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Das größte Abenteuer überhaupt

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Kürzlich wurde in Spanien der Nudismus gesetzlich erlaubt. Was ein Mann in Pamplona zum Anlass nahm, um sein Recht zu kämpfen, nackt durch die Stadt laufen zu dürfen. Er meinte, er sei zuhause unbekleidet und nütze die textilfreien Stunden im Freibad der Stadt, deshalb sehe er nicht ein, wozu er sich für die paar hundert Meter zwischen seinem Domizil und dem örtlichen Pool etwas überziehen müsse. Das Gericht stimmte ihm zu, weshalb der Mittvierziger seit einiger Zeit zweimal wöchentlich durch Pamplona schwingt, ausgerüstet mit dem von Reinhard Fendrich bekannt gemachten Dreiteiler (zwei Schlapfen und eine Sonnenbrille) und dem Gerichtsbescheid.

Das nackte Überleben ...

… ist in unserer Überflussgesellschaft zum Spiel geworden. Sich das Recht zu erstreiten, sich völlig hüllenlos den Elementen (und der eher konservativen Bevölkerung Pamplonas) präsentieren zu dürfen, ist zwar witzig, aber auch nur aus der Sicht einer Gesellschaft, der es an rein gar nichts wirklich mangelt. Was aber ist mit jenen, die ihr anscheinend doch nicht so kostbares Leben absichtlich in größte Gefahr bringen? Menschen erklimmen Felswände, die noch nie jemand bezwungen hat, und falls doch auf einer noch schwierigeren, gefährlicheren Route. Ist das auch erledigt, lässt man Seile und Haken weg. Oder man wartet auf den Winter oder ersteigt gleich zugefrorene Wasserfälle. Trotz allem gehen den Extrembergsteigern schön langsam die Optionen aus. Hier einige Vorschläge für die Ärmsten, denen nichts mehr einfällt, wie sie irgendetwas als Allererste machen könnten: Erstbesteigung des Großglockner in Flip-Flops oder, noch besser, High-Heels; Nacktmarathon, -triathlon oder -ultramehrkampf; rückwärts den Berg raufgehen oder auf allen Vieren die Sahara durchkriechen.

Willkommen – Bienvenue – Welcome – im Kabarett

Das Überleben – eine Frage der sensationellsten Inszenierung. Ich gestehe, dass ich auch zu jenen gehöre, die angesichts von Saltos mit Motorrad, Sprüngen über 23 Autobusse oder Mountainbike-Abfahrten mit 162 Stundenkilometern erst einmal interessiert hinsehen und sich der staunenden Bewunderung nicht entziehen können. Panem et circenses, Brot und Spiele, hat schon in der römischen Antike bestens funktioniert, nur war man damals ehrlicher als heute: Die Gladiatoren wurden zum möglichst publikumswirksamen Sterben ausgebildet, ohne Wenn und Aber. Wenn sich heute ein Skifahrer ins Koma stürzt oder gleich das Genick bricht, geht ein wohlig-gruseliger Schauer des Mitgefühls durch die Medien, es wird über Sicherheitsmaßnahmen diskutiert und die Fahrervertreter dürfen auch mal wieder zu Wort kommen. Dann wird, im Bewusstsein alles ethisch und politisch korrekt abgehandelt zu haben, zur Tagesordnung übergegangen. In Spanien ist man da schon weiter: dort laufen im Fernsehen als Lückenfüller Aufnahmen von Skiunfällen und sich überschlagenden Stieren bzw. Toreros in Serie, mit Dick-und-Doof-Sound auf lustig getrimmt. Fünf Knochenbrüche, drei Sehnenrisse und eine ausgekugelte Schulter pro Minute: zynisch und geschmacklos. Aber immerhin ehrlich: Andere riskieren ihr Leben und ihre Gesundheit, damit die Masse auf der anderen Seite ihre Hetz hat.

Im Fernsehsessel des Lebens

Auf dieser anderen Seite, gewissermaßen im Fernsehsessel des Lebens, wird indes ängstlich den neuen Götzen gehuldigt: Sicherheit und Gesundheit (was im Prinzip auch mit körperlicher Sicherheit umschrieben werden könnte und also im Grunde das gleiche ist). Je unglaublicher die Aktionen der neuen Gladiatoren (und möglichst sexy auftretenden Gladiatorinnen) vor den Kameras werden, desto mehr wird das Leben der breiten Masse normiert, geregelt, in gesetzliche Watte gepackt. Ich habe mir einst das Mofafahren abgewöhnt, weil gerade, als ich im richtigen Alter dafür war, die Helmpflicht eingeführt wurde. Zweifellos vernünftig und sicher und „gesund“, aber ich kann den Hohlraumschutz (wie mein Vater Helme zu nennen pflegte) einfach nicht ausstehen. Seither fahre ich Rad, das ist ohnehin viel besser. Nur wurde jetzt die Helmpflicht beim Radfahren eingeführt, immerhin zunächst nur für Unter-12-Jährige. Wann folgen die Erwachsenen? Und wann muss auch die Risikogruppe Nr. 1 im Stadtverkehr Helme aufsetzen – die Fußgänger(innen)? Muss es denn für alles eine Vorschrift geben? Warum maßt sich der Staat an, für mich zu entscheiden, was ich konsumieren soll, darf, oder wovon ich gefälligst die Finger zu lassen habe? Und wenn schon – warum stehen dann nicht auf jeder Limoflasche Warnhinweise wie auf den Zigarettenschachteln: Der Konsum stark zuckerhaltiger Getränke kann zu Fettleibigkeit führen, erhöht das Diabetesrisiko und fördert Bluthochdruck. Und Alkohol: „Kann zu Adipositas beitragen, schädigt Gehirnzellen und Organe und führt zu körperlicher Abhängigkeit.“ (Ganz im Gegensatz zu Hanf, nebenbei bemerkt.)

Wahnsinn Fensterputzen

Höchst fragwürdig ist bei der ganzen Sache die heuchlerische Irrationalität, die paradoxerweise alle diese so supervernünftig wirkenden Erlässe und Vorschriften und Regeln bestimmt. Ginge es nach einer realistischen Risikoeinschätzung, müssten natürlich die allergefährlichsten Umstände zuerst an die gesetzliche Kandare genommen werden: Autofahren, Sport und Haushalt. „Autofahren kann Sie und Ihre Angehörigen entnerven, verstümmeln oder töten.“ „Sport ist Mord.“ „Fensterputzen kann zu unkontrollierter vertikaler Abwärtsbewegung führen.“ „Sorgen Sie vor dem Besteigen einer Leiter für einen nach ÖNORM 123 vorschriftsmäßig gesicherten Sturzraum.“

Höhepunkt der paradoxen Irrationalität sind die sogenannten „iatrogenen Infektionen“: Die Krankenhausmedizin, Tempel der staatlich geregelten Gesundheitsvorsorge, ist fünfmal lebensgefährlicher als Autofahren. 5.000 Menschen, wird geschätzt, sterben jährlich in Österreich an ihrer Behandlung im Krankenhaus...

Das Leben lässt sich nicht regulieren; das Leben folgt seinen eigenen Gesetzen, die seit Milliarden von Jahren Bestand haben, Menschheit hin oder her. Technisierung und Zivilisierung haben uns von der Natur=dem Leben zunehmend entfremdet, und dieser Prozess wird heute in nie dagewesener Beschleunigung vorangetrieben. Zuerst gingen wir unserer Instinkte verlustig, dann des Vertrauens in unser eigenes Urteilsvermögen: Was nützt Intelligenz, wenn sie buchstäblich haltlos, entwurzelt, ist? Vielleicht sollten wir anfangen, wieder ans Überleben im wörtlichen Sinn zu denken: an die Grundlagen, an das, was wirklich von existenzieller Bedeutung ist. Anstatt uns weiterhin die Bürokraten-Version der Existenz aufs Aug' drücken zu lassen – oder uns in immer krassere Extremsituationen zu begeben, um überhaupt noch irgendetwas zu spüren oder die Masse von dem abzulenken, was wirklich zählt. Das könnte uns wieder die Augen für das ganz alltägliche Wunder des Daseins auf diesem Planeten öffnen, das wahrzunehmen das größte Abenteuer überhaupt ist.

Erschienen in der Zeitschrift „Wege“, Herbst 2011

Der Bürg mit dem Hundehalsband

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