Читать книгу Die Mission der tollkühnen Bücher - Hendrik Lambertus - Страница 9
ОглавлениеDie Stadtbibliothek befand sich in einem uralten, verwinkelten Gebäude. Obwohl es noch recht früh am Samstagmorgen war, waren hier bereits einige Menschen unterwegs. Die drei Buchagenten mieden den Haupteingang und drückten sich an der Außenwand entlang, bis Reginald Ratlos plötzlich stehen blieb.
»Hier geht es rein«, sagte er und klopfte an die Wand. Wie aus dem Nichts sprang eine kleine Klappe auf, die eben noch nicht zu sehen gewesen war. »Das ist die Agentenpforte«, erklärte er. »Sie führt hinunter in den Keller. Ich zeige euch den Weg.«
»Warst du denn schon einmal da drin?«, fragte Hedy Hexensocke mit großen Augen.
»Nein«, gab Reginald zu. »Aber ich bin schließlich eine Detektivgeschichte. Verlasst euch nur auf mich und meinen Spürsinn.«
»Also los«, rief Paulchen ungeduldig und schwang sich durch die Klappe. Die anderen taten es dem Piratenbuch gleich. Sie kamen in einen dunklen, menschenleeren Kellergang. Reginald lief mit der Lupe in der Hand voran, dicht gefolgt von Hedy und Paulchen. Schließlich erreichten sie eine Treppe, die nach oben führte.
»Da müssen wir hinauf«, erklärte Reginald. »Oben kommen wir in die Lesesäle. Dort laufen Menschen herum, also seid äußerst vorsichtig. Am besten so vorsichtig wie meine Hauptfigur in Reginald Ratlos und die Juwelendiebin auf Samtpfoten.«
»Stolpert dein Pinguin in dem Band nicht über seine eigenen Füße und verliert dabei seine Krawatte?«, fragte Hedy mit gerunzeltem Buchrücken.
»Nur, weil man ihm eine fiese Falle stellt!«, schnaubte Reginald. »Außerdem trägt er eine Fliege und keine hässliche Krawatte. Wie auch immer. Unser Ziel ist jedenfalls Raum 103 im ersten Stock. An diesem Ort wartet die Bedrohung, die den Alarm der Buchkontrollanlage ausgelöst hat.«
Sie gingen die Treppe hinauf, wobei »Gehen« vielleicht nicht ganz der richtige Begriff dafür war, dass sie Stufe für Stufe hinaufhopsen mussten.
»Woher weißt du bloß den Weg so genau?«, fragte Paulchen, unzufrieden darüber, dass jemand anderes sagte, wo es langging.
»Das ist doch elementar«, erwiderte Reginald. »Ich musste nur den aktuellen Luftdruck in Beziehung zur Schuhgröße des Hausmeisters setzen und den Tabellenplatz vom FC Mümpelbrück davon abziehen. Schon hatte ich unsere Richtung. Angewandte Logik.«
»Hoffentlich ist deine angewandte Logik sicherer als Hedys angewandte Zauberkunst«, meinte Paulchen.
»He!«, beschwerte sich Hedy Hexensocke. »Wir sind doch vorhin geflogen, oder etwa nicht?«
»Leise jetzt!«, flüsterte Reginald, der gerade die oberste Treppenstufe erreicht hatte. »Hinter der Tür müssen wir aufpassen. Denkt an Regel Nummer zwei des Codex: Menschen dürfen uns nicht sehen – wo immer wir auch schleichen und stehen. Paulchen, bist du wohl so freundlich?«
Paulchen Piratenkind sprang mit einem Salto in die Luft und hängte sich an die Klinke der Kellertür. Reginald und Hedy drückten gemeinsam dagegen, sodass sie einen Spaltbreit aufging. Dann huschten sie hindurch.
