Читать книгу Ich hätte König sein können - Helmut Sorge - Страница 7

Оглавление

Kommunikation auf Trappistenebene

Die illustren Bewohner des historischen Platzes hatten ihre Hunde noch nicht an die Bäume geführt, die sich gegen tierische Fäkalien nicht wehren können, natürlich nicht. Sie müssen Kot und Urin ertragen, und gleichwohl sollen ihre Blüten Duft verbreiten und die Farben des Regenbogens übertreffen. Wer sich anno 2021 rund 25.000 Euro pro gekauften Quadratmeter leisten kann, hat womöglich solche Erwartungen. Der Place Dauphine hat mehr als ein halbes Jahrtausend hinter sich und ist ein großartiges historisches Werk, und zwar die gesamten 2.665 Quadratmeter, die über die Pont Neuf, die älteste Brücke der Metropole, anno 1607, mit der Hauptstadt verbunden sind. Keine Schlaglöcher darauf. Paris ist nicht Manhattan, wo urbaner Zerfall offenbar als Avantgarde angesehen ist.

„Il est cinque heures, Paris s’éveille“, hat Jaques Du-tronc gesungen und in seinem Text auch den Place Dauphine verewigt. So wie Rainer Maria Rilke, der die architektonische Grandeur bejubelte: „Plätze, o Platz in Paris, unendlicher Schauplatz ...“ Die Müllabfuhr ist eben vorbeigerumpelt und hat Leicht- wie Langschläfer auf ewig gegen sich aufgebracht. Von meinem Fenster aus konnte ich die voluptuöse Blonde sehen, die Managerin des Cafés vom „Caveau du Palais“. Sie servierte bereits Yves Montand. Der legendäre Schauspieler, geboren in Italien, lebte er seit den 50er-Jahren auf dem Place. Gemeinsam mit der französischen Ikone Simone Signoret. Ein Power-Paar. Ein freundlicher Monsieur.

Der Chansonnier, der während der deutschen Besetzung von Paris wie die Kollegen Edith Piaf und Maurice Chevalier auch Wehrmachtsoffiziere unterhielt, war stets elegant gekleidet, oft mit Pullover oder Weste, so, als wollte er in Longchamp oder Chantilly auf Pferde wetten. Er versäumte nie, mir und anderen Gästen ein „Bonjour“ zuzuwerfen oder sogar „A bientôt“. Bis bald also, aber dabei blieb es in all jenen Jahren. Bald war er gestorben, und außer einem sozialistischen Verteidigungsminister, Pierre Joxe, dessen Familie hochherrschaftlich am Platz residierte, konnten Paparazzis hier selten einen Prominenten ausmachen. François Mitterrand bettete seine Geliebten in anderen Breitengraden. Das heimliche Liebesleben des Valéry Giscard d’Estaing füllte in einer von meinem Freund Olivier Todd verfassten Biografie ein Kapitel. Monsieur Holland, einer seiner Nachfolger, ließ sich gelegentlich, wir erinnern uns, für ein „Frühstück d’amour“ von einem Leibwächter in die Élysées, nahe Rue de Cirque transportieren. Auf einer Vespa. Was folgte war ein Zirkus „à la croissant“ – der Staatschef reduziert zum Clown, der einen Sturzhelm trug und auf sein Amt wegen Misserfolgs und entsprechender Ablehnung der Bürger vorzeitig verzichtete.

Mit meinem Nachbarn, einem Pianisten, oder einer der davon träumte es zu sein, kommunizierte ich auf Trappistenebene. Wie Schweigemönche existierten wir über Jahre auf der ersten Etage nebeneinander. Mein Nebenan lehnte es ab, mit Unbekannten zu reden, selbst jenen, die ihm tagtäglich begegneten. Allerdings meldete sich der Anrainer jeden Morgen, gegen 8 Uhr, musikalisch. Seine Fenster öffnete er wie den schweren Velour-Vorhang einer Opernbühne. Die Pianoklänge schallten über den Platz. Gewaltig. Nie gelang es mir zu klären, ob der Künstler sich als Rubinstein oder Horowitz wähnte. Er intonierte jeden Morgen, 30 Minuten lang, stets dieselben, undefinierbaren Stücke. Sein Flügel war arg verstimmt. Und die Kompositionen, falls es welche waren, mindestens unvollendet. Ein wenig Schubert also. Ohne dessen Genialität. Meinen Nachbarn konnte ich nicht fragen, weil er, wie erwähnt, jedwede Unterhaltung ablehnte. Ich habe den Namen des Musikers nie erfahren, zumal der auch am Briefkasten fehlte.

