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INTERVIEW MIT ANDREAS SCHLEICHER ÜBER DIE SCHULLANDSCHAFT DEUTSCHLANDS

»Es geht darum, das Potenzial aller Schüler zu mobilisieren und zu erkennen, dass gewöhnliche Schüler außergewöhnliche Fähigkeiten haben, aber unterschiedlich lernen.«

Andreas Schleicher ist Direktor für Bildung bei der OECD (Organisation for Economic Co-Operation and Development) und internationaler Koordinator von PISA (Programme for International Student Assessment). Im folgenden Interview mit Lucinde Hutzenlaub wird die Meinung Schleichers zum deutschen Bildungssystem und zu den Aufgaben von Schulen im Bildungsprozess jedes Kindes deutlich.

Wie hat sich die Schullandschaft in Deutschland in den letzten Jahren verändert, verbessert oder verschlechtert?

»Da gibt es mehrere Punkte. In Deutschland ist das frühkindliche Lernen mittlerweile gut etabliert. Das bietet die Chance, soziale Herausforderungen auszugleichen, aber auch Talente möglichst schon in den ersten Lebensjahren zu finden und zu fördern. Das ist ein wichtiger Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit. Darüber hi­naus hat sich auch an den Schulen viel getan – bei der Lehrerfortbildung etwa oder im Bereich der Schulautonomie. Wichtig auch: Deutschland hat mit den nationalen Bildungsstandards klare Zielvorstellungen entwickelt, die für alle 16 Bundesländer gelten. Das ist von sehr großer Bedeutung. Auch der Umstand, dass diese Standards sich an Kompetenzen orientieren, ist ein enormer Fortschritt. Es geht nicht mehr nur um Wissensvermittlung, sondern um die Frage: Was können Schülerinnen und Schüler mit ihrem Wissen anfangen?«

Wieso überhaupt Privatschule?

»Privatschulen können die Bildungslandschaft bereichern. Letztlich müssen sich alle Schulen daran messen, was sie als selbstständige und pädagogisch verantwortliche Einheiten leisten können, die den individuellen Lernfortschritt in den Mittelpunkt stellen und Verantwortung für ihre Ergebnisse übernehmen.«

Ist jede Schule für jede Schülerin und jeden Schüler geeignet?

»Nicht unbedingt, aber grundsätzlich sollten wir an Schulen höhere Erwartungen stellen, was den konstruktiven Umgang mit einer vielfältigen Schülerschaft anbelangt. Dazu müssen sie Lehrer und anderes Personal kreativ und flexibel einsetzen und neue Technologien wirksam nutzen, um verschiedene Lernwege und Lernstile individuell zu unterstützen. Es geht darum, das Potenzial aller Schülerinnen und Schüler zu mobilisieren und zu erkennen, dass gewöhnliche Schüler außergewöhnliche Fähigkeiten haben, aber unterschiedlich lernen.«

Viele kritisieren PISA und betonen, dass Intelligenz, Bildungsniveau und vielerlei Talente damit nicht gemessen werden können. Wie halten Sie dagegen?

»Das ist richtig, bei PISA stehen vor allem Grundfähigkeiten im Vordergrund, wie zum Beispiel Lesefähigkeit, Problemlösen, Kreativität oder kritisches Denken, die die entscheidenden Voraussetzungen für anspruchsvolle Lernprozesse sind. Das ist sicher nur ein kleiner Teil dessen, was im Leben wichtig ist. Aber umgekehrt gilt auch, dass das Fehlen mathematischer Fähigkeiten nicht unbedingt auf den Überfluss an sozialen Fähigkeiten schließen lässt, die bei PISA noch nicht gemessen werden können.«

Was sollten Eltern über die Schulwahl hinaus tun, um ihre Kinder gut auf die Berufswahl und das Leben nach der Schule vorzubereiten?

»Der Punkt ist, dass sich die Anforderungen an moderne Bildungssysteme drastisch verschoben haben. In der Vergangenheit konnten Schulen davon ausgehen, dass das Wissen, das sie vermitteln, für ein Arbeitsleben ausreicht. Heute ist es unverantwortlich, einer Schüle­rin oder einem Schüler eine Arbeit auf Lebenszeit zu suggerieren. Je mehr Menschen Eigenverantwortung für ihre Karriereplanung sowie wirtschaftliche und soziale Absicherung übernehmen müssen, umso mehr müssen wir erwarten, dass Schulen Schülern helfen, sich in einer sich immer schneller verändernden Welt zurechtzufinden; sie auf Berufsfelder vorbereiten, die wir heute noch nicht kennen, ihnen helfen, Technologien zu nutzen, die erst morgen erfunden werden, und strategische Herausforderungen zu bewältigen, von denen wir heute noch nicht ahnen, dass es sie gibt. Was heute zählt, ist die Motivation und Fähigkeit der Menschen, ihren eigenen Horizont in einer sich ständig verändernden Gesellschaft jeden Tag zu erweitern. Da leisten Eltern einen ganz entscheidenden Beitrag. Im PISA-Vergleich zeigte die tägliche Frage der Eltern an ihre Kinder, wie die Schule war, einen stärkeren Zusammenhang mit dem Bildungserfolg als das Einkommen der Eltern. Also, es geht nicht primär um meinen eigenen Bildungshintergrund oder Wohlstand, sondern darum, meinen Kindern zu zeigen, dass mir Bildung wichtig ist.«

Wenn Sie sich eine perfekte Schule zusammenstellen dürften – Geld spielte keine Rolle –, wie würde diese aussehen?

»Im Mittelpunkt stehen Unterrichtsstrategien, die an die Schülerinnen und Schüler hohe Erwartungen stellen, die sie in Lernprozesse einbinden. Dazu braucht jeder Schüler und jede Schülerin die Chance, sich tagtäglich mit dem gesamten Spektrum der Leistungsvielfalt auseinanderzusetzen. Traditionell erfolgte der Zugang zum Lernen durch den Lehrer oder die Lehrerin, der beziehungsweise die Wissen vermittelt. Die Zukunft braucht aber Lehrer und Lehrerinnen als Experten, die Schüler und Schülerinnen begleiten und dabei unterstützen, durch eigenständiges Denken und Handeln selbstständig und kooperativ zu lernen. Es geht um Kreativität und Erfindungsreichtum anstelle von Konformität, um Lernzentrierung anstelle von Lehrplanzentrierung, um erarbeitetes Wissen anstelle von vermitteltem Wissen.

Traditionell lernt der Schüler beziehungsweise die Schülerin für sich. In der Gesellschaft immer entscheidender wird aber die Fähigkeit, gute und tragfähige Beziehungen aufzubauen, in Teams zu arbeiten, mit Konflikten umzugehen und sie zu lösen, uns in pluralistischen Gesellschaften konstruktiv einzubringen. Die Zukunft braucht deswegen Lehrer und Lehrerinnen, die Lernende dazu befähigen, miteinander und voneinander zu lernen. Auch hierfür ist der konstruktive Umgang mit Verschiedenheit, nicht die Aufteilung von Schülern und Schülerinnen auf vorgegebene Schulformen eine entscheidende Voraussetzung.

Traditionell benutzen wir Klassenarbeiten und Zensuren zur Kontrolle, etwa um Leistungen zu zertifizieren und den Zugang zu weiterer Bildung durch verschiedene Schulformen zu rationieren. Was erfolgreiche Bildungssysteme heute aber auszeichnet, sind motivierende Leistungsrückmeldungen, die Vertrauen in Lernergebnisse schaffen, mit denen Lernpfade und Lernstrategien individuell entwickelt und begleitet werden können.

Schließlich ist die Schule heute eine von mehreren Lernumgebungen. Es geht nicht mehr allein darum, den Schüler und die Schülerin zur Schule zu bringen, sondern darum, das Lernen und die Lernumgebung zum beziehungsweise zur Lernenden zu bringen, Lernen als Aktivität aufzugreifen, nicht als Ort. Dazu brauchen Lehrer und Lehrerinnen wirksame Unterstützungssysteme für ihre tägliche Arbeit. Viele hochqualifizierte und motivierte Menschen brauchen ein Arbeitsumfeld, das Perspektiven für Entwicklung und Kreativität bietet, sich durch mehr Differenzierung im Aufgabenbereich, bessere Karriereaussichten, eine Stärkung der Verbindungen zu anderen Berufsfeldern und mehr Verantwortung für Lernergebnisse auszeichnet. Ein Arbeitsumfeld, in dem die Schule Lernorganisation wird, mit einem professionellen Management.«

Die beste Schule für mein Kind

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