Читать книгу Die Mission der tollkühnen Bücher - Hendrik Lambertus - Страница 6
ОглавлениеIn der Papyrusgasse lag ein kleiner, unscheinbarer Laden, versteckt zwischen einigen anderen Geschäften. »Heute geschlossen« stand auf dem Schild, das an seiner Tür hing. Die Leute gingen daran vorbei, ohne es wirklich zu beachten. Sonst hätten sie vielleicht bemerkt, dass dieses Schild immer dort hing – bei Tag und bei Nacht, in der Woche und am Wochenende, im Sommer und im Winter. Denn das Antiquariat Dinas Bücherhort, wie der Laden sich nannte, hatte niemals geöffnet.
Das lag daran, dass es kein gewöhnliches Antiquariat war. Der Verkaufsraum hinter der Tür aus buntem Glas war zwar wie jedes andere Antiquariat mit Unmengen an Büchern vollgestopft, dicht zusammengedrängt in hohen Regalen bis unter die Decke. Doch noch niemals war je eines von ihnen verkauft worden.
Die Bücher hätten sich das auch schwer verbeten. Denn die meisten von ihnen waren mehr, als sie zu sein schienen. Sie waren lebendig.
Auf den ersten Blick glichen sie gewöhnlichen Büchern: Sie hatten einen Einband und jede Menge bedruckte Seiten, wie es sich für ein Buch gehörte. Manche waren alt und in Leder gebunden, andere neu und mit bunten Bildern auf dem Umschlag. Weniger gewöhnlich war, dass sie auch Arme und Beine hatten. Diese waren sehr dünn, fast wie bei einem Strichmännchen. Sie wuchsen seitlich aus dem Einband des Buches, sodass es mit dem Buchrücken voran gehen konnte. Auf diesem Buchrücken hatte es sein Gesicht (was den Rücken genau genommen zu seiner Vorderseite machte).
Diese Bücher hatten eine überaus wichtige Aufgabe: Sie waren Buchagenten, die tollkühnen Beschützer der gesamten Buchheit. Und Dinas Bücherhort war ihr Hauptquartier. Von hier aus wachten sie über die »schlafenden Bücher«, wie sie ihre unbelebten Vettern nannten, gingen auf streng geheime Missionen und kämpften gegen schurkische Bücherdiebe, unschöne Eselsohren und andere Bedrohungen der Buchheit.
Die Menschen wussten nichts von ihnen, und so sollte es auch bleiben – dafür sorgte unter anderem das Schild draußen an der Ladentür. Drinnen allerdings ging es an diesem Morgen hoch her.
»Alarm! Alarm!«, schrie der Buchagent Tom Sawyer und raschelte vor Aufregung mit seinen Seiten. Er hüpfte auf dem Tisch herum, auf dem die Buchkontrollanlage stand. Dabei rief er in voller Lautstärke: »Notfall! Krise! Bücherdiebe!« Zugleich schepperte ein Alarmton, der wie eine Polizeisirene mit Keuchhusten klang.
Die Bücher, die sich in den Bücherregalen ringsum drängten, redeten aufgeregt durcheinander. Manche knarzten mit ihren Buchrücken, andere wedelten mit ihren Lesebändchen oder schüttelten sich, dass es nur so staubte.
»Ein Alarm!«
»Was kann das sein?«
»Jemand muss die Buchheit retten!«
Ein prächtiges Buch, dessen Einband goldene Beschläge hatte und mit glänzenden Smaragden verziert war, trat in die Mitte des Raumes. Es hieß Tabula Smaragdina und war ein ehrwürdiges Zauberbuch. Auf seinem Buchrücken saß das Gesicht einer gütigen, alten Frau mit einer auffallend spitzen Nase. Gerade hatte es jedoch streng die Augenbrauen hochgezogen.
»Ruhe, bitte!«, rief Dina, wie das Zauberbuch meist kurz genannt wurde. Sie stieg über eine kleine Leiter auf den Tisch, wo der Buchagent Tom Sawyer immer noch aufgeregt vor der Buchkontrollanlage herumwuselte. Das Gerät sah aus wie ein uraltes Radio mit einer glänzenden Holzverkleidung, aus dem alle möglichen seltsamen Antennen und Kabel herausschauten. Dina schob Tom beiseite, stellte das nervtötende Klingelgeräusch ab und schaute auf einen kleinen Bildschirm.
»Ein Buchproblem in der Stadtbibliothek! Schon so früh am Morgen … Eigentlich kann es nichts Ernstes sein«, sagte sie und überlegte kurz. »Perfekt! Das ist eine wunderbare Gelegenheit, unsere Jungagenten auf ihren ersten Einsatz zu schicken. Hol sie doch bitte mal her, Tom.«
Dieser rannte sofort los. Er öffnete die Tür zum Nebenraum, indem er an die Klinke hüpfte und sich mit seinem ganzen Gewicht daranhängte.
Dahinter erstreckten sich weitere Bücherregale. Sie standen kreuz und quer durcheinander, sodass sie ein regelrechtes Labyrinth bildeten. Zwischen manchen von ihnen hingen Netze und Seile, andere waren sogar mit Stacheldraht umwickelt. Drei Buchagenten schlichen im Schatten der Regale umher. Immer wieder blieben sie plötzlich wie auf Kommando stehen und quetschten sich blitzschnell zwischen einige Bücher, sodass sie praktisch unsichtbar waren.
Dann hangelten sie sich an einem Tau hoch auf ein Regal, trippelten bis an seinen äußersten Rand und seilten sich ab, indem sie ihre Lesebändchen aneinanderknoteten. Leider reichte es nicht ganz bis zum Boden. Für einen Moment zappelten die drei hilflos in der Luft – und purzelten schließlich mit raschelnden Seiten in eines der Netze.
»Öhm … Das war schon gar nicht schlecht. Besser als gestern jedenfalls …«, rief Tom den Agenten zu, während sie sich aus dem Netz befreiten. »Aber jetzt kommt. Dina will euch sehen. Es gibt einen Einsatz!«
Die jungen Buchagenten verließen den Trainings-Parcours und kamen so schnell in den Hauptraum gerannt, dass sie fast über ihre eigenen Beinchen stolperten. Als sie sich in einer Reihe vor Tabula Smaragdina aufstellten, beugten sich die anderen Bücher in den Regalen ringsum gespannt vor.
»Heute werde ich euch auf eure erste richtige Mission schicken«, erklärte das alte Zauberbuch. »In der Stadtbücherei ist etwas nicht in Ordnung. Leider sind unsere Leute dort gerade alle in der Uni-Bibliothek und helfen dabei, Bücher aufzuspüren, die falsch ins Regal gestellt wurden.«
»Wir sind zur Stelle und bereit, gegen alle Buchschandtaten vorzugehen!«, erklärte Hedy Hexensocke, die erste Agentin in der Reihe, aufgeregt. »Hat jemand versucht, ein unschuldiges Buch zu bekritzeln? Oder hat sogar irgendein Flegel Seiten herausgerissen?«
Auf Hedys Einband war ein Mädchen auf einem fliegenden Besen abgebildet, das eine riesige, regenbogenbunte Ringelsocke trug. Auch die Buchagentin selbst hatte so eine bunte Socke an einem ihrer dünnen Beine, wie das Mädchen in ihrer Geschichte. Selbstredend, dass sie ebenfalls zaubern konnte – mehr oder weniger jedenfalls.
»Das weiß ich nicht genau«, gab Dina zu. »Vermutlich ist es keine große Sache. Ein Buch hat vielleicht eine Staub-Allergie und braucht ein Taschentuch oder was auch immer. Ihr werdet es herausfinden. Laut der Buchkontrollanlage liegt das Problem in Raum 103 der Bibliothek vor. Also beeilt euch! Und denkt an Regel Nummer eins unseres Codex: Mit Herz und Hand, Einband und Seiten, wollen wir zum Schutz der Bücher schreiten.«
Das nächste Buch in der Reihe trippelte mit seinen Fingern auf dem Griff eines kleinen Säbels herum, den es an der Seite trug. Auf seinem Buchumschlag schwang sich ein Kind an einem Seil auf ein Schiff. Es war unmöglich zu erkennen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Darüber war der Titel zu lesen: »Paulchen Piratenkind und der Goldschatz von Käpt’n Grumpf«. Doch für so viele Wörter war das Buch viel zu ungeduldig und nannte sich am liebsten einfach nur Paulchen. Niemand wusste so recht, ob der Spitzname von Paul oder von Paula kam.
»Ich brenne darauf, fiese Bücherdiebe mit unseren Buch-Fu-Künsten niederzustrecken!«, rief Paulchen ungeduldig. »Wie ist der Schlachtplan?«
»Das ist doch wohl logisch«, erwiderte Reginald Ratlos, der danebenstand und der dritte Jungagent im Bunde war. »Wir werden eine eingehende Untersuchung durchführen, welche geheimnisvollen Geschehnisse diesen Alarm ausgelöst haben könnten.«
Auf seinem Einband war ein Pinguin in einem eleganten Frack abgebildet, der eine Lupe in der Hand hielt. Sein Titel lautete: »Reginald Ratlos, der Gentleman-Detektiv, jagt den lachenden Kakadu«. Das Buch war eine Detektivgeschichte, und darum war auch der Buchagent Reginald ein begeisterter Detektiv – und hatte ebenfalls stets eine Lupe dabei.
»Also gehen wir zur Stadtbibliothek«, sagte Hedy Hexensocke mit großen Augen, die noch nie zuvor draußen auf den Straßen unterwegs gewesen war.
»Na, dann los!«, rief Paulchen Piratenkind und machte einen Überschlag.
»Einen Moment, bitte«, meldete sich ein Buch mit schnarrender Stimme aus einem der Regale. Auf seinem schwarzen Einband stand in Silberbuchstaben der Titel »Dracula«, und in seinem Mund schimmerten lange Fangzähne. »Hältst du es wirklich für klug, Dina, so junge Agenten auszuschicken? Sollten es nicht lieber alte und erfahrene Bücher sein? Zum Beispiel solche, die Blut saugen und durch die Nacht fliegen können?«
»Ja, ich mache mir auch Sorgen um unsere jungen Agenten«, sagte die Buchagentin Heidi, die nahe bei Dracula im Regal stand. »Heutzutage fahren so viele Automobile in den Städten, da kann ein unschuldiges Buch leicht unter die Räder kommen …«