Auf der anderen Seite schien ihnen helles Neonlicht entgegen. Die drei Buchagenten mussten blinzeln. Sie fanden sich zwischen langen Metallregalen wieder, wo aberhunderte von Büchern aufgereiht standen. Vorsichtig schauten die Agenten sich um. An einer Wand hing ein Plakat. »Große Lesenacht in der Stadtbibliothek«, stand dort, »ausgerichtet mit der freundlichen Unterstützung von P. Wächter, Ihrer Buchhandlung am Westbahnhof«. Doch das war zum Glück erst heute Abend. Sonst wäre es hier wohl reichlich voll gewesen.
Zurzeit waren nur vereinzelte Besucher zu sehen, die meisten kamen erst an und werkelten an den Schließfächern am Eingang herum. Zwei Kinder verstauten dort gerade ihre Rucksäcke. Ein hochgewachsenes Mädchen und ein lockenhaariger Junge mit Brille, der einen Kopf kleiner war als sie. Reginald blieb stehen und kniff misstrauisch die Augen zusammen.
»Was ist denn?«, fragte Paulchen Piratenkind.
»Die beiden Kinder da«, erwiderte Reginald. »Die habe ich vorhin schon auf der Straße gesehen.«
»Na und?«, sagte Hedy. »Wahrscheinlich wollen sie sich ein paar Bücher holen und hatten den gleichen Weg wie wir.«
»Ja, wahrscheinlich«, murmelte Reginald, der nicht wirklich überzeugt war.
Sie setzten ihren Weg durch die schmalen Gänge zwischen den Regalen fort, sorgsam darauf bedacht, keinem Menschen zu begegnen. Schon bald kamen sie an eine weitere Treppe. Sie hüpften die Stufen hinauf in den ersten Stock. Hier oben gab es keine weitläufigen Säle, sondern Gänge, von denen immer wieder kleine Lesestuben abgingen. Reginald marschierte zielstrebig mit seiner Lupe voran. Schließlich blieb er stehen.
»Raum 103«, sagte er. »Wir sind da.«
Die Tür war nur angelehnt. Die drei Buchagenten schauten sich misstrauisch um. Niemand war in der Nähe. Dann schoben sie sich in den Türspalt und spähten vorsichtig um die Ecke. Sie blickten in einen kleinen Raum mit gut gefüllten Bücherregalen. Ein Fenster schaute auf die Straße hinaus.
An einem Tisch in der Mitte des Raumes saß eine Gestalt über ein Buch gebeugt. Sie trug einen langen, dunkelbraunen Mantel mit Kapuze, die sie sich weit ins Gesicht gezogen hatte. Der Mantel sah ziemlich seltsam aus. Er war wie eine Flickendecke aus zahlreichen Leder-Rechtecken zusammengenäht, die unterschiedlich bedruckt waren. Dann erkannten die drei Buchagenten, was die Rechtecke wirklich waren: alte, lederne Bucheinbände!
Die geheimnisvolle Gestalt schien ganz ins Lesen vertieft zu sein und murmelte dabei unverständliche Wörter vor sich hin. Die Seiten des Buches, in dem sie gerade las, schimmerten seltsam. So als würde sie jemand von hinten mit einer Taschenlampe beleuchten. Immer wieder lösten sich kleine, schwarze Umrisse aus dem Buch, schwebten durch die Luft und verschwanden unter der Kapuze der Gestalt. Das waren Buchstaben! Einer nach dem anderen wurden sie eingesaugt.
»Was macht der da?«, flüsterte Hedy mit Grauen in der Stimme. »Liest der etwa das Buch leer?«
Tatsächlich konnten sie nun erkennen, dass die aufgeschlagenen Buchseiten immer weißer wurden. Zeile für Zeile lösten sich die Buchstaben von der Seite, gondelten umher und wurden schließlich mit einem schlürfenden Geräusch in die Schatten unter der Kapuze gezogen.
»Das arme Buch!«, empörte sich Reginald. »Von wegen Stauballergie und Taschentuch. Wir haben es hier mit einem waschechten Schurken zu tun!«
»Und wir werden ihn aufhalten«, ergänzte Paulchen und setzte dazu an, mit gezogenem Säbel in den Raum zu stürmen. Reginald hielt das Piratenbuch am Arm zurück.
»Doch nicht so«, flüsterte er. »Wer weiß, wie gefährlich dieses Kapuzenwesen ist! Erst mal brauchen wir einen Plan.«
Paulchen stöhnte genervt.
»Vielleicht könnte ich eine Zauberfessel beschwören«, schlug Hedy Hexensocke vor. Die beiden anderen schauten sie fragend an.
»Wenn wir sie diesem Wesen umlegen, kann es sich nicht mehr bewegen. Aber jemand müsste es darin einwickeln. Jemand, der richtig schnell ist …«
»Das bin ich!«, sagte Paulchen und straffte sich. »Kümmere dich um das Seil, Hedy.«
»Wenn das mal gut geht«, brummte Reginald und trat zur Sicherheit einen Schritt zur Seite.
Hedy warf der Gestalt im Ledereinband-Mantel einen prüfenden Blick zu. Diese war noch immer über das Buch gebeugt und saugte Buchstabe für Buchstabe in sich hinein.
»Also gut«, murmelte Hedy und konzentrierte sich. Dann sprach sie den Zauberspruch:
»Zibel, Zabel, Zauberseil!
Zubel, Zabel, zu mir eil’!
Komm hierher, wo wir jetzt sind,
diene uns als festes Bind … äh, Band!«
Und ein Seil erschien in ihren Fingern. Es war geschmeidig und glänzte golden, als wäre es aus Licht geflochten. Stolz überreichte Hedy es Paulchen. Als das Piratenbuch das Seil an sich nahm, bewegte es sich plötzlich in seinen Händen. Eines der Enden hob sich wie der Kopf einer Schlange und schien sich suchend umzuschauen.
»Ist das normal?«, fragte Reginald misstrauisch. Das Seil wandte sich ihm zu, als würde es ihm zuhören.
»Öhm … bestimmt«, erwiderte Hedy rasch. »Paulchen, vielleicht solltest du dich mit dem Fesseln beeilen – bevor das Seil andere Pläne hat.«
»Gleich ist das Kapuzending sicher verschnürt!«, versprach Paulchen und rannte auf den Tisch in der Mitte des Raumes zu, während das Seil unruhig zuckte. Entschlossen sprang das Piratenbuch in die Luft – und landete auf der Stuhllehne direkt hinter der Kapuzengestalt. Paulchen schwang das Seil wie ein Lasso, um es ihr über die Schultern zu werfen.
In diesem Moment bäumte das Seil sich auf. Es verdrehte sich und versuchte, Paulchen zu umschlingen. Das Piratenbuch verlor das Gleichgewicht und purzelte mit raschelnden Seiten von der Stuhllehne. Es gab ein dumpfes Geräusch, als Paulchen auf dem Boden landete.
Das Kapuzending sprang vom Stuhl auf und fuhr herum. Bedrohlich überragte es das kleine Buch, das mit aufgeblätterten Seiten vor ihm lag und mit dem Lasso kämpfte.
Doch Paulchens Agentenausbildung mit Buch-Fu-Training machte sich bezahlt: Das Piratenbuch bändigte das Seil mit einigen gekonnten Handgriffen, sprang auf die Füße und stürmte der Kapuzengestalt mit einem wilden Kampfschrei entgegen. Diese zog einen Stab unter dem Mantel hervor. Er hatte einen Knauf, der wie der Kopf eines Vogels mit einem langen, gebogenen Schnabel geformt war.
Paulchen warf sich mit einem kühnen Salto auf die Gestalt.
Das Kapuzending deutete mit dem Stab auf das Piratenbuch. Ein bläulicher Lichtblitz flammte auf. Plötzlich hing Paulchen regungslos in der Luft, als hätte jemand einen Film auf »Pause« gestellt.
In Hedy klumpten sich sämtliche Seiten vor Schreck zusammen.
»Los!«, flüsterte sie besorgt. »Wir müssen Paulchen helfen!«
Die beiden Buchagenten stürmten in den Raum. Als die Kapuzengestalt ihre trippelnden Schritte hörte, drehte sie sich zu ihnen um. Ihr Vogel-Stab zeigte nun auf Hedy. Verzweifelt begann die Buchagentin einen Zauberspruch:
»Züber, Zauber, hilf mir schnell …«
Schon zuckte wieder ein Lichtblitz durch die Luft. Hedy warf sich zur Seite, doch der Blitz änderte spontan seine Richtung und erwischte sie trotzdem. Von einer Sekunde auf die andere konnte sie sich nicht mehr bewegen. Hilflos musste sie mit ansehen, wie die Kapuzengestalt auch auf Reginald zielte. Der Gentleman-Detektiv lief im Pinguin-Galopp über den Boden, um hinter ein Bücherregal in Deckung zu hüpfen. Der nächste Lichtblitz traf ihn, ehe er das Regal erreicht hatte. Er erstarrte mitten in der Bewegung.
Die Kapuzengestalt senkte den Vogelstab. Dann kam sie langsam auf die gelähmten Buchagenten zu. Unter ihrem Mantel zog sie eine Umhängetasche aus Leder hervor. Sie öffnete die Tasche und beugte sich hinunter. Ihre ausgestreckte Hand näherte sich Hedy. Dieses Ding wollte sie einfach so einpacken! Die Buchagentin spannte verzweifelt all ihre Seiten an, doch sie konnte sich nicht bewegen.
»Lassen Sie sofort das Buch in Ruhe!«, rief plötzlich jemand. Ein schmaler Menschenjunge, der eine große Brille auf der Nase trug, stand in der Tür der Lesestube. Seine Stimme klang dünn und heiser vor Aufregung.
Die Kapuzengestalt zuckte zusammen und schaute zu dem Jungen auf. Unter der Kapuze war kein Gesicht zu erkennen – nur schwarze Schatten.
»Und meinen Bruder lassen Sie auch in Ruhe!«, rief das hochgewachsene Mädchen, das hinter dem Jungen stand, und legte die Hand auf seine Schulter.
Hektisch blickte die Kapuzengestalt sich um. Dann schlug sie ihre Tasche zu und lief zu einem Bücherregal hinten im Raum. Mit dem Fingerknöchel klopfte das Wesen an einen der Buchrücken wie an eine Tür. Plötzlich wichen die Bücher nach links und rechts zur Seite, als würde man einen Vorhang aus Buchrücken aufziehen. Mitten im Regal klaffte auf einmal ein bogenförmiger Durchgang, der dort ganz und gar nicht hingehörte. Die Kapuzengestalt eilte hindurch. Hinter ihr rückten die Bücher zusammen. Keine zwei Sekunden später sah das Bücherregal wieder völlig normal aus.
»So etwas gibt es nicht!«, rief das Menschenmädchen ungläubig. »Das ist wissenschaftlich gesehen gar nicht möglich!« Sie trat an das Regal und schaute es sich ganz genau an.
»Magie«, hauchte der Junge mit großen Augen. »Wir haben richtige Magie gesehen, Mel!«
»Arthur, das ist Unsinn«, erwiderte das Mädchen. »Es muss eine logische Erklärung geben. Magie gibt es nur in deinen Fantasy-Büchern …«
Plötzlich war ein leises Plumpsen zu hören. Paulchen war zu Boden gepurzelt. Hedy und Reginald kämpften sich stöhnend wieder auf die Füße. Sie schauten sich benommen um – und erblickten die beiden Menschenkinder.