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Mensch, ärgere dich!

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Anstoß zu diesen – wie ich meine – umwälzenden Überlegungen gibt eine Untersuchung von Professor Urs von Buchenhain, die er bei U-Bahn-Fahrgästen auf der Strecke Münchner Freiheit – Nordfriedhof über ein ganzes Jahr an jedem 17. des Monats in der Zeit von 14.15 Uhr bis 14.45 Uhr durchführte. In dieser Untersuchung stellt sich heraus, dass sich an dem Tag der Befragung nur 17,62 Prozent gefreut hatten, während sich 76,11 Prozent zur selben Zeit bereits mindestens einmal geärgert hatten. Die restlichen Prozent entfielen auf Verkehrsteilnehmer, die sich aus Ärger über eine solche Frage überhaupt nicht äußern wollten.

Den nächsten Denkanstoß lieferte eine weitere Untersuchung, die vom Ordinarius für Publizistik Heimo Heigenbrock durchgeführt wurde. Der Wissenschaftler ließ über zwei Wochen des Wintersemesters an einem Zeitschriftenstand kostenlose Exemplare einer Zeitschrift auslegen, die eine erfreuliche Meldung als Schlagzeile hatte, und eine Zeitschrift, die eine ärgerliche Überschrift bot. Die Studenten durften nur eine der Zeitschriften mitnehmen. 83,04 Prozent entschieden sich für die Zeitschrift mit der ärgerlichen Schlagzeile, 15,27 Prozent für die mit der erfreulichen Überschrift, die restlichen Prozente entfielen auf Studenten, die beide Zeitschriften unbeachtet ließen und neben dem Zeitschriftenstand die marxistische Studentenzeitung verteilten.

Einen dritten Denkanstoß lieferte mir die Untersuchung des Literaturprofessors Dietz Xaver Rübensam, der feststellte, dass in den letzten fünf Jahren Literaturpreise deutscher Kulturinstitute zu 96,3 Prozent an literarische Erzeugnisse vergeben wurden, deren Hauptinhalt ärgerlichen Charakters ist.

Gehen wir nun von der in unserer Zeit nicht mehr zu hinterfragenden Annahme aus, dass eben die Statistik Grundlage jeder Norm ist, dann wird sich daraus etwas Revolutionäres ergeben, das die meisten der bisherigen Denksätze auch im Philosophischen revidiert. So muss beispielsweise der Satz von Pascal »Der Mensch ist für die Freude geboren« nicht nur in Frage gestellt, sondern geradezu in sein Gegenteil verkehrt werden: Der Mensch ist für den Ärger geboren. Und wie steht es mit dem bekannten Wort von Friedrich von Schiller: »Freude heißt die starke Feder in der ewigen Natur. Freude, Freude treibt die Räder in der großen Weltenuhr«?

Ist, so müssen wir realistisch fragen, nicht der Ärger die eigentliche Feder in dem großen Weltengetriebe? Zweifelsohne nämlich ist der Ärger die stärkere Macht. Das wird eindeutig aus der Feststellung klar, dass sich eben so wenige Leute freuen. Ist das nicht ärgerlich? Ebenso steht medizinisch auch eindeutig fest, dass die Freude das Gesündeste ist, was dem Menschen widerfahren kann, Ärger aber etwas Ungesundes. Nun stellen wir die ganz einfache Frage: Können wir uns darüber freuen, dass der Ärger, eben jene so verbreitete Haltung, etwas Ungesundes ist?

Nein, wir freuen uns nicht, wir ärgern uns vielmehr darüber.

Im Übrigen spielt der Ärger im Zusammenhang mit der heute so viel geforderten Selbstverwirklichung natürlich eine entscheidende Rolle. Selbstverwirklichung hat bekanntlich immer mit einem selbst zu tun. Während man vor Freude außer sich sein kann, frisst man den Ärger in sich hinein. Man gewinnt auch eine gewisse Farbe durch den Ärger, man ärgert sich nämlich grün und blau. Und noch etwas Wesentliches kommt dazu: Während Freude und Glück bekanntlich etwas sehr Flüchtiges sind, das uns immer wieder zu entgleiten droht, bleibt der Ärger, dass das Glück eben meist nur von kurzer Dauer ist. Ärger ist das bleibende, das stabilisierende Moment in unserem Leben. Und damit macht er das menschliche Leben im Übrigen auch erträglicher. Gibt es da nämlich nicht das schöne Wort von Goethe, dass nichts schwerer zu ertragen wäre als eine Reihe von guten Tagen? Kehren wir legitimerweise den Satz um, dann bedeutet das doch, dass eine Reihe von ärgerlichen Tagen leicht zu ertragen ist.

Diese Gedanken richten sich nun an Menschen, die nicht zu solcher weisen Lebenseinsicht gelangt sind, also jene Prozente, die sich möglicherweise auch noch mit Büchern ausstatten wollen, mit Hilfe derer sie zur Freude oder zum Glück gelangen wollen. Gott sei Dank gibt es inzwischen auch einige Autoren, die dem Menschen Hilfestellung zum Ärgern beziehungsweise zum Unglücklichsein geben. Da ist vor allem zu nennen Paul Watzlawicks »Anleitung zum Unglücklichsein«, die innerhalb kürzester Zeit nach ihrem Erscheinen zu Recht zu einem Bestseller geworden ist. Und da ist selbstverständlich das unvergleichbare Buch von Arthur Bloch »Gesammelte Gründe, warum alles schiefgeht, was schiefgehen kann«. Ich darf Ihnen als Ärgeranregungen einige Sätze daraus zitieren: »Wenn etwas schief gehen kann, dann wird es auch schief gehen. Wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, dass Dinge schief gehen, so wird das schief gehen, das den größten Schaden anrichtet.

Nichts ist so leicht, wie es aussieht, jede Lösung bringt neue Probleme.

Wenn etwas nicht mehr schlimmer werden kann, so wird es noch schlimmer.

Wenn es dir gut geht, mach dir keine Sorgen, es wird vorbeigehen.«

So weit also nur ein paar ganz kleine Anregungen zum Ärgern.

Wer sein Denken schult, wird überall einen Pferdefuß, eine Achillesferse, ein Haar in der Suppe entdecken, wodurch ihm die Augen geöffnet werden, dass er eigentlich immer wieder Grund hat, sich zu ärgern. Eine wichtige Grundüberlegung, sich jeden Tag neu zu ärgern, darf ich Ihnen kurz mitteilen. Nehmen wir irgendein fiktives Jahr aus Ihrer Ahnenreihe heraus, vielleicht das Jahr 1603, als gerade irgendein Zunftfest stattfand. Dabei gehe ich von der Annahme aus, dass irgendwelche Ihrer Ur-ur-ur-Ahnen mit einer Zunft zu tun hatten.

Und jetzt überlegen Sie: Bei diesem Zunftfest laufen sich plötzlich zwei Leute über den Weg, die aneinander Gefallen finden, eine Familie gründen, und das erste Kind aus dieser Verbindung ist Ihr Ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-Großvater geworden. Überlegen Sie nun: Hätte Ihre Urahnin an diesem Tag eine gewisse Unpässlichkeit gehabt und wäre nicht zu diesem Treffen auf das Zunftfest gekommen, oder Ihr Urahn wäre durch eine berufliche Pflicht abgehalten worden, oder er wäre später gekommen, als die Urahnin schon auf einen anderen Mann getroffen ist, diese Verbindung wäre nie zustande gekommen. Jetzt überlegen Sie weiter. Wie viele dieser Begegnungen stattfinden mussten, dass eine Ahnenreihe entstand, aus der ausgerechnet Sie hervorgegangen sind. Ein bisschen früher aufeinander zugehen, sich treffen, Lust, Unlust, Ärger, Liebe, plötzliche Gefühlsaufwallung, was alles an Zufälligkeiten war notwendig, dass Sie jetzt als Sie auf dieser Welt da sind. Ist das nicht ein Grund zum Ärgern?

Wäre also Ihre Großmutter ein bisschen weniger pünktlich gewesen, wäre sie zu ihrem ersten Rendezvous mit Ihrem Urgroßvater zu spät gekommen, Sie müssten nicht als Sie auf dieser Erde sein, diese Bürde des Lebens nicht tragen. Wie heißt der schöne Spruch: »Wie oft wünsche ich mir, nicht geboren zu sein, aber das Glück haben die wenigsten. «

Ausgerechnet bei Ihnen mussten nun diese Zufälligkeiten zusammenkommen, Zehntelsekunden haben auch vom rein Genetischen her darüber entschieden, dass Sie auf dieser ärgerlichen Welt sind. Wenn das kein Grund zum Ärgern ist?

Aber denken Sie doch weiter, gehen Sie in der Geschichte des Lebens noch mehr zurück. Da steht am Beginn des ganzen Weltalls jener mysteriöse Urknall. Überlegen Sie einmal, was von einem solchen Knall über die Entstehung der Gestirne, der einzelnen Galaxien unseres Sonnensystems, bis hin zur Entstehung unserer Erde, alles an glücklichen, äh, ich wollte sagen, ärgerlichen Konstellationen notwendig war. Aber beginnen wir lediglich bei unserer Erde. Musste ausgerechnet sie das Gestirn sein, auf dem Leben möglich ist, und hätte es nicht zumindestens genügt, dass unsere Erde von ein paar Einzellern bevölkert geblieben wäre? Nein, es mussten – weiß der Kuckuck, wie – Fische, Reptilien und dann schließlich die Säugetiere entstehen, und um der Ärgerlichkeit die Krone aufzusetzen, sogar noch diese so genannte Krönung der Schöpfung ins Leben gerufen werden: der Mensch, mit dem Sie und ich uns in eigener Person, aber auch mit den anderen Vertretern dieser Art, mit den vielen Ärgernissen herumschlagen müssen. Ist es nicht ärgerlich, dass nicht irgendwo und wann vom Urknall her wenigstens ein einziges Mal eine Entwicklung in eine andere Richtung verlaufen ist? Nein, schnurstracks auf Ihre eigene Person musste das Ganze von Millionen und Abermillionen Jahren her zulaufen. Da könnte man doch gleich vor Ärger in die Luft gehen.

Wer sich richtig ärgern will, darf im Übrigen diesen Ärger nicht lediglich als einen rein intellektuellen Vorgang ablaufen lassen. Er muss seinen ganzen Körper aktivieren. Für was haben wir ja schließlich unsere Sinnesorgane? Wer sich also richtig ärgern will, muss all seine Sinnesorgane aktivieren. Wie viel Ärgerliches kann man tagaus, tagein sehen! Da gibt es das schöne Sprichwort: »Freu dich nicht darüber, dass der Dornenstrauch Rosen trägt, sondern ärgere dich, dass der Rosenstrauch Dornen hat.« Dornen kann man bekanntlich nicht nur sehen, man kann sie auch spüren. Brocken Sie sich einmal eine Rose ab, und schon wird Ihnen das schöne Ärger-Sprichwort sensitiv erfahrbar werden: »Keine Rosen ohne Dornen.« Wer seine Ohren aufsperrt, kann alle daumenlang etwas Ärgerliches hören: Geräusche, Lärm, dumme Sprüche, ärgerliche Nachrichten im Rundfunk und so weiter. Wozu haben wir schließlich unsere Nase und unseren Geschmackssinn? Wie viel gibts, wo er einem stinkt, wo man einen oder etwas nicht riechen kann.

Verlassen Sie sich aber nicht nur darauf, dass unsere Umwelt voller Ärger steckt. Den Ärger findet man nicht nur in den Dingen selbst, sondern man kann bei einer bestimmten Sichtweise auch alles als ärgerlich empfinden. Ich verweise wieder auf das Sprichwort mit dem Dornen- beziehungsweise Rosenstrauch. Mit der entsprechenden Einstellung kann jeder neue Morgen Anlass zum Ärgern sein. Es empfiehlt sich, mit dem linken Fuß und mit dem Gedanken aus dem Bett zu steigen, dass jeder neue Tag 24 Stunden, das sind 1440 Minuten oder 86400 Sekunden, bereithält, in denen etwas Ärgerliches passieren kann. Nehmen Sie Forsters Gesetz zum Leitspruch Ihres Lebens: »Die Nörgler sind die einzigen, die im Leben immer das finden, wonach sie gesucht haben.«

Je mehr Sie versuchen, diesen Spruch während des Tages in die Tat umzusetzen, desto mehr können Sie abends auf einen erfüllten, einen mit Ärger erfüllten Tag zurückblicken und erfreut einschlafen.

Erfreut einschlafen? Moment Mal, das wäre ja eigentlich genau das Gegenteil von dem, was wir eigentlich erreichen wollten. Sollte man sich eventuell sogar über den Ärger am Ende noch freuen können, und die Freude am Ende sogar noch die Oberhand gewinnen? Das wäre aber auch zu ärgerlich.

Komm, lach halt wieder

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