Ich bin mir nicht sicher, ob der Pianist Selbstgespräche geführt hat. Er hustete häufig, zuweilen röchelte er. In solchen Sekunden fürchtete ich, seine Zahnprothese sei verrutscht und er drohte zu ersticken. Seinen Briefkasten hat er nie geleert, das scheint verbürgt. Über Monate quollen dieselben Drucksachen heraus. Der Hauswart hatte irgendwann einen Karton unter die Postfächer gestellt und den „postier“ angehalten, die Sendungen für den schweigsamen Bewohner dort hineinzuwerfen. Sobald der Kasten gefüllt war, entsorgte der Concierge die gesamte Post im Müll. Der Pianist beklagte sich nicht, verriet mir der Verwalter. Er schien erleichtert, dass ihm diese Arbeit abgenommen wurde.

Beifall für ein unerträgliches Frühkonzert

Täglich punkt 9 erschien der Anonyme auf dem Platz, als wollte er sich den Beifall für sein unerträgliches Frühkonzert abholen. Maestoso. Gravitätisch. Ich schätzte ihn auf 1,88. Er war hager bis mager, eingefallen, blass. Er versuchte seine Glatze zu verbergen, indem er die verbliebenen Haare bis in den Nacken wachsen ließ und sie dann, von hinten gegelt, bis an die Stirn führte. Er hätte es mit einem Hut einfacher gehabt. Nur klassische Pianisten spielen offenbar nicht mit Mütze, nur Jazzer. Seine Hosen entsprachen der Haarfarbe: grau. Seinem blauen Blazer fehlten mehrere der goldgefärbten Knöpfe. Der Hemdkragen, vielleicht war es das einzige Hemd, das er besaß, war zerlöchert und an den Rändern zerfressen. Von den schwarzen Lackschuhen, die der Gentleman vergangener Epochen zum Smoking oder Frack schätzte, hatte sich der Lack abgemeldet; nur einige wenige Bereiche der Schuhe glänzten wie in früheren Zeiten. Hose, Hemd und Jacke fehlte jede Form. Sie waren einem Bügeleisen seit Langem entkommen. Womöglich schlief mein Nachbar in seiner Kleidung, weil ihm ein Schrank fehlte. Oder eine Daunendecke für den Winter.

Er schlurfte nicht etwa auf den Platz, sondern trat erhaben auf, selbstbewusst. Der Künstler blickte hinauf auf die wunderschönen Fenster in den historischen Gebäuden, so, als vermute er dort die Logen seiner Oper, seine Fans sowie Claqueure. Oder den Kommissar Jules Maigret. Den hat Romancier Georges Simenon nämlich zum Stammgast des Restaurants „Au trois Marches“ werden lassen, auf dem Place.

Der Pianist verneigte sich, nur einmal, vielleicht setzte ihm die Bandscheibe zu. Danach setzte er sich auf die Bank im Zentrum. 9 Uhr, täglich. Bis 11. Der Kunstschaffende las weder ein Buch noch eine Zeitung. Stattdessen fütterte er Tauben und Spatzen mit Brot, einem dieser geschnittenen Toastsorten, die nach einem versehentlichen Fall auf den Boden hochschnellen wie ein Basketball.

Zwei Stunden lang. Sieben Tage pro Woche. Womöglich hörte er aus der Ferne die Stimme Montands, der in seiner Parterrewohnung täglich mit einem Pianisten übte. Vielleicht machte ihn dieser Musiker neidisch.

Mein Nachbar war ein Greis, 80, 90, vielleicht auch ein frühzeitig zerfallener Sechzigjähriger. Selbst an Regentagen verfolgte er seinen Tages-Wochen-Monats-Jahresplan. An solch düsteren Tagen war er von einem übergroßen Regenmantel umhüllt, grau wie Hose, Haare und Gesicht. Er hockte auf einem gefalteten, grünen Badetuch. Gewitter schreckten ihn nicht. Wenn die Blitze zuckten, flüchteten Tauben und Spatzen, der Pianist blieb auf seiner Bank im Zentrum des Place Dauphine. Allerdings öffnete der enigmatische Entertainer einen übergroßen, karierten Golfschirm, dem einige der Drahtstützen fehlten und der deshalb wie ein zusammengerutschtes Zelt wirkte. Darunter hockte er wie eine Skulptur, eine kopflose. Magritte hätte ihn als Modell nutzen können. Zumindest den Hals, der schwanenähnlich gebogen war.

