein Computer den besten Go-Meister besiegt.

Wir können uns aber auch eine planlose, stochastische Form des Go-Spiels vorstellen. Wenn man die Steine willkürlich auf das Brett stellt, wie viele sind dann notwendig, um eine Seite des Bretts mit der anderen zu verbinden? Oder, in anderen Worten, bei wie vielen Steinen wird das Brett in zwei getrennte Bereiche geteilt? Das, im Gegensatz zum eigentlichen Go-Spiel, ist eine Frage an die Mathematik, und obwohl das Ganze so einfach erscheint, gibt es bisher keine klare mathematische Antwort: Man kann das nur auf Computern durchspielen, und dann findet man, dass wenn etwa 56 % der Schnittpunkte besetzt sind, im Mittel eine Verbindung besteht. Kurioserweise kann man eine Variante, in der die Steine nicht auf die Schnittpunkte, sondern auf die Verbindungslinien gesetzt werden, auch exakt berechnen, und hier ist der kritische Wert 50 %. Das Spiel selbst aber zeigt uns, dass die eingangs gestellte Frage, wie entsteht aus vielen Einzelteilen eine Struktur, offensichtlich die Menschheit schon von Anfang an fasziniert hat.

Abb. 3.1 Sukzessive Anhäufung von Bierdeckeln auf einem Tisch.

Aber die Natur ist ja kein Go-Brett, keine diskrete Einteilung – wir möchten bestimmen, wann sich kontinuierlich verteilte Objekte zu einem Ganzen verbinden. Um das plötzliche Erscheinen eines solchen zusammenhängenden Gebildes zu verstehen, fangen wir mit einer deutschen Variante an, die man vielleicht „das Bierdeckelspiel“ nennen könnte. Wir nehmen einen quadratischen Tisch mit einer Fläche von 1 m2 und werfen auf diesen Tisch willkürlich runde Bierdeckel, die ihrerseits eine Fläche von 100 cm2 haben, also einen Radius von knapp 6 cm (Abb. 3.1). Es macht nichts, dass dabei Deckel teilweise aufeinander zum Liegen kommen. In Abb. 3.1 sind einige so sukzessive erzeugte Konfigurationen dargestellt: Neben einzelnen Deckeln findet man Inseln aus mehreren Deckeln, und mit zunehmender Deckelzahl werden die Inseln immer mehr und immer größer. Und irgendwann, beim Wurf noch eines weiteren Deckels gibt es plötzlich eine Insel, die von der einen Tischseite zur anderen reicht. Daneben gibt es noch kleinere, aber diese eine verbindet nun die gegenüberliegenden Tischseiten miteinander. Wie viele Deckel muss man werfen, damit das geschieht? Die Anzahl variiert natürlich von Spiel zu Spiel immer ein wenig, aber wenn wir über viele Spiele mitteln, erfahren wir aus der dafür zuständigen mathematischen Theorie bei den vorgegebenen Tisch- und Deckelgrößen, dass die Verbindung der Seiten (das Einsetzen von Zusammenhang) bei etwa 110 Deckeln passiert. Die Summe aller Deckel ergibt dann eine Gesamtfläche von 11 000 cm2 beziehungsweise 1,1m2, die etwas größer ist als die des Tisches. Das liegt wiederum daran, dass die Deckel teilweise aufeinanderliegen, weswegen auch trotz der größeren Gesamtfläche der Deckel noch nicht die gesamte Tischfläche überdeckt ist.

Mathematiker und Physiker nennen ein solches plötzliches Einsetzen einer Verbindung Perkolation. In der Perkolationstheorie untersucht man, wie aus vielen gleichen, völlig willkürlich angeordneten Einzelteilen ganz plötzlich ein zusammenhängendes Gebilde entstehen kann. Am Übergangspunkt sind somit schlagartig auch beliebig weit entfernte Teile miteinander verbunden. Die Perkolationstheorie ist heute ein aktuelles und äußerst vielseitiges Gebiet, mit Anwendungen, die von Schmelzprozessen und Netzwerkschaltung über Waldbrände bis hin zur Entstehung von Galaxien reichen.

Abb. 3.2 Anstieg der Flächendeckung mit Deckeldichte.

Der Begriff Perkolation kommt aus der Kaffeezubereitung, bei der man Wasser in einen mit gemahlenem Kaffee gefüllten Filter gießt. Zunächst geschieht nichts, aber dann, plötzlich, bei einer ganz bestimmten Wassermenge, entsteht Durchfluss; es fließt Kaffee aus. Es ist eben dieser Durchfluss, den man als Perkolation bezeichnet, und in Amerika heißts die Kaffeemaschine deshalb auch Perkolator. Etwas ganz Ähnliches geschieht beim Blumengießen: Erst versickert das hinzukommende Wasser, und dann plötzlich fließt es unten aus dem Topf heraus. Das Überraschende an diesen Vorgängen ist das plötzliches Einsetzen: Es fließen nicht erst einige Tröpfchen und dann immer mehr, sondern erst nichts und dann voller Fluss. Bei unserem Bierdeckelspiel ist das auch der Fall. Wenn wir das nach N Würfen von Bierdeckeln abgedeckte Gebiet mit der gesamten Tischfläche vergleichen, dann erhalten wir das folgende Bild. Zunächst steigt das Gebiet nur langsam an, da ja die Deckel einerseits mal hier, mal da, andrerseits aber teilweise übereinanderliegen. Bis jetzt ist ein Großteil des Tisches noch leer. Aber sobald wir in die Nähe der kritischen Deckeldichte kommen, wächst das bedeckte Gebiet plötzlich rasant an und erreicht fast die Tischflächengröße. Mit noch weiter zunehmender Deckelzahl ist dann irgendwann der ganze Tisch bedeckt (Abb. 3.2).

Eine weitere Variante dieses Spiels entsteht, wenn die Deckel aus Metall sind und zwischen den entgegengesetzten Tischseiten ein elektrisches Spannungsgefälle herrscht. Dann wird nämlich beim Wurf des letzten Deckels, bei demjenigen, der die Verbindung herstellt, ganz plötzlich Strom fließen. Ein solches abruptes Einsetzen von elektrischer Leitfähigkeit ist somit auch wieder ein Perkolationsprozess. Ein weiteres, von Perkolationstheoretikern sehr geschätztes Beispiel erhält man, wenn der Tisch ein Teich und die Bierdeckel Seerosen der erwähnten Größen sind. Dann kann bei etwa 110 Seerosen, und erst dann, eine Ameise den Teich trockenen Fußes überqueren.

Wir sehen bei diesen Vorgängen, dass die Vereinigung vieler, willkürlich verteilter Einzelteile zu einem zusammenhängenden Ganzen nicht graduell, sondern sehr abrupt geschieht. Kehren wir nun mit diesen Vorstellungen zu den Heuschrecken zurück. Jede einzelne, noch im Solitärzustand, verbreitet um sich ein Gebiet, in dem es ungern Artgenossen vorfindet. Wenn diese „Eigenterritorien“ eine Größe von jeweils 100 cm2 hätten, dann würde erst eine Ansammlung von mehr als 110 Heuschrecken auf einem Quadratmeter nach der Perkolationstheorie ein zusammenhängendes Ganzes bilden. Ein Serotoninstrom könnte fließen und damit ein Schwarm entstehen. Und diese Erwartung entspricht durchaus den Tatsachen.

Bei weniger als 50 Tieren pro Quadratmeter verhalten diese sich noch meist solitär, und erst ab 75 oder mehr Mitgliedern setzt der gregäre, also der Versammlungszustand ein. Wenn auf jedem unserer Bierdeckel eine Heuschrecke sitzen würde, dann würde das Bierdeckelspiel nun einen Schwarm erzeugen.

Es ist offensichtlich kaum möglich, Abstände bei fliegenden Heuschrecken zu untersuchen. Aber erfreulicherweise (für die Heuschreckenforscher) bilden ja auch die noch nicht flugfähigen Nymphen Banden, die, wie die Bibel feststellt, „in geordneten Scharen“ umherziehen. Das kann man, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, ausnutzen, und die dort erwähnten Ergebnisse für das Verhalten von Heuschrecken bei variierender Dichte entsprechen ja tatsächlich einem Perkolationsverhalten. Zunächst, bei nur wenigen Teilnehmern, krochen die Tiere in der Arena einzeln in verschiedenen Richtungen umher, dann in willkürlich bewegten kleinen Gruppen, und erst ab etwa 50–100 Tieren pro Quadratmeter änderte sich das Verhalten schlagartig: Jetzt entstand eine Große Gruppe, die gemeinsam, alle in einer Richtung wie ein strömender Fluss die Arena umkreiste. Der Schwarm war geboren. Die Ähnlichkeit dieses Vorgangs mit unserem Bierdeckelspiel und den dabei entstehenden Inseln bis hin zur Perkolation ist schon frappierend und sicher nicht zufällig. Dichte erzeugt Verbindung und Zusammenhang, und das wiederum führt auf gleichförmiges Verhalten.

Die Perkolationstheorie und das plötzliche Entstehen von zusammenhängenden Gebilden findet wie gesagt eine Vielzahl von Anwendungen in den verschiedensten Bereichen. Dicht zusammengepresste Atomkerne bilden eine neue Form von Materie, Quarkmaterie, aus der das sehr frühe Universum bestanden hat. Gaswolken im etwas späteren Universum treffen zusammen und bilden Galaxien. Und in dem uns hier interessierenden Bereich bilden sich fast immer Schwärme, wenn genügend viele Tiere auf engem Raum zusammenkommen.

Es gibt aber noch weitere Fragen zu unserem Thema, die man durch simple Perkolation nicht beantworten kann. Der Schwarm besteht ja nicht nur aus irgendwie zusammengedrängten Tieren, die einander nun mögen; sie bewegen sich ja auch alle in die gleiche Richtung. Wie verwandelt sich eine Menge von wahllos durcheinanderkrabbelnden Tieren – eines hierhin, das andere dorthin – in eine geordnete Marschtruppe, in der alle zusammen in eine bestimmte Richtung ziehen? Zu diesem Problem kehren wir gleich zurück, nachdem wir zunächst das ganz ähnliche Problem bei Starenschwärmen erläutert haben.

Heuschrecken haben keinen König

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