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Die Leiden des jungen Mieters

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Ein Zinshaus wird renoviert. Alles ist mit einer dicken, weißlichen Staubschichte überzogen; in den Gängen und im länglichen Innenhof stapeln sich Zementsäcke, Paletten und Abfall, vor allem leere Säcke; für die standhaften Bewohner ist es mitunter nicht leicht, zu ihren Stiegenaufgängen zu gelangen. Die weniger standhaften haben ihre Wohnungen längst geräumt, welche nunmehr „neu adaptiert“ werden (an den gewinnträchtigsten Standard). In diesen Wohnungen ist alles auf Schimäre angelegt: Marmor imitierende Kacheln am Boden, Stadlauer-Fenster, Portas-Türen, mit Gewalt hineingequetschte Bad- und WC-Bereiche.

Der Held der Geschichte lebt in einer Zimmer-Küche-Wohnung auf Stiege 1 im 1. Stock. Auf dieser Etage werden zwei Wohnungen umgestaltet. Im Gang vor dem Fenster zum Hof steht eine Mischmaschine, vom Sicherungskasten am Gang spannen sich Drähte in Kopfhöhe zu den leer stehenden Räumlichkeiten. Unser Held, nennen wir ihn Michael, muss den Gang mehrmals am Tag überqueren, um zur Toilette zu gelangen; die frei schwebenden Leitungen zwingen ihn, sich dabei mehrmals zu bücken. Er ist fast immer zu Hause, weil er an seinem Computer an seiner Diplomarbeit werkt.

Groß: Ein Radiowecker zeigt 7:00 Uhr; Michael schläft tief und fest in seinem Hochbett. In dem Moment, in dem die Anzeige auf 7:01 springt, ertönt ein infernalisches Kreischen aus dem Innenhof: Ein Arbeiter zersägt Marmorimitatkacheln mit einer Flex. Dabei entsteht eine Fontäne aus Staub, die waagrecht nach vorne schießt und sich dann in Wolken im Hof verbreitet.

Michael wird aus dem Schlaf gerissen. Er schreckt hoch, will den Wecker abschalten und muss verwirrt feststellen, dass dies nichts nützt. Er registriert die Uhrzeit und sinkt stöhnend zurück, hält sich die Stirn; das Kreischen schwillt an und ab (wenn die Maschine leer läuft), aber an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Seufzend wickelt er sich aus seiner Decke, torkelt die Leiter hinab und geht mit halb geöffneten Augen zum Fenster, um es zu öffnen. Der frühe Morgen empfängt ihn mit einer beißenden Staubwolke, die ihn zum Husten bringt. Rasch schließt er das Fenster wieder. Er schlurft zu seiner Stereoanlage, die vom Vorabend noch viel zu laut eingestellt ist, und schaltet ein. Die Verkehrsfunk-Signation dröhnt durch den Raum. Michael zuckt zusammen und schaltet wieder aus. Tief durchatmend, macht er sich in Richtung Toilette auf den Weg, mittlerweile in einen Morgenmantel gekleidet. Im Moment des Türöffnens wird das Kreischen erheblich lauter. Er bahnt sich den Weg unter Drähten und um die Mischmaschine herum, verschwindet am Klo. Pinkel und Spülgeräusche.

Michael geht wieder zurück. Auf halbem Weg kommt ihm aus einem oberen Stockwerk ein Nachbar entgegen, der zwei große und anscheinend schwere Koffer die Stiegen hinunterschleppt.

Michael: (gähnend) Guten Morgen! Wohin geht denn die Reise?

Nachbar: In den 14. Bezirk … ich ziehe um.

Michael: (macht einen teilnahmsvoll-resignierenden Blick gen Himmel) Rausgeekelt! Another one bites the dust.

Nachbar: Nicht mehr lang. (Er klopft Michael freundschaftlich auf die Schulter, von der sich eine kleine, weiße Staubwolke löst; beide beginnen zu husten, verabschieden sich zugleich. Der Nachbar quält sich weiter mit den Koffern ab, Michael geht in seine Wohnung zurück.)

Michael legt eine Platte auf: Franz Liszt, Ungarische Rhapsodien. Das weiterhin an- und abschwellende Kreischen aus dem Innenhof wird größtenteils von der Klaviermusik übertönt. Er massiert seinen schmerzenden Kopf und versucht, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Dann steht er mit festem Schritt auf, schaltet die Musik ab und den Computer ein, setzt sich an das Gerät und beginnt zu schreiben. In diesem Moment beginnen die Arbeiter, in der angrenzenden Wohnung, Wand an Wand, den Verputz abzuschlagen. Das schwere Hämmern ist nicht nur unerträglich laut, sondern löst auch kleine Beben aus, die in Michaels Wohnung den Verputz gleich mitlösen. Kalkteilchen rieseln auf ihn herab. Mit verbissenem Gesichtsausdruck holt M. eine Plastikfolie aus einem Schrank und bedeckt den ganzen Schreibtisch und sich selbst. Er schreibt weiter. Plötzlich wird der Bildschirm unvermittelt schwarz. Panisch drückt er wahllos einige Knöpfe, springt dann auf, kämpft sich unter der Plane hervor und eilt auf den Gang, wo einer der Arbeiter eben den Sicherungskasten schließt.

Michael: Bist du wahnsinnig? Schalt sofort den Strom wieder ein!

Arbeiter: Kollega?

Michael: Strom! Licht! Einschalten! Die ganze Arbeit von heute beim Teufel.

Arbeiter: Kollega, Licht aus?

Michael: Ja, verdammt. Die falsche Wohnung.

Er rotiert händeringend herum, während der Arbeiter den Sicherungskasten wieder öffnet und den Fehler behebt. Grinsend verschwindet er in der Wohnung, die gerade in Arbeit ist. M. geht in seine zurück, blickt traurig auf seinen Computer, greift sich an seinen schmerzenden Kopf und gibt den Gedanken an geistige Arbeit auf. In einem Eck der Küche lehnen ein Brett und zwei Regalwinkel. Mit diesen beladen, geht er auf die Toilette. Dann deutet er dem Arbeiter in der Wohnung, zu kommen, zeigt ihm die Teile und vollführt Bewegungen wie mit einer Bohrmaschine. Der Mann nickt verstehend, geht ab und kommt rasch mit Bohrmaschine und Werkzeugkasten zurück. Die passenden Schrauben sind bald gefunden. M. stellt sich auf die Klobrille und beginnt zu bohren. Der Arbeiter steht in der offenen Tür und sieht zu. Ein älterer Mann im Anzug nähert sich.

Mann: (zu M.) Was du machen?

Michael: (irritiert) Wer sind Sie?

Mann: Äah … Ich bin von der Hausverwaltung und muss mich für alles interessieren. Was machen Sie?

Michael: Bitte, interessieren Sie sich. Ich montiere ein Brett, wie Sie sehen. Im Übrigen wohne ich hier.

Mann: (dümmlich) Aha.

Er dreht sich um und verschwindet wieder. Der Arbeiter blickt M. fragend an, deutet hinter sich und tippt sich an den Kopf. M. nickt bestätigend, beendet das Montieren der Regalwinkel und legt das Brett drauf.

Arbeiter: Kollega, fertig?

Michael: Ja, danke.

Die beiden gehen in die jeweiligen Wohnungen zurück. In Michaels Bude dröhnt nach wie vor der Vorschlaghammer, der in der angrenzenden Wohnung eingesetzt wird. Der junge Mann steht ratlos herum, als es klopft.

Michael: (öffnet die Tür) Was gibt’s?

2. Arbeiter: Wir stemmen jetzt für den Kloabfluss vom oberen Stockwerk.

Michael: Und?

2. Arbeiter: Nur, dass Sie's wissen. Schreien Sie, wenn Sie herauskommen.

Michael: (misstrauisch) Wo stemmen Sie denn?

2. Arbeiter: Hier entlang. (Deutet von oben nach unten entlang des Türstocks.) Ich hoff' nur, dass wir nicht zu Ihnen durchbrechen.

Michael: Ich hör wohl nicht richtig – machen Sie das gefälligst so, dass nichts passiert! (schließt die Tür und geht zum Telefon, wählt.) Hausverwaltung? Grüß Gott, Sabenter. Ich rufe an wegen dem Haus Altklostergasse 101. Es besteht die Gefahr, dass in meine Wohnung eingebrochen wird.

Frau: (am Telefon) Für Sicherheitsfragen ist die Polizei zuständig.

Michael: Ich meine die Arbeiter, die vor meiner Wohnungstüre stemmen. Sorgen Sie dafür, dass die Arbeiten ordentlich gemacht werden – nicht so, dass ich ein Loch in der Wand habe.

Frau: Was reden Sie? Machen Sie keine dummen Witze!

Michael: (ein besonders lautes Krachen ertönt, unmittelbar von einem dumpfen Geräusch gefolgt. Er sieht zur Eingangstüre, neben der ein Loch in der Wand klafft. Trümmer von Ziegelsteinen liegen in der Küche. Schreit in den Apparat.) WITZE? ICH SOLL KEINE WITZE MACHEN? Es ist schon passiert – sie sind herinnen. Tun Sie etwas! Sofort!

Frau: Holen Sie den Arbeiter an den Apparat.

Michael: Okay. (legt den Hörer neben das Telefon, geht zur Tür und öffnet sie. Kein Mensch ist zu sehen.) Scheiße! (zurück zum Telefonat) Hallo? Die sind alle verschwunden.

Frau: Beruhigen Sie sich – wir regeln das. Unverzüglich, ich verspreche es Ihnen. Sie hören von uns. Auf Wiedersehen.

Michael: Ääh … wiedersehen. (Legt auf, verlässt die Wohnung. Der Arbeiter kommt die Treppe herab und versucht, als er Michael erblickt, rasch zu flüchten.)

Michael: Halt, stopp! Richtet mir meine Wohnung wieder her, auf der Stelle!

Arbeiter: Du Polizei rufen?

Michael: Nein, die Hausverwaltung.

Arbeiter: Warum dann kein Kollega mehr da?

Michael: (grinsend) Das schlechte Gewissen, vermutlich.

Plötzlich heben sich überall staubige Planen, unter denen Arbeiter hervorkriechen. Türen öffnen sich und geben Blaumänner frei, einer lässt sich von der Decke, wo er sich an einem Balken festgeklammert hatte, herab. Im Nu ist Michael von Männern umringt, die erleichtert durcheinanderreden. Bierflaschen werden geöffnet, Zigaretten entzündet, einige beginnen zu singen, andere zu beten. Eine Art orientalisches Spontanfest ist voll im Gang, als zwei Polizisten auftauchen.

1. Polizist: Wer gibt diese Party?

Mehrere Arbeiter zeigen, nach einer kurzen Schrecksekunde, auf Michael, der ziemlich betrunken auf einem Sandsack halb sitzt, halb liegt und sich mit einer Hand an einem Draht festklammert.

1. Polizist: (an Michael gewandt) Es ist eine Anzeige wegen Ruhestörung ergangen. Ihren Ausweis, bitte.

Michael: (mit umflortem Blick, den Kopf langsam hebend. Sein Zungenschlag ist merklich beeinträchtigt.) Ruhestörung? Wer? Warum? Die Vorschlaghämmer? Die Kreissägen? Alles ruhig, so schön ruhig. Trinken's a Bier mit mir, Herr Inspektor – auf die Stille. (Hält dem Polizisten eine volle Bierflasche entgegen, die dieser ignoriert.)

2. Polizist: Spinnt der? Oder wü a uns vaoaschen?

1. Polizist: Vielleicht beides. Nemman mit.

Die beiden packen Michael links und rechts unter und richten ihn auf. Er wehrt sich überhaupt nicht, sondern wiederholt selig lächelnd „auf die Stille, auf die Stille“. Die drei verschwinden aus dem Bild. Die Arbeiter blicken ein wenig schuldbewusst drein und machen sich dann daran, das Loch in der Mauer zu Michaels Wohnung zu schließen.

© 1990

Der Bürg mit dem Hundehalsband

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