Plötzlich sprachen die Nazis französisch

Dreimal wöchentlich hörte ich seine hohe Stimme, die sich in Kastratennähe bewegte. Eine bezopfte ältere Frau, deren Strickstrümpfe gummibandverstärkt unterhalb der Knie endeten, belieferte den Greis mit Lebensmitteln. Da mein Nebenan keine Klingel oder selbige abgestellt hatte, klopfte die Frau, dreimal wöchentlich, zunächst behutsam nachsichtig, an die Tür. Nach einigen Minuten verlor sie, dreimal wöchentlich, die Geduld und hämmerte mit ihren Fäusten. Vielleicht war der Musiker schwerhörig, was seine klägliche Musik und das ungestimmte Piano forte erklären würde. Oder er litt an Alzheimer, erste Symptome, denn wie anders war es zu deuten, dass er über Jahre die Rendezvous mit seiner einzigen Kontaktperson vergaß? Der Alte, das konnte ich hören, begrüßte seine Lebensmittellieferantin nicht etwa mit einer Entschuldigung, sondern rügte sie: „Sie sind zehn Minuten verspätet.“ Sie reagierte nicht, reichte ihm eine Rechnung. Er zahlte und schlug die Tür zu. Seine Kommunikation des Tages.

Der Pianist besaß weder ein Radio noch einen Fernseher, wie mir der Concierge verriet; lediglich ein Feldbett, ein verstimmtes Steinway-Piano und die Einsamkeit. Angeblich las er die rechtsextreme Postille „Minute“.

Der stumme Monsieur hatte sich eben auf seiner Bank niedergelassen und die ersten Tauben besetzten seine Knie, als die Nazis den Place Dauphine stürmten. Hitlers Handlanger. Der Künstler rührte sich nicht, allerdings sah ich von meinem Fenster aus, wie er die nun nachrückenden Panzerspäh- und Kübelwagen, allesamt an den Hakenkreuzen erkennbar, beobachtete, vor allem die Kradfahrer, die Wehrmachtsstahlhelme trugen. Und die Männer in schwarzen Ledermänteln, die Frauen und Männer an eine Wand drängten, unweit des Cafés, in dem Yves Montand Stammgast war.

Zugegeben, für einige Sekunden war ich irritiert, verwirrt ob dieser Szenen meiner Kindheit. Kriegskind in alle Ewigkeit. An der Zufahrtsstraße zum Pont Neuf machte ich Pariser Polizisten aus, die auf ihren Hochglanz geputzten BMW-Motorrädern saßen und die chaotischen Szenen auf dem Place verfolgten – Dreharbeiten. Hollywood an der Seine. Monsieur X rührte sich nicht. Er fütterte seine Tauben.

Wusste mein Nachbar, dass dies nicht 1944 war, jener dramatische Pariser August des Widerstandes, sondern ein halbes Jahrhundert später? Nicht der Kampf der Résistance gegen die Besatzer, stattdessen der Versuch, einen Aspekt der Geschichte aufzuarbeiten?

Ein Mann, der Bootsschuhe ohne Socken trug, eine eng geschnittene Jeans und ein T-Shirt, dazu eine Baseball-Mütze, trat den deutschen Soldaten entgegen und befahl: „Cut!“

Plötzlich sprachen die Nazis französisch miteinander, und sie genossen die von der Produktion bestellten „Tartines“, Landbrot, belegt mit geräuchertem Schinken, Lachs, Paté oder Käse. Ich hatte vom Fenster aus einen Tribünenplatz und verfolgte, wie die schwergewichtige Besitzerin des Restaurants „Chez Paul“, Nachbarin der Montand-Wohnung, die Filmarbeiten zu einer Vergangenheit beobachtete, die ihr durchaus vertraut war. Kurzfristig war ich also abgelenkt und hätte so den Abgang meines Nachbarn von seiner Spatzen-, Katzen-, Köter-, Taubenkot bedeckten Bühne beinahe nicht gesehen – der war dramatisch. Der Typ, der eben „cut“ gerufen hatte, vermutlich der Regisseur, versuchte einen SS-Offizier vor den Faustschlägen des greisen Pianisten zu schützen. Er, ausgerechnet dieser stumme, in seine eigene Welt versunkene Greis.

Lunch mit Blick auf das antiquierte Klo

Tatsächlich müssen die Filmszenen Erinnerungen in dem Musiker befreit haben; aus der Vergangenheit projezierte Bilder, die den Pianisten aus dem mentalen Gleichgewicht trieben und völlig unerwartet versperrte Türen aufrissen. Auf dem Weg zurück zu seiner Wohnung trat der Greis auf den SS-Mann zu und spuckte ihm ins Gesicht, nicht nur einmal. Obendrein trat er dem Uniformierten ins Geschlechtsteil. Immerhin waren die Gebeine meines stummen Nachbarn noch gelenkig. Sodann setzte er dem Schauspieler seine Faust ans Kinn. Mein Nachbar! Der Darsteller traf ihn mit mehreren Kontern am linken Auge und knallte ihm eine Rechte auf die Nase. Die blutete heftig, ein Auge war blutunterlaufen und schwoll an. Der Pianist war gezeichnet, wie der Brite Henry Cooper nach seiner Begegnung mit Cassius Clay (Muhammad Ali) im Juni 1963 in London. Erstmals zeigte das Gesicht des Künstlers in all diesen Jahren unserer stummen Nachbarschaft Farbe. Der schweigsame Eremit akzeptierte die Entschuldigung des Regisseurs für die Konter seines Schauspielers und nahm eine Einladung ins „Chez Paul“ an. Außerdem versprach der SS-Schläger, der übrigens an der Comédie Française unter Vertrag war, dem verstörten Musiker ein neues Hemd, denn das vergilbte war nun blutgefärbt und würde eine Wäscherei nicht überstehen.

Wegen des Faustkampfes hatte mein Nachbar seine Lebensmittellieferantin versäumt, die ihre Plastiktüten, regelwidrig, vor dessen Tür stellte.

Nach der Reaktion des Pianisten auf die Naziszenen war ich nicht sicher, ob die Einladung ins „Chez Paul“ wirklich eine gute Idee war. Denn die Wirtin, das hatte sie mir anvertraut, war Nazioffizieren, damals in der düsteren Zeit, als junge Kellnerin, durchaus zugetan: „Das waren Gentlemen. Ja, das waren sie! Meine besten Liebhaber überhaupt.“

Vielleicht fanden Schauspieler und Wirtin gleichwohl zueinander, denn so mancher der Comédie-Française-Darsteller applaudierte in vergangenen Zeiten ihrem greisen Marschall Pétain, der sich mit den Nazis eingelassen hatte. In frühen Jahren wäre die Französin womöglich von Richard Wagner als Walküre gecastet worden, als Brünhild vielleicht. Sie war vollschlank und vollbusig, blond und blauäugig und nicht abgeneigt, einsame Germanen an ihre Busen zu ziehen. Um die hätte selbst eine Jane Mansfield die Wirtin beneidet.

Ihre Beichte kam für mich überraschend. In meinen ersten Monaten auf dem Place Dauphine hatte die Walküre, die in den Nachkriegsjahren ihr Gewicht offenbar verdoppelte, mich meist ungnädig abgefertigt, vor allem wenn ich wagte, ohne Vorbestellung um einen Tisch zu bitten. Falls Madame Brünhild gnädig gestimmt war, platzierte sie mich zum Lunch mit Blick auf das antiquierte Klosett, dessen Tür stets einen Spalt offen stand. Bis ihr Sohn, der Chansons komponieren und keine Schnecken in Knoblauch servieren wollte, seiner Mutter verriet, dass ich ein „boche“ sei, ein Deutscher, ein fridolin, frisé, teuton, chleuch oder Fritz. Fortan ließ sie mich an den Tisch mit Seine-Blick führen und mir ein Glas Champagner servieren. Zu Ehren ihrer deutschen Lover.

Später, viel später, hat sie mir von ihrem Faible erzählt, mir jedoch nie verraten, wie sie nach dem Rückzug der Nazis den hysterischen, französischen Mobs entkommen konnte, die Frauen (selbst wenn sich ihre Beziehung zu den deutschen Besatzern auf das Bett begrenzte) verfolgten, auspeitschten oder ihne die Haare abrasierten – Rache musste sein. Madama Brünhild vom ehrenwerten Place Dauphine sagte kein Wort dazu. Sie erkrankte, bevor ich sie dazu befragen konnte. Wegen ihres Übergewichts gelang es der Krankenwagenbesatzung nicht, sie mit einer Trage durch das enge Treppenhaus zu transportieren. Sie forderten eine hydraulische Hebebühne der Feuerwehr an. Und so sah ich meine späte Gönnerin ein letztes Mal, nur ihren Kopf, der gerötet war; ihre Augen lagen tief im Schädel. Sie lächelte nicht mehr, sondern winkte mir von der Hebebühne mit einem Handtuch zu, weiß.

Auch mein Nachbar versäumte nun häufiger seine Auftritte auf dem Platz. Er spielte selten und röchelte stärker. Er hustete und hustete und ich hoffte, er würde sich berappeln und bald wieder an sein verstimmtes Klavier setzen und mich mit dem musikalischen Lärm nerven. Zu spät. Der Karton mit der ungelesenen Post wurde, ein letztes Mal, entsorgt, der Briefkasten tatsächlich geleert. Die Tauben suchten sich ihren Fraß anderswo.

Ob zumindest der Grabstein seinen Namen zeigt?

Ich hätte König sein können

Подняться